Rezension zu Seele und totalitärer Staat
Deutsches Ärzteblatt
Rezension von Vera Kattermann
Knapp 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems
der DDR ist die öffentliche Diskussion und Reflektion seines
psychischen Erbes immer noch bemerkenswert dünn. Abgesehen von
einigen eher plakativen Versuchen, die Auswirkungen der totalitären
politischen Strukturen zu beschreiben und zu analysieren, wie z.B.
durch H.-J. Maaz bald nach der »Wende«, ist die wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dieser Frage bislang eher verhalten. Umso
willkommener sind zwei im psychosozial-Verlag erschienene
Aufsatzbände, die jeweils aus psychoanalytischem Hintergrund
verschiedene Verständniszugänge zusammentragen. Welchen Einblick
geben sie in mögliche gesellschaftsbedingte Pathologien?
Der Sammelband von Plänkers u.a. diskutiert verschiedene
Behandlungsverläufe von ostdeutschen Patienten und möchte hierbei
aufschlüsseln, »wie das DDR-System auf die innere Welt der Menschen
einwirkte und welche tiefen Spuren es hinterlassen hat« (S. 15).
Hierbei aber enthüllt sich die generelle Problematik von
gesellschaftskritischen Fallvignetten: die Verflechtungen von
individueller Pathogenese und gesellschaftlich bedingten seelischen
Schädigungen sind so vielfältig, komplex und unentwirrbar verwoben,
dass der Versuch, gleichsam »lupenrein« eine gesellschaftlichen
Trauamtisierungskontext der Störungen herauszupräparieren immer
etwas erzwungen wirkt. Hier drängt sich dann schell der aus der
Gestaltpsychologie bekannte Eindruck auf, dass gerade jene
Zusammenhänge hergeleitet und dargestellt werden, die der
Untersucher schon vorab zu finden hoffte. So stellt sich auch bei
diesem Sammelband die Frage, inwiefern der Blick auf diese
Patientengeschichten häufiger als nötig versucht ist, eben jene
Stereotypen zu reproduzieren, welche Ostdeutsche a priori als
ohnmächtig deformierte, in Abgrenzung und Individualität behinderte
Menschen erkennen. Viele der in den Vignetten aufgeführten
Beispiele für spezifische Deformierungen durch die
DDR-Staatsdoktrin überzeugen nur bedingt, so wenn beispielsweise
ein »seelisches Funktionieren« als charakteristisch für die
Anforderungen des Systems genannt wird. Denn auch das
kapitalistische System benötigt ja das reibungslose »Funktionieren«
seiner Bürgerinnen und Bürger. Wenn der Sammelband entsprechend
auch eine gute Grundlage für weitere Diskussionen bildet, so
mangeln viele der vorgestellten Fallvignetten doch an der nötigen
Präzision in der Untersuchung der gesellschaftlichen Genese der
Störungen.
Der Sammelband von Seidler und Froese hat beim Nachdenken über das
historische Erbe der DDR-Sozialisation einen vielfältigeren Zugang
gewählt: die Aufsätze vereinen sowohl Krankengeschichten als auch
kulturtheorethische Verständnisansätze und bieten den Lesern damit
einen breiteren Horizont für die Auseinandersetzung. Besonders
eindrücklich ist der Aufsatz von Mario Erdheim, der überzeugend
aufzeigt, wie stark öffentliche und private Erinnerungsversuche von
Verdrängungsprozessen geprägt sind, die immer auch machtpolitische
Funktionen haben. Bezogen auf die DDR ist so z.B. danach zu fragen,
wie stark im Einzelnen der Wunsch war, sich mit den politischen
Mächtigen zu identifizieren. Statt als eher eindimensional wirkende
»Opfer« eines repressiven Systems können DDR-Bürger somit als »ganz
normal« vielschichtige Subjekte mit Neigung zu Anpassung und
Widerstand verstanden werden. So versuchen die Aufsätze in diesem
Sammelband recht überzeugend, der Gefahr direkter Kurz-Schlüsse und
universeller Zuschreibungen zu entgehen und stattdessen vorsichtig
und ausschnitthaft historische, politische und soziale Perspektiven
zum Verständnis des psychischen Erbes der DDR zusammenzutragen.
Einer Pathologisierung ihrer Bürgerinnen und Bürger wird so
vorgebeugt. Damit eröffnen sich dann auch Perspektiven, die Bezüge
zwischen den Sozialisierungen in Ost- und Westdeutschland
transparent machen. Diese Perspektiven eröffnen sich nicht nur
hinsichtlich des gemeinsamen traumatischen Erbes des 2. Weltkriegs,
also z.B. durch Bombardierung, Vertreibung und schuldhafte
Täterschaft, sondern auch in Bezug auf die Erkenntnis, dass beide
politischen Systeme zu spezifischen psychischen Deformierungen
geführt haben dürften. Dies im heutigen »Post-Wende-Deutschland«
genauer zu verstehen ist für die psychotherapeutische Arbeit
unerlässlich.