Rezension zu Versteckte Kinder (PDF-E-Book)

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Rezension von Roland Kaufhold

Versteckte Kinder: Trauma und Überleben der »Hidden Children« im Nationalsozialismus

Von Roland Kaufhold

Es hat mehrerer Jahrzehnte bedurft, bis das Schicksal der »Versteckten Kinder« hierzulande in der Öffentlichkeit angemessene Beachtung gefunden hat. Mit diesem auch im englischsprachigen Raum geprägten Fachbegriff sind die jüdischen Kinder gemeint, die den Nationalsozialismus im Untergrund, getrennt von ihren Eltern, überlebt haben – in Klöstern, in Waisenhäusern, auf Bauernhöfen, in Gastfamilien.

In exemplarischer Weise systematisch wissenschaftlich aufgearbeitet worden ist deren Schicksal, bezogen auf die Niederlande, von dem niederländischen Psychoanalytiker und Schriftsteller Hans Keilson in seiner Studie »Sequentielle Traumatisierung von Kindern« (1979/2007). Nun hat die frühere Lehrerin Kerstin Muth einen gut lesbaren, knapp gehaltenen Band vorgelegt, in welchem sie einige dieser traumatisch belasteten Biographien nachzeichnet. Grundlage hierfür bilden neun im Buch dargebotene Interviews, welche Muth in einer Mischung aus Zitaten und narrativen Begleittexten einfühlsam nacherzählt.
Der größere Teil ihrer in den 1930er Jahren in Deutschland oder Polen geborenen Gesprächspartner lebt heute in Israel; einige von ihnen jedoch haben nach einigen Jahren das seinerzeit noch im Aufbau befindliche Israel wieder verlassen und sind nach Deutschland zurückgekehrt. Ihre jüdische Identität blieb jedoch weiterhin biographisch bestimmend für sie.

Einführend beschreibt Muth ihre großen Schwierigkeiten, überhaupt Kontakt zu Überlebenden der Shoah herzustellen. Es war nicht einfach, sie zum Erzählen von ihren traumatischen Kindheitserfahrungen zu ermutigen. Bis zu diesem Zeitpunkt war es den meisten von ihnen nicht möglich gewesen, über ihre traumatischen Erlebnisse zu erzählen – auch viele Jahrzehnten nach der Shoah. Selbst ihren Lebenspartnern hatten einige der Überlebenden nichts von ihren grausamen Erfahrungen erzählt. Die gesamte seelische Energie wurde für den Neuanfang benötigt, für das Akzeptieren der grausamen Tatsache, dass viele ihrer Verwandten von den Deutschen ermordet worden sind. Vielfach wollten sie auch ihre eigenen Kinder vor ihren zerstörerischen Lebenserfahrungen schützen.

Exemplarisch hierfür sei Janina zitiert, heute eine überzeugte Israelin, die dennoch den Kontakt zu ihrem Heimatland Polen nicht hat abbrechen lassen: »Es war keine Zeit. Am Flughafen habe ich gearbeitet, dann kochen, putzen, waschen und die Kinder. Aber mein Mann wusste, dass ich im Kloster, dass ich bei einer polnischen Familie war, das wusste er, aber keine Details. Wir waren sechs Mädchen, sechs jüdische Mädchen in diesem Kloster, vier wohnen jetzt in Israel, eine ist in Polen geblieben, Christin. Eine ist in den United States. Also, mit diesen drei bin ich in Kontakt, ja, wir treffen uns. Wir haben manchmal darüber gesprochen, aber sonst kaum.« (S. 117)

Auch war die Bereitschaft ihrer Mitwelt, solche traumatischen, mit der eigenen »Schuld« verknüpften Erinnerungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, zumindest bis in die 1960er und 1970er Jahre kaum vorhanden (s. Greif, 2003).
Einigen ihrer Gesprächspartner gelang es, schrittweise wieder eine erinnernde und erzählende Konfrontation mit ihren zerstörerischen Erfahrungen zuzulassen – so beispielsweise Marie-Emanuelle, die 1958 Israel wieder verlassen und nach Deutschland zurückgekehrt war. Es gelang ihr im Alter, einen »helfenden« Beruf zu finden und das Schweigen zu brechen: Hatte sie mit ihren eigenen Kindern kaum über ihre Verfolgungserlebnisse gesprochen, so gelang ihr dies nun, in angemessener Weise ihren Enkeln von ihren erlebten Traumata zu berichten. Sie betont: »Es war das Heilendste, was ich überhaupt je erlebt habe.« (S. 84)

Abgerundet wird Muths Buch durch knapp gehaltene Übersichtskapitel über die pädagogischen Kategorien Mut, Verantwortung, Helfer und Zufälle sowie über das Schicksal der Juden zwischen 1939 – 1945, in mehreren europäischen Ländern. Muths Studie regt zu vertiefender Auseinandersetzung über diesen schwierigen, verleugneten Anteil der deutschen Geschichte an.

Literatur: 
Greif, Gideon (2003): Stufen der Auseinandersetzung im Verständnis und Bewusstsein der Shoah in der israelischen Gesellschaft, 1945 – 2002, psychosozial, 26. Jg., Nr. 93 (Heft III/2003), S. 91-105.



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