Rezension zu Mitterrand auf der Couch
Psychologie Heute
Rezension von Tilmann Moser
Zwei Meister des Verwirrspiels
Ali Magoudi hat eine spannende Psychoanalyse von François
Mitterrand verfasst
Zu Beginn möchte man den französischen Psychoanalytiker Magoudi für
einen Angeber halten, denn zu grandios inszeniert er den Auftrag
Mitterrands, seine analytische Biografie zu schreiben:
»In der Nacht…vom 11. und 12. Februar… befinden wir uns in einer
Höhe von 10 000 Metern irgendwo zwischen Ho-Chi-Minh-Stadt und
Paris«, wo ihm Mitterand gesagt haben soll, nachdem sein Krebs
wieder ausgebrochen war: »Nun ist die Zeit gekommen. Mein Ende ist
nah. Ich erteile Ihnen den Auftrag, schreiben Sie die Psychoanalyse
Francois Mitterrands.« Der Leser weiß nicht, ob Mitterand seine
kurze Analyse, zum Teil auf der Couch, verleugnen will oder ob die
Protokolle eine geniale Fiktion des Autors sind, der sich so
glaubhaft in die möglichen Situationen hineinversetzt
hat.»Verwenden Sie alles, was ich Ihnen anvertraut habe … Und
schließlich: Zögern Sie nicht, die Couch zu erfinden, auf der ich
nie gelegen habe.« Der Umgang mit Unwahrheit, Zweideutigkeit und
Lüge ist charakteristisch für Mitterrand, und so mag sich der Autor
dessen Eigenart zunutze gemacht haben,um so plausibel wie möglich
die Analysestunden zu fantasieren. Überliest man die kleinen
Hinweise auf die Erfindungskraft, die dennoch aus langer Kenntnis
des »Patienten« genährt ist, kann man sich einem spannenden Text
überlassen, der haargenau einer halbjährigen Psychotherapie
gleicht, zu der sich der Präsident heimlich zum Analytiker begeben
haben soll. Erst bei der zweiten Lektüre ist mir aufgefallen, dass
es sich um eine erstklassige Fiktion handeln könnte, weil auch das
problematische Setting, die Probleme der Heimlichkeit, die
schwierigkeiten des Stundenplans, die Einbrüche der dringlichen
politischen Verpflichtungen des Präsidenten anschaulich geschildert
werden, die zu Absagen oder plötzlichen Aufbrüchen in den Stunden
geführt haben. Magoudi beschreibt, wie Mitterrand in rückschauender
Rivalität zu seinem Vorgänger Giscard d’Estaing agiert oder zum
noch viel größeren ambivalenten Vorbild de Gaulle, dem er dereinst
an Größe gleichen wollte, um ein Teil der Geschichte Frankreichs zu
werden. In seiner großen Biografie über ihn schreibt der
französische Journalist und Historiker Franz-Olivier Giesbert nach
seinem Tod:»Manchmal werden Staatsmänner zu Lebzeiten
heiliggesprochen. Mitterrand hingegen wird vor seinem Tod
verteufelt. Am Ende seiner zweiten Amtszeit wird er oft als eine
undurchdringliche Persönlichkeit beschrieben, ein Meister in der
Kunst der Zweideutigkeit, ein sensibler Nihilist, der alle Fäden in
der Hand hält und an nichts mehr glaubt als an sich selbst.« In
plausibel aneinandergereihten Stunden »entdeckt« Magoudi
Mitterrands Größenfantasien, seine unbewusste Identifizierung mit
Christus,den Drogencharakter der Macht, das übersteigerte
Selbstwertgefühl, aber auch seine tiefe Verbundenheit mit seinen
Eltern und Geschwistern. Er spekuliert über den Zusammenhang von
Neurose und Macht, nennt gar höchste Ämter »Symptome« einer
außergewöhnlichen Biografie, die in frühe Wunden eingebettet sind,
obgleich Mitterrand seine Kindheit immer wieder als »glücklich«
bezeichnet. Der Beginn der Analyse wird plausibel begründet mit dem
ersten Ausbruch des Prostatakrebses. Mitterrands beängstigende
Todesfantasien zwangen ihn zu einer neuen, diesmal therapeutischen
Selbstverständigung. Das Todesthema schlingt sich durch die
Biografie, nicht zuletzt durch den frühen Tod eines Onkels, in
dessen psychische Nachfolge er von der Familie getrieben wird. Sein
politischer Standort »auf der Linken« wird darauf zurückgeführt.
Und das ebenso deutliche Trennungsthema klingt schon an, als er
sich jeweils ein halbes Jahr bei den Eltern und den Großeltern
aufhält und früh ein lesehungriger und später literarisch
gebildeter Eigenbrötler bleibt. Noch in seinen erfolgreichsten
Jahren hat er sich immer wieder abrupt zum Lesen zurückgezogen.
Fiktion oder Realität, Magoudis Buch ist spannend, psychoanalytisch
plausibel und kunstvoll zugleich geschrieben und vermittelt
gleichermaßen Belehrung
und Genuss.