Rezension zu Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland
Darmstädter Echo
Rezension von Paul Hermann Gruner
Erinnerung und Vergegenwärtigung sind keine leichten Übungen. Nicht
umsonst spricht Sigmund Freud von »Arbeit«, von Erinnerungsarbeit.
Das klingt nach Anstrengung, nach Erschöpfung, nach Entkräftung.
Und das ist korrekt. Der Steinbruch des Eigenen birgt Seelenwüsten,
dunkle Flecke, glättende Lebenslügen. Das kann auch für Betroffene
eines politischen Systems gelten, einer psychohistorischen
Zwangsgemeinschaft, wie sie in der ehemaligen DDR bestand.
Christoph Seidler und Michael Froese, Psychoanalytiker in Berlin
und Potsdam, versammeln als Herausgeber und Autoren zehn
ostdeutsche Berufskollegen in einem Band. Der wird zu einer
hochpolitischen Krankengeschichtsschreibung und sorgt mit seinen
Beiträgen für erhellende Lichtkegel in die psychische Geschichte
der Deutschen aus ostdeutscher Sicht. Ein Anfang, dem noch einiges
an Forschung folgen muss.
Die Wende beendet eine lange Epoche
Vergessen wird meist, dass viele Menschen im einstigen SED-Staat
mehr als vierzig Jahre auf dem Buckel hatten, was staatlich
organisierte, haarklein perfektionierte Kontrolle, Willkür und
Ohnmacht anbelangt. Die sogenannte Wende von 1989/90 beendete eine
Epoche unter diktatorischen Vorzeichen, die – wenn man
Übergangsjahre von 1945 bis 1949 einmal vernachlässigt – 1933
begann. 52 Jahre manifeste Diktatur formen nachhaltig.
Nazizeit, Krieg, Flucht, Vertreibung, Konfrontation mit dem
Holocaust, Stalinismus und Stasi-Herrschaft bilden eine Kette von
Gewalterfahrungen und Repressionen, die eine Kette von Denk- und
Handlungstabus und eine Kette individueller wie auch staatlich
organisierter Sprachlosigkeiten bedingen. Die Tabus verhindern
nicht nur dauerhaft die Wundheilung, sie verursachen auch ständig
weitere Verletzungen.
Ein zentraler Satz steht schon auf Seite 9: »Die spezifisch
ostdeutschen Verletzungen durch die sogenannte Wende werden oft als
Larmoyanz und Verbitterung denunziert.« Also widmet sich das Buch
konsequenterweise den Formen der »Erinnerungskultur«, den
Bestandteilen »pathologischer Normalität« in Staatswesen und
-bürgern, es thematisiert die »Identifikation mit dem Stärkeren«
und den »Sinnzusammenbruch« für alle Geschlagenen, die
weiterleben.
Hochinteressant wird der Sammelband durch den Spagat zwischen der
psychopolitischen Gesamtwertung der Zustände und den
Innenansichten, etwa den individuellen »posttraumatischen
Verbitterungsstörungen«. Einzelne Fallbeispiele symbolisieren das
kollektiv Erfahrene: die Biegsamkeit des Menschen angesichts von
Gewalt, die Verformbarkeit des Ichs und die folgende Entfremdung
von sich selbst. Sie trifft und verändert Einzelne, Familien, die
Gesellschaft. Das Thema dieses Buches bleibt uns gewiss noch ein,
zwei Generationen erhalten.