Rezension zu Kann denn Liebe ewig sein?
Zeitschrift für Sexualforschung
Rezension von Tilmann Walter
Der Psychoanalytiker Stephen A. Mitchell verstarb überraschend im
Dezember 2000 im Alter von 54 Jahren. Das »William Alanson White
Institute« in New York, 1946 gegründet von Harry Stack Sullivan und
Erich Fromm, an dem Mitchell als Lehranalytiker tätig war, sprach
in seinem Nachruf davon, die psychoanalytische Welt habe mit
Mitchell ,»one of its brightest stars at the height of his
accomplishment« verloren.
Mitchells Arbeitsschwerpunkte waren interpersonale Psychologie und
Objektbeziehungen, seine Einstellung zur Psychoanalyse war liberal
und unorthodox. So engagierte er sich in den l97Oern dafür, dass
Homosexualität nicht als grundsätzlich pathologisch behandelt wurde
(Vorwort von Margaret Black, S.11). In dem hier zu besprechenden
Band, der 2002 postum unter dem Titel »Can Love Last?« erschienen
ist, verweist Mitchell wiederholt auf Zusammenhänge von
Evolutionsbiologie, Dichtung und Philosophie: Freuds Werk dient ihm
eher als Denkanstoß und wird weitgehend historisiert. Zustimmung
äußert Mitchell insofern, als er sagt, dass bewusstes Erleben nur
die »Spitze eines gewaltigen Eisbergs« unbewusster Motive sei
(S.19). Die bleibende Bedeutung der Psychoanalyse liegt für ihn in
ihrem »Bemühen um eine mitfühlende, einvernehmliche Untersuchung
des individuellen menschlichen Lebens in seiner ganzen Komplexität
und Intensität« (S. 27).
Mitchells Darlegungen richten sich an eine breite, nicht nur
wissenschaftlich interessierte Leserschaft. Therapeutische
Fallvignetten, die in ihrer »erklärenden« Funktion manchmal etwas
eindimensional erscheinen, werden in modellorientierte Deutungen
eingestreut. Seine kursorischen Aussagen zur höfischen Liebe (S.
37f) oder zur »sexuellen Revolution« (S. 32) sind für
wissenschaftlich interessierte Leser nicht wirklich befriedigend.
Trotzdem handelt es sich um eine gewinnbringende Lektüre. Mitchells
Ausgangsfrage lautet: Ist die Verbindung von »romantischer« Liebe
und Dauerhaftigkeit in partnerschaftlichen Beziehungen möglich? In
der Tat wüsste man gern mehr über das Geheimnis der »happy few«,
denen es dem Anschein nach gelingt, beides zu vereinbaren.
Für Mitchell ist dies jedoch strukturell unwahrscheinlich, wie er
aus der Psychodynamik von leidenschaftlicher Liebe und
Partnerschaft herleiten möchte. Im ersten Kapitel -»Sicherheit und
Abenteuer« (S. 29-56) – werden »Romantik« und das Bedürfnis nach
dauerhaften Bindungen auf ambivalente oder gegensätzliche Wünsche
und Bedürfnisse zurückgeführt, die gleichermaßen auf die Sexualität
projiziert werden: Die »romantische« Idealisierung des Gegenübers
drohe an der Wirklichkeit zu scheitern, ihr Motiv sei der Wunsch
nach Rückkehr in die kindliche Geborgenheit, die ihrerseits
»teilweise illusionär« sei (S.44). Unerwiderte »romantische« Liebe
sei zwar »schmerzlich«, aber in ihren emotionalen Folgen nicht so
»gefährlich« (S.42). Partnerschaftliche Verpflichtungen wirkten als
Belastung und dämpften das Begehren. Mit der Zeit könnten
Kollusionen entstehen. Partnerschaft biete folglich eine »Illusion
der Sicherheit«, fördere aber auch die »Abtrennung der
Imagination«, die für Romantik und Begehren grundlegend ist
(S.48).
Im zweiten Kapitel – »Die seltsamen Schleifen der Sexualität« (S.
57-91) – bestätigt Mitchell die wichtige Rolle, die Sexualität in
den Wunschvorstellungen intimer Beziehungen und individueller
Sinnsuche spielt, und stellt gleichzeitig fest, niemand könne
sagen, was Sex »wirklich« ist (S. 67). Auf subjektiver Ebene wird
sexuelle Lust mit Sehnsüchten, Ängsten, Phantasien und Hoffnungen
verkoppelt (S.58). Freuds Vorstellung, die menschliche Kultur müsse
den »Sexualtrieb« kontrollieren, kontert er mit dem
evolutionsbiologischen Argument, erst die spezifische menschliche
Soziosexualität habe den Aufbau von Kultur ermöglicht (S. 65). Auch
Mitchells persönliche Erfahrung von Sexualität ist optimistisch,
die literarische Verbindung von Sex und Tod könne er nicht
nachvollziehen, er hat »Sinnlichkeit und Orgasmus [...] eher wie
eine Intensivierung des Lebens« erlebt (S. 83).
Im Abschnitt »Idealisierung, Phantasie und Illusionen« (S.93-119)
wendet sich Mitchell gegen eine weitere psychoanalytische
Grundüberzeugung: die Überlegenheit des Realitätsprinzips gegenüber
der Phantasietätigkeit. Begehren beruhe auf Illusionen, die durch
Phantasie »gewürzt« sind (S.105), und der Alltag werde
lebenswerter, wenn er durch Phantasien transzendiert wird. Ob eine
Partnerschaft gelinge, hänge letztlich davon ab, ob der Andere nur
als Projektionsfläche für diese Phantasien »benützt« wird oder ob
»die Quelle der Idealisierung zumindest teilweise im Anderen
begründet« ist (S.114). Demgegenüber bestehe das oft praktizierte
partnerschaftliche »Realitätsprinzip« eher im »selektive[n]
Festhalten an Schwächen [des Anderen], mit dem Ziel, die Erregung
unter Kontrolle zu bringen« (S. 116).
Unter der Überschrift »Aggression und die Gefahr des Begehrens«
(S.121-147) diskutiert Mitchell die altbekannte Frage, ob
Aggression triebhaft oder eine Reaktion auf Frustrationen ist.
Letztlich sei das aber »eigentlich gar nicht der interessanteste
Punkt« (S.131). Zurückweisung und Enttäuschungen provozierten
Aggressionen; in Partnerschaften komme es darauf an, trotzdem
dauerhaft ein gedeihliches Miteinander zu organisieren. Allenfalls
Pornographie biete »risikoloses Begehren« (S.140). In langjährigen
Partnerschaften übernähmen sexuelle Dysfunktionen das
»Risiko-Management« gefährlich ambivalenter Gefühle (S.146).
»Schuldgefühle und Selbstmitleid« (S. 149-178) seien narzisstische
Reaktionen auf Kränkungen. (Die Trennung zwischen
präödipalen/narzisstischen und ödipalen Konflikten hält Mitchell
für künstlich, selbst orthodoxen Psychoanalytikern falle es immer
schwerer, »klassische« ödipale Charaktere unter ihren
Patient/inn/en aufzuspüren; S.135f). Dabei lassen sich neurotische
von funktionalen Reaktionen nicht leicht trennen (S. 176f).
Lebendige Gefühle wirkten angemessen, statisch gewordene
Gefühlseinstellungen blockierten positive Veränderungen.
Das letzte Kapitel – »Kontrolle und Verpflichtung in der
romantischen Liebe« (S.179-210) -soll gewissermaßen die Quintessenz
aus Mitchells Überlegungen liefern, was ihm schwer fallen muss, da
seinem Optimismus hinsichtlich der grundsätzlich funktionalen Natur
der Sexualität die eher skeptisch-pessimistische Überzeugung
gegenübersteht, dass in zwischenmenschlichen Beziehungen
widersprüchliche, ja sogar konträre Bedürfnisse verwirklicht werden
müssten. Letztlich weicht er der Lösung des Problems eher aus,
bestätigt aber nochmals die funktionale und vitale Rolle der
Phantasie: »Romantische Liebe« könne in Partnerschaften nur gelebt
werden, wenn es gelinge, »Sandburgen für zwei« zu bauen
(S.208).
Wer Mitchells Ausgangsfrage »Can love last?« ernst genommen hat,
bleibt als Leser/Leserin an dieser Stelle vermutlich ein wenig
ratlos, ja frustriert zurück. Die Erkenntnis, dass glückliche Paare
gemeinsame »Sandburgen« bewohnen, beantwortet diese Frage nicht,
sondern verschiebt sie auf die Frage: Und wie machen sie das? Die
Stärke des Buches liegt anderswo, nämlich in der Beobachtungsgabe
und dem schriftstellerischen Talent, mit deren Hilfe Mitchell
anschaulich machen kann, dass bewusstes Erleben tatsächlich nur die
»Spitze des Eisberg« unbewusster Motive ist und Psychoanalyse
»mitfühlende Untersuchung des individuellen menschlichen Lebens in
seiner ganzen Komplexität und Intensität« sein kann. Die Lektüre
ermöglicht so wiederholte Aha-Effekte, wenn zu Tage tritt, was
zuvor knapp unter der Wahrnehmungsschwelle gelegen haben muss. Ein
besonders gelungenes Beispiel für diesen (selbst-) aufklärerischen
Humanismus bietet der Abschnitt über »Die unerträgliche Dichte des
Erlebens« (S. 180/186), in dem Mitchell anhand einer fiktiven
Cocktailparty der Tiefe von Erlebnissen und Motiven nachspürt.