Rezension zu Edith Jacobson
PSYCHE 6.2007
Rezension von Roland Kaufhold
Edith Jacobson, 1897 in Niederschlesien als Kind eines jüdischen
Arztes geboren, gehört zu den mythenumwobenen Gestalten der
Pionierzeit der Psychoanalyse.
Über sie wußte man, daß sie Mitte der 30er Jahre wegen ihres
antifaschistischen Engagements von den Nationalsozialisten zu einer
knapp dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Eben diese
Inhaftierung veranlaßte führende Repräsentanten der Psychoanalyse
zu heftigen Vorwürfen gegenüber Edith Jacobson (die sich damals
noch Jacobssohn schrieb), weil sie gegen die Auflage verstoßen
hatte, sich als Psychoanalytiker politisch »abstinent« zu verhalten
sollten, die erst ein Jahr zuvor im Zusammenhang mit dem »Fall«
Reich (vgl. Fallend/Nitzschke 2002) besonders betont worden
war.
Ulrike May und Elke Mühlleitner haben nun einen sorgfältig edierten
Band herausgegeben, in welchem Jacobsons Lebensweg in Deutschland
und den USA nachgezeichnet wird. Sie haben durch wohl recht
aufwendiger Weise in amerikanischen Archiven sowie bei
Privatpersonen neues biographisches Material, Briefe und
unveröffentlichte Texte von Jacobson ausfindig gemacht, die dem
Buch einen persönlichen Charakter und biographisch-theoretischen
Tiefgang verleihen. Ferner haben sie ehemalige amerikanische
Kollegen dafür gewonnen, sich an ihre privaten sowie fachlichen
Begegnungen mit Jacobson zu erinnern.
Entsprechend der scharfen Zäsur, die ihre Inhaftierung in einem
nationalsozialistischen Gefängnis sowie ihre spätere Flucht nach
Amerika bedeuteten, zerfällt das Buch in drei Teile: ihr Leben in
Deutschland bis zu ihrer Inhaftierung, die gut zweijährige
Gefangenschaft, sowie ihr »zweites Leben« in den USA.
In Beiträgen von Michael Schröter und Ulrike May wird der
biographische und berufliche Werdegang beschrieben. 1916 legt Edith
Jacobson das Abitur in Liegnitz ab. Als die etwa 20jährige enge
Freunde im Krieg verliert, erlebt sie »die ersten wirklichen
Objektverluste« (S. 22). Ihr Vater, der im Krieg als Arzt Dienst
tat, entwickelte danach eine Depression, wodurch bei seiner Tochter
das lebenslange Interesse an dieser Krankheit geprägt wird.
1917-1923 studiert sie in Jena, Heidelberg und München Medizin. Es
folgen neurologische und psychiatrische Tätigkeiten an den
Universitätskliniken in Heidelberg, München und Berlin. Von 1925
bis 1929 absolviert sie am »Berliner Psychoanalytischen
Institut«(BPI) bei dem gleichaltrigen Otto Fenichel eine
Lehranalyse. 1930 wird sie in die »Deutsche Psychoanalytische
Gesellschaft (DPG)« aufgenommen, eröffnet im gleichen Jahr ihre
Praxis und hält von nun an zahlreiche Vorträge am BPI.
Sie arbeitet an dem von Otto Fenichel initiierten »Kinderseminar«
mit, an dem sich auch Wilhelm Reich, dessen Frau Anni, die
zeitlebens ihre enge Freundin blieb, sowie Erich Fromm und Georg
Gerö beteiligten. Wilhelm Reichs Behandlungstechnik inspiriert ihr
Denken: »Wir diskutierten Reichs Ideen an Fallmaterial, oder wir
diskutierten die Begriffe, Inhalte (...), das war eine sehr
lebendige, gescheite Sondergruppe. Und wir waren sehr interessiert
am Ich und seinen Formen der Abwehr.« (S. 44) Und an anderer Stelle
heißt es: »Willie Reich (...) was a highly gifted, brilliant man,
you know. It was a ›pleasure‹ to discuss things with him« (S. 46),
eine Einschätzung, die Bruno Bettelheim ganz ähnlich noch im hohen
Alter mehrfach formuliert hat.
Die durch Hitler drohende Gefahr erkennt sie früh; sie engagiert
sich daraufhin verstärkt politisch: »Hier lauerte eine Gefahr, das
spürte ich. Ich hörte seine Reden und las »Mein Kampf«, und ich war
entsetzt.« (S. 57)
Die Zeit des Widerstands von 1932 – 1938 wird von Mühlleitner
dargestellt und analysiert. Jacobson stand damals in
freundschaftlichem Kontakt mit vielen »Linksfreudianern« und
engagierte sich bei der Gruppierung »Neu Beginnen«. Sie behandelt
auch mehrere im politischen Widerstand engagierte Patienten. Im
September 1935 werden zwei ihrer Analysanden von der Gestapo
inhaftiert; eine Analysandin nimmt sich im Gefängnis das Leben.
Auch Jacobson wird inhaftiert und ein knappes Jahr später (im
August 1936) zu 2 1/2 Jahren Zuchthaus verurteilt. In der Folge
wurde ihr Name aus den Mitgliederlisten der DPG gestrichen.
Schröter dokumentiert Felix Boehms Brief an Jones (15.11.1935), in
dem eine explizite Differenzierung zwischen dem »arischen« und dem
»jüdischen Teil« der psychoanalytischen Gesellschaft vorgenommen
wird (S. 163). Es finden sich hierin auch Formulierungen wie: »Ob
sie selbst austreten wird oder ob wir aus verschiedenen Erwägungen
ihren Ausschluß beschließen werden, müssen wir uns vorbehalten.«
(S. 168) Boehm fürchtet um seine Reputation, möchte nicht für einen
»Betrüger« oder »Idioten« (S. 165) gehalten werden, der an die
vorgeblich apolitische Haltung seiner Kollegin geglaubt hat. Er
schreibt sich selbst einen »als merkwürdig empfundene(n)
Philosemitismus« zu, der ihn »dazu geführt« habe, »daß er dem
Ehrenwort einer Jüdin geglaubt« hat (S. 165). Man werde ihn deshalb
»hinausschmeißen« (ebd.). Er schließt mit der Bemerkung: »Hier
staunt man ganz allgemein, welches Paradies, welches Eldorado ich
hier für unsere jüdischen Kollegen aufrechterhalten habe und
welcher Mut meinerseits dazu gehört (...) Leider muß ich in dieser
Richtung durch den tragischen Vorfall auch Konsequenzen befürchten.
Dieselben sind aber nicht mir oder einem arischen Mitglied
zuzuschreiben, sondern sind dem grenzenlosen Leichtsinn einer
jüdischen Kollegin zur Last zu legen.« (S. 169f.)
Zur gleichen Zeit bemühen sich Otto Fenichel und einige weitere
Freunde vom Prager Exil aus vergeblich um die Freilassung ihrer
Freundin und Kollegin.
Jacobsons Überlebenskampf im Gefängnis wird von May (»Notizen aus
dem Gefängnis«) sowie von Klaus Müller in einer klugen und
einfühlsamen psychoanalytischen Interpretation dargestellt
(»Seltsam, aber ich fürchte mich entsetzlich zu hoffen«). Mit
einigem Glück überlebt sie die traumatisierende Haftzeit. Als
Mittel des Überlebens und der Bewältigung dienen ihr das Führen
eines Tagebuchs sowie das Schreiben von Gedichten und
autobiographisch getönten Erzählungen. May kommentiert und
dokumentiert diese wiederentdeckten Texte und stellt eine
Verbindung zu den späteren theoretischen und klinischen
psychoanalytischen Publikationen Jacobsons her.
Im Februar 1938 wird sie nach 28monatiger Haft wegen einer schweren
körperlichen Erkrankung »bedingt entlassen«, weil die Krankheit »im
Zuchthaus unbehandelbar« ist (S. 193). Noch im Gefängnis schreibt
sie: »Nur durchhalten, aushalten, ich muß es durchhalten. Ich fange
an, Angst um meinen Körper zu haben. Ich werde ihn sorgfältig
pflegen, bis die Aufgabe an ihn kommt, sich zu bewähren. Er muß
durchhalten, mein Gott, um meiner Mutter willen und derer, die mich
liebhaben.« (S. 194)
Jacobson wird in das Israelitische Krankenhaus Leipzig entlassen.
Die abenteuerlichen Umstände ihrer Flucht – Anni Reich, Thomas
Rubinstein, Otto Fenichel und Emmi Minor waren, vom Exil aus,
maßgeblich daran beteiligt -, sind eine eigene Geschichte: Jacobson
hinterläßt einen Abschiedsbrief, in dem sie ankündigt, sich
umzubringen, und flieht mit einem gefälschten Paß der
Psychoanalytikerin Christine Olden über die tschechische Grenze. Am
9. Mai 1938 kommt sie in New York an, wo ihr »zweites Leben« in
Freiheit beginnt. Es gelingt ihr überraschend schnell, in New York
Fuß zu fassen. Bereits 1939 legt sie ihr amerikanisches Examen und
eröffnet eine Privatpraxis.
Gleichermaßen bewegend ist die Dokumentation ihres Briefwechsels
aus den Jahren 1939-1952 mit einer früheren, schwer depressiven,
Patientin: »Ich bin glücklich, daß Sie leben« (S. 215-238). Diese
Frau war in Deutschland im sozialen Bereich tätig und hatte während
der Zeit des Nationalsozialismus Verfolgten geholfen.
Jacobsons Wirken als Analytikerin, Supervisorin und Dozentin in New
York – sie verstarb 1978 – wird von ehemaligen Kollegen
dargestellt: Aleksandra Wagners Beitrag trägt den Titel »Edith
Jacobsons Selbstzeugnisse lesen, oder: Was sie zur
Psychoanalytikerin machte«, Nellie L. Thompson dokumentiert das 37
Jahre umfassende Engagement von Edith Jacobson in der New York
Psychoanalytic Society. Er folgen fünf Beiträge mit persönlichen
Erinnerungen von Martin S. Bergmann, Lore R. Rubin, Theodore
Jacobs, Aleksandra Wagner und Otto Kernberg.
Dem Buch wird ein vorzügliches Geleitwort der 1939 aus Wien in die
USA emigrierten Psychoanalytikerin Anni Bergman vorangestellt:
»Edith Jacobson ist für mich ein Vorbild geblieben. Sie war eine
hervorragende Psychoanalytikerin, sie hat sich ganz der Aufgabe
verpflichtet, anderen Leuten zu helfen, sie war kreativ, sie liebte
die Musik und die Natur, sie war politisch radikal, und sie war
eine großartige Freundin. Edith Jacobsons Intelligenz, ihre
Lebhaftigkeit, Energie und Liebenswürdigkeit sind mir
unvergeßlich.« (S. 9-11)