Rezension zu Nationalsozialistische Täter
Deutsches Ärzteblatt, Heft 4, April 2007
Rezension von Vera Kattermann
NATIONALSOZIALISMUS Kritische Teil-Sicht
»Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden.
In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich
die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische,
unerschrockene, grausame Jugend will ich«, hat Hitler in Bezug auf
die während des Nationalsozialismus aufgewachsenen Kinder
verkündet. Heute sind diese Kinder und Jugendlichen Senioren – was
ist aus diesem Plan der psychischen Verhärtung geworden? Oder sind
in der intergenerativen Weitergabe sogar die unverarbeiteten
Destruktivitätspotenziale derjenigen wirkungsmächtiger, die im
Nationalsozialismus Täter waren? Diese Frage steht im Zentrum der
Studie von Nele Reuleaux.
Die Autorin geht vom momentan vorherrschenden Normalitätsparadigma
in der Täterforschung aus, das sich zum Beispiel in Christopher
Brownings Studie »Ganz normale Männer« in Bezug auf Gräuel durch
Wehrmacht und Polizeibataillone artikuliert. In Abgrenzung zu
dieser Auffassung postuliert sie typische psychopathologische
Strukturen als malignen Narzissmus, der als »gesellschaftskonforme
Störung« die psychische Voraussetzung für die
nationalsozialistische Vernichtung gebildet habe. Die Kontroverse
zwischen »normal« versus »pathologisch« birgt insofern Brisanz, als
sie unterschiedliche politische Schlussfolgerungen zeitigt: Waren
die Täter nur »normale Männer«, so könnte ein jeder von uns Täter
geworden sein und hat sich entsprechend mit der Monstrosität der
Verbrechen auseinanderzusetzen. Eine Ausgrenzung der Täter als
»Bestien« fällt damit schwer.
Dem hält die Autorin entgegen, dass eine fehlende Beachtung des
Ineinanderwirkens pathologischer und normaler Strukturen zur
unbewussten Weitergabe der pathologischen Strukturen beitrage, das
Normalitätsparadigma also eine Abwehr der damit verbundenen
Beunruhigung darstelle. An Ausschnitten von Vernehmungsprotokollen
und Prozessakten versucht sie zu demonstrieren, dass eine maligne
narzisstische Persönlichkeitsorganisation im Wirken vieler NS-Täter
herausgearbeitet werden kann, die sich unter anderem durch eine
Fassade kalter Grandiosität, sadomasochistische
Beziehungsstrukturen, Machtstreben, Unfähigkeit zu Empathie und
Dehumanisierung anderer ausweist. Dabei ist der Autorin das
Verdienst zuzuschreiben, dass sie es keinesfalls bei einer
klinischen Diagnose belässt, sondern die Verwobenheit mit
politischen, ideologischen und sozialpsychologischen Dynamiken
diskutiert. Ebenso möchte sie aufzeigen, wie sich im
intergenerativen Prozess diese psychopathologischen Strukturen
fortschreiben – die hierzu gewählten Fallbeispiele haben allerdings
eher illustrativen Charakter, als dass sie ihre Hypothesen
überzeugend untermauern könnten.
Nach Lektüre dieses klar gegliederten und gut verständlich
geschriebenen Buches bleibt als offene Frage, ob eine
psychopathologische Diagnose der NS-Täter tatsächlich einen
Erkenntniszuwachs bedeutet. Vor dem Hintergrund der enormen Anzahl
sehr unterschiedlich an den nationalsozialistischen Verbrechen
Beteiligter erscheint mir diese Diagnose nicht ausreichend
differenziert und vor allem auch in ihren unterschiedlichen
Implikationen unklar: Wie konnten dann entsprechende Täter nach dem
Ende des Nationalsozialismus ihre psychischen Störungen
kompensieren oder »unterbringen«? Und was wäre dann im Hinblick auf
die Prävention künftiger systematischer politischer Verbrechen zu
fordern? Die rekonstruktive Anwendung der Diagnose ebenso wie die
in diesem Zusammenhang postulierten intergenerativen Folgewirkungen
bleiben notwendigerweise etwas eindimensional und hypothetisch,
solange der Fokus allzu sehr auf die Pathologie gerichtet wird.
Dennoch artikuliert dieses Buch eine kritische Teil-Sicht auf die
Frage nach dem psychischen nationalsozialistischen Erbe.