Rezension zu Einheitslust und Einheitsfrust
Sächsische Zeitung
Rezension von Carola Lauterbach
Die doppelt Enttäuschten
Seit 20 Jahren verfolgen Forscher junge Leute auf ihrem Weg vom
DDR- zum Bundesbürger. Die Ergebnisse sind teils alarmierend.
Sie waren keine Propheten. Dass es zwei Jahre später eine
gesellschaftliche Wende geben würde, haben die damals knapp 1300
Leipziger und Karl-Marx-Städter (Chemnitzer) 14-jährigen Schüler im
Jahre 1987 natürlich nicht geahnt. Daraus, dass ihnen aber manches
nicht schmeckte im real existierenden Sozialismus, machten sie kein
Hehl. So ginge ihnen »ihre Identifikation mit dem
Marxismus-Leninismus« schon zunehmend abhanden, gaben sie frank und
frei auf Fragebogen im Rahmen einer Studie des
Jugendforschungsinstitutes der DDR an.
Angst vor Notlagen wächst
20 Jahre sind seitdem vergangen. Inzwischen haben die heute
34-Jährigen ihre Probleme mit dem Kapitalismus. Es deutet sich an,
dass sie eine Generation doppelt Enttäuschter werden. Immerhin
haben zwei Drittel der Frauen und Männer – von denen die Hälfte
über einen Facharbeiter- und knapp ein Viertel über einen
Hochschulabschluss verfügen – bereits Erfahrung mit
Arbeitslosigkeit machen müssen. Männer im Schnitt bis zu 14, Frauen
bis zu 19 Monaten. Und mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit
schwindet ihre Zukunftszuversicht, wächst die Furcht vor Notlagen.
Sie geben an, dass ihr Selbstbewusstsein und ihre Lebenslust
schwinden. Sie befürchten, dass sie sich ab 37 Jahren generell
Sorgen um einen Arbeitsplatz machen müssen. Und dass es ohne Arbeit
keine Freiheit gibt.
Diese bedrückenden Aussagen kamen bei der inzwischen 20. Befragung
der jungen Leute zum Ausdruck, bestätigen aber den Trend der
letzten Jahre. Denn knapp 400 Studienteilnehmer stehen dem
Forscherteam noch heute durch die Beantwortung von jährlich rund
200 Fragen zur Verfügung. Damit ist die Studie nicht nur wegen des
langen Zeitraums so besonders, sondern auch, »weil sie das
persönliche Erleben der Wiedervereinigung dokumentiert,
Befindlichkeiten von Menschen beim Übergang von einem
Gesellschaftssystem in ein anderes erfasst«, sagt Dr. Hendrik
Berth, Diplom-Psychologe am Universitätsklinikum Dresden und seit
dem Jahr 2000 Mitautor der Studie. Er spricht sogar von einer
weltweiten Einzigartigkeit.
Die Teilnehmer wünschten sich mehrheitlich die politischen
Verhältnisse der DDR nicht zurück, sagt der Wissenschaftler. Doch
mit zunehmendem Abstand zu den Wendejahren wachse die
Unzufriedenheit mit heutigen gesellschaftlichen Bedingungen,
insbesondere im Hinblick auf Sozial-, Familien-, Bildungs- und
Gesundheitspolitik. Oder Kriminalität. »In diesem direkten
Systemvergleich«, sagt Berth, »schneidet die DDR in der Bewertung
zunehmend besser ab.« Ihre in der DDR gemachten Alltagserfahrungen
in sozialer Hinsicht, insbesondere die erlebte soziale Sicherheit,
wirkten nachhaltiger als vermutet. Die Anfang Dreißigjährigen
sprächen selbst gern von einer Doppelidentität: Sie fühlen sich als
Bundesbürger ohne die Verbundenheit mit der DDR aufzugeben.
Keine ideologische Verklärtheit
Die positiven Erinnerungen, sagt Berth, seien nicht gleichzusetzen
mit früheren politischen Bindungen und schon gar nicht Ausdruck
ideologischer Verklärtheit. Hartnäckig hält sich bei ihnen die
Überzeugung, sie verstärkt sich sogar, dass es ein schwerwiegender
Fehler der Wiedervereinigung gewesen sei, nicht die guten Seiten
der DDR in das gemeinsame Land mit hinüberzuretten Die
Studienteilnehmer beklagen ferner mehrheitlich und zunehmend die
Verteilungsungerechtigkeit im Lande. »Sie fühlen sich als Deutsche
zweiter Klasse«, sagt Berth, und zwar wieder in einem zunehmenden
Maße.
Die Autoren der Studie und eines daraus entstandenen eben
erschienenen Buches »Einheitslust und Einheitsfrust – Junge
Ostdeutsche auf dem Weg vom DDR- zum Bundesbürger« glauben, dass
die Politik die Ängste, Sorgen und Befindlichkeiten eklatant
unterschätze.