Rezension zu Bewegende Individualpsychologie
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Rezension von Hans-Peter Heekerens
Autor
Daniel Geißler arbeitet als individualpychologischer
Psychotherapeut und Personal Trainer in Wien und Niederösterreich
(nahe bei Wien). Er hat Sportwissenschaften studiert und
Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund Freud Privatuniversität
Wien, wo er 2017 mit einer gegenüber dem vorliegenden Buch nur
unwesentlich anderen Version mit geringfügig abweichendem Titel als
Dissertationsschrift promoviert wurde.
Thema
Ganz allgemein formuliert, kann man sagen: das Buch sucht nach
Schnittstellen von bzw. Verbindungen zwischen (disziplinär
gesprochen) Sport- und Psychotherapiewissenschaft bzw.
(professionell gesehen) zwischen Psychotherapie im allgemeinen bzw.
der Individualtherapie Alfred Adlers im besonderen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat zwischen einem Vorwort, in dem auch von der
Entstehungsgeschichte des Buches die Rede ist, und dem (bei
Dissertationen üblichen) umfangreichen Literaturverzeichnis acht
Kapitel.
Im 1.Kapitel Theoretische Ausgangspunkte und Einführung in die
Thematik legt der Autor sein Wissenschaftsverständnis sowie das
Verständnis von Körper und Geist, Leib und Seele, Gesundheit und
Krankheit dar, skizziert die Menschenbilder von Sportwissenschaft
und Individualpsychologie und die Möglichkeiten einer
Zusammenführung der damit verbundenen Perspektiven, markiert den
Forschungsstand und entfaltet seine Forschungsfragen und die
Methodik zu deren Beantwortung.
Im Zentrum des 2. Kapitels Körperliche Aktivität und Gesundheit
steht die Betrachtung (möglicher) positiver Wirkungen auf
somatischer, neurobiologischer, psychischer und sozialer Ebene.
Das Kapitel 3 Körperliche Aktivität in der Psychotherapie bietet,
nach einzelnen therapeutischen Ansätzen differenziert, einen kurzen
Abriss der Psychotherapiegeschichte unter dem Gesichtspunkt der
jeweiligen Bewertung von Bewegung und Körperlichkeit. Anschließend
wird an vier Beispielen dargestellt, wie die Berücksichtigung von
Körperlichkeit bei einzelnen Ansätzen aussieht; betrachtet
werden:
• die Konzentrative Bewegungstherapie,
• die Bioenergetische Analyse,
• die Feldenkrais-Methode und
• die Integrative Therapie.
Kapitel 4 Weitere Anwendungsgebiete und Auswirkungen körperlicher
Aktivität im Feld psychischer Erkrankung und Gesundheit hat drei
Schwerpunkte:
• Bewegungs- und Sporttherapie,
• ausgewählte Bewegungsformen (etwa Therapeutisches Klettern)
und
• (mögliche) positive Wirkungen bei psychischen Störungen mit
Krankheitswert.
Im 5. Kapitel werden Bewegung und Körperlichkeit im theoretischen
Konzept der Individualpsychologie Alfred Adlers chrono- und
sachlogisch dargestellt.
Kapitel 6 Die Bedeutung von Bewegung und körperlicher Aktivität für
die Individualpsychologie stellt den Versuch dar, Möglichkeiten und
Grenzen von Bewegung und körperlicher Aktivität in der heutigen
Individualpsychologie abzuklären.
Zusammenfassung und Ergebnisse, das 7. Kapitel bietet eine recht
breit ausfallende zusammenfassende Darstellung der vorherigen
Kapitel und der dort festgehaltenen Ergebnisse an. Es endet
folgendermaßen:
»Resümee: Eine ›bewegende Individualpsychologie‹ könnte die
therapeutische Praxis und den natürlichen Lebensraum als
›Forschungsfeld‹ bzw. ›Spielraum‹ und körperliche Aktivität, zum
Beispiel in Form von Gehen, als Möglichkeit bzw. ›Element‹ nutzen,
um
1. von den positiven Effekten für Körper, Gehirn, Denken,
Wahrnehmung, Entspannung, Erholung, Befindlichkeit und Vitalität zu
profitieren, aufseiten des Patienten und Therapeuten,
2. die individuellen, seelischen und körperlichen
Ausdrucksbewegungen des Patienten, seine Gangart, seinen
Bewegungs-, Aktivitäts- und Beziehungstypus sowie Lebensstil besser
sichtbar zu machen,
3. die therapeutische Beziehung, den Aufbau des
Gemeinschaftsgefühls, Mutes und eines aktiv-konstruktiven
Lebensstils durch das empathische ‚Mit-Bewegen‘ bzw. ‚Mit-Gehen‘ zu
unterstützen,
4. und somit den Prozess der Therapie und Heilung sowie Gesundheit
auf ganzheitlicher Ebene zu unterstützen.« (S. 323-324)
Im 8. und Schlusskapitel Ausblick listet der Autor einige offen
gebliebene, neu aufgetauchte bzw. durch die Arbeit erst
aufgeworfene Fragen praktischer wie theoretischer Natur auf.
Diskussion
Auf der Coverrückseite des Buches findet sich eine teilweise
Wiedergabe der Bewertung des vorliegenden Buches durch Giselher
Guttmann, einen der Großen des Psychologischen Instituts der
Universität Wien. Dort heißt es: »Neue Entwicklungen finden oftmals
im Niemandsland zwischen etablierten Disziplinen statt. Das gilt
auch für die Untersuchung der Rolle, die der Bewegung in der
Psychotherapie zukommen sollte. […] Der Verfasser, Psychotherapeut
und Sportwissenschaftler, hat einen Brückenschlag vollzogen, der
zugleich auch Aufruf zu einer neuen Blickrichtung für die
Psychotherapie – gleich welcher Schule – sein sollte […].«
Es ist nur so: Dieser Brückenschlag ist auch im deutschsprachigen
Raum schon längst erfolgt. Man hat ihn in Wien bloß nicht
wahrgenommen. Natürlich kann hier nicht die ganze Geschichte der
praktischen wie theoretischen Verknüpfung von Psychotherapie
einerseits und Bewegungsspielen sowie Natursportarten andererseits
dargestellt werden. Ich gebe hier lediglich vier Beispiele aus dem
deutschsprachigen Bereich (im angelsächsischen ist besagte
Verknüpfung noch viel häufiger zu finden).
Einen frühen Versuch hat der Baden-Badener Arzt und Psychotherapeut
Helmut Schulze (1971)unternommen, der bei der Behandlung von
Angststörungen als »Ergänzungstherapie« zur Psychotherapie seine
»Grenzsituationstherapie« einsetzte. Das »Arrangieren« solcher
Grenzsituationen bestand hauptsächlich darin, dass er, Besitzer
eines Pilotenscheins, mit den Patient(inn)en in kleinen, möglichst
offenen Motor- und Segelflugzeugen flog; er nennt aber auch andere
Möglichkeiten, um Grenzsituationen »herzustellen«: Schwimmen,
Radfahren, Bergsteigen (er war begeisterter Bergsteiger) u.a.m
…
Eine ganz andere Art von »Ergänzungstherapie«, um eines der
jüngeren Beispiele anzuführen, hat Kilian Mehl, Mediziner und
Psychotherapeut, seit 1993 Ärztlicher Direktor der »Klinik
Wollmarshöhe«, eines Fachkrankenhauses für psychosomatische
Medizin, sowie Leiter des 2007 gegründeten und an die Klinik
angeschlossenen Instituts für Erfahrungslernen (infer),
unternommen. Im Vorwort des von ihm herausgegebenen Sammelbandes
»Erfahrungsorientierte Therapie. Integrative Psychotherapie und
moderne Psychosomatik« (Mehl, 2017; vgl. Heekerens, 2018) schreibt
er:
»Im vorliegenden Buch wird in die Theorie und Praxis sowie
Forschungslage der erfahrungsorientierten Therapie [EOT]
eingeführt, die einen integrativen und am Prinzip des Lebendigen
sowie an neurobiologischen Grundlagen ausgerichteten Ansatz
verfolgt. Erfahrungsräume und Aktivitäten in- wie outdoor werden
von professionellen Therapeuten genutzt, um für den Patienten in
einem geschützten Rahmen korrigierende Erfahrungen zu bewirken.«
(Mehl, S. VI) Der Mehlsche EOT-Ansatz ist nur ein Beispiel von
vielen, in denen Psychotherapie mit
„Bewegungsarbeit“/Erlebnispädagogik verbunden wird; im »Handbuch
Erlebnispädagogik« werden interessierte Leser(innen) darüber in
»Erlebnispädagogik in therapeutischen Ansätzen« prägnant informiert
(Lakemann, 2018).
Was die theoretischen Verknüpfungen anbelangt, so sei als Erstes
auf Werner Michl hingewiesen. Der wohl bekannteste Vertreter (vgl.
etwa Heckmair & Michl, 2018; Michl & Seidel, 2018) der
deutschsprachigen Erlebnispädagogik, die dem Autor des vorliegenden
Buches gänzlich unbekannt scheint, ist ein individualpsychologisch
(aus-)gebildeter Pädagoge. Er hat schon vor bald drei Jahrzehnten
in »Alfred Adler – Ein Wegbereiter der Erlebnispädagogik?« (Michl,
1991) dargelegt, weshalb unter den psychodynamischen Ansätzen
gerade der von Alfred Adler prädestiniert scheint für eine
Verknüpfung von Psychotherapie und »Bewegungsarbeit«.
Den in meinen Augen bedeutsamsten Versuch einer Verknüpfung von
Psychotherapie und »Bewegungsarbeit« hat der Psychologe und
Erlebnispädagoge Rüdiger Gilsdorf in seiner Dissertation »Von der
Erlebnispädagogik zur Erlebnistherapie: Perspektiven
erfahrungsorientierten Lernens auf der Grundlage systemischer und
prozessdirektiver Ansätze« (Gilsdorf, 2004) unternommen. Ausgang
und Bezugspunkt der Gilsdorfschen Überlegungen ist die gemeinsame
Betonung von leibhaftigem »Erleben« – i. U. zu verkopftem »Reden« –
sowohl in der von Kurt Hahn 1920 begründeten »Erlebnistherapie« /
Erlebnispädagogik als auch der affektiv-experienziellen Therapie
(Gestalttherapie, Experiencing usw.), die ihre Wurzeln in den
1920ern bei Sándor Ferenczi und Otto Rank hat (vgl. Heekerens,
2016).
Fazit
Ich selbst habe in diesem Buch nichts wirklich Neues finden können.
Von Brückenschlägen zwischen Psychotherapie- und Sportwissenschaft
habe ich seit Jahrzehnten Kenntnis. Und auch jene
Erlebnispädagog(inn)en des deutschsprachigen Raums, die Praktiker
sind und nur gelegentlich Zeit und Muße für einschlägige Lektüre
haben, finden hier wenig Überraschendes. Vielleicht könnte das Buch
inspirierend sein für Psychotherapeut(inn)en der psychodynamischen
Schule im allgemeinen und der psychoanalytischen im besonderen
haben, steht dort doch jegliche körperliche Bewegung jenseits des
Sich-Legens-auf-die Couch bzw. des Sich-in-den-Stuhl-Setzens unter
dem (General-)Verdacht des »Agierens«.
Allzu viel an Bewegung erwartet Daniel Geißler ja auch nicht; mit
einem gemeinsamen Gehen kann/'s genug sein. Dass solches gemeinsame
Umherwandeln für Geist, Körper und Seele der Beteiligten und die
Beziehung zwischen ihnen nützlich sein kann, wussten schon die
Schüler des Aristoteles (und wohl auch schon er selbst); sie
führten die Gespräche mit ihren Schülern, beim Aufundabwandeln in
der Säulenhalle des Lykeion-Gymnasion.
Doch Vorsicht: Auch beim bloßen Aufundabwandeln kann man stolpern,
den Fuß verdrehen usw. Daher an alle die Warnung: Körperliche
Bewegung nur auf eigene Gefahr! Oder besser: auf eigenes Risiko!
Wir sollten ernst nehmen, was uns Niklas Luhmann (1991) über den
Unterschied von »Gefahr und Risiko« beizubringen versuchte.
Literatur
Gilsdorf, R. (2004). Von der Erlebnispädagogik zur
Erlebnistherapie: Perspektiven erfahrungsorientierten Lernens auf
der Grundlage systemischer und prozessdirektiver Ansätze. Bergisch
Gladbach: Edition Humanistische Psychologie.
Heckmair, B. & Michl, W. (2018). Erleben und Lernen. Einführung in
die Erlebnispädagogik (8. überarb. Aufl). München: Reinhardt.
Heekerens, H.-P. (2016). Psychotherapie und Soziale Arbeit. Studien
zu einer wechselvollen Beziehungsgeschichte. 2016. Coburg:
ZKS-Verlag (online verfügbar unter https://zks-verlag.de/).
Heekerens, H.-P. (2018) Rezension vom 27.12.2018 zu Mehl, K.
(Hrsg.) (2017). Erfahrungsorientierte Therapie. Integrative
Psychotherapie und moderne Psychosomatik. Berlin: Springer.
socialnet Rezensionen (www.socialnet.de/rezensionen/24773.php).
Lakemann, U. (2018). Erlebnispädagogik in therapeutischen Ansätzen.
In W. Michl & H. Seidel (Hrsg.) (2018). Handbuch Erlebnispädagogik
(S. 267-271). München: Reinhardt.
Luhmann, N. (1991). Soziologie des Risikos. Berlin – New York: de
Gruyter.
Mehl, K. (Hrsg.) (2017). Erfahrungsorientierte Therapie.
Integrative Psychotherapie und moderne Psychosomatik. Berlin:
Springer (socialnet Rezension
www.socialnet.de/rezensionen/24773.php).
Michl, W. (1991). Alfred Adler – Ein Wegbereiter der
Erlebnispädagogik? Lüneburg: edition erlebnispädagogik.
Michl, W. & Seidel, H. (Hrsg.) (2018). Handbuch Erlebnispädagogik.
München: Reinhardt.
Schulze, H. (1971). Das Prinzip Handeln in der Psychotherapie. Ein
Beitrag zur Verhaltensanalyse und Verhaltenstherapie der Neurosen.
Stuttgart: Enke.
Rezensent
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik
an der Hochschule München
Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 16.01.2019 zu: Daniel Geißler:
Bewegende Individualpsychologie. Körperliche Aktivität als
gesundheitsförderndes Element in der Psychotherapie.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN 978-3-8379-2836-5. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
https://www.socialnet.de/rezensionen/25148.php, Datum des Zugriffs
19.03.2019.
www.socialnet.de