Rezension zu Die BDSM-Szene
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Rezension von Rüdiger Lautmann
Thema
Das Buch behandelt die soziale Organisation des Sadomasochismus,
soweit dieser für ein Publikum zugänglich ist. Es ist dies ein
Teilbereich des von der Normalform abweichenden geschlechtlichen
Begehrens – die so genannte Fetisch- und Gewaltszene. Früher
lautete das geläufige Kürzel hierfür S/M, und die Sexualform war
als pervers markiert. Inzwischen hat sich der Bereich erweitert;
neben das Erleben von Erniedrigung, Verletzung und Schmerz sind
Spielszenen getreten, in denen interessante Rollensituationen wie
Arzt-Patient, Lehrerin-Schülerin usw. nachgeahmt werden. Die Lust
entsteht hier aus dem Nachvollzug hierarchischer Strukturen.
Entstehungshintergrund
Die Autorin hat an bayerischen Universitäten Soziologie studiert
und arbeitet aktuell in einem Graduiertenkolleg an ihrer
Dissertation. Das Buch dürfte auf der Grundlage ihrer Masterthese
entstanden sein. Sie hat auch andere sozialwissenschaftliche Texte
aus ihrer Studienzeit separat veröffentlicht.
Aufbau
Das Buch beginnt mit einer sozialtheoretischen
Grundlagenorientierung, bezogen auf Sozialkonstruktivismus und
Diskursanalyse (S. 17-40). Den Löwenanteil des Texts nimmt, wie im
Untertitel angekündigt, Feldstudie ein (S. 62-201).
Zusammenfassungen und Erweiterungen komplettieren die Studie.
Inhalt
Im Mittelpunkt des Leseinteresses steht ein Bericht über
Veranstaltungen, auf denen sexuelle Begegnungen im Zeichen von BDSM
ermöglicht werden. Das Akronym kürzt die englischen Wörter Bondage,
Discipline, Dominance und Submission ab. Betrieben wird jeweils ein
»Spiel um und mit Macht, Kontrolle, Gewalt und Sexualität« (S. 10).
Die Veranstaltungen werden von Kleinunternehmern angeboten; sie
stehen für Interessierte offen. Früher wurden solche Handlungen sie
umstandslos pathologisiert, wenn nicht gar kriminalisiert.
Inzwischen stehen sie der in gesellschaftlichen Bewertung auf der
Grenze zwischen Normalität und Nicht-mehr-Normalität (S. 50).
Der Bericht darüber beruht auf je einem Interview mit den
Betreiber*innen von fünf verschiedenen Veranstaltungstypen. Ferner
hat die Verfasserin die Abläufe vom Rande des Geschehens her
beobachtet, indem sie vor Ort als Tresenkraft arbeitete oder sich
als beauftragte Besucherin ausgab. Indem die Autorin BDSM als eine
›Szene‹ ansieht, d.h. einen Ort sexuellen Handelns, kann sie
folgende Themen ansprechen: Zugang zur Szene, Regeln und Verbote.
Reale Gewalt und Gewaltspiel werden unterschieden (S. 94-97). Die
typischerweise vorkommenden Events werden beschrieben (S. 105-124);
dieses deskriptive Kapitel bildet für Neugierige vermutlich den
interessantesten Teil der Studie.
Anhand der Interviews werden Organisation und Abläufe der
BDSM-Treffen geschildert: wer teilnimmt, wie lange ein Event
dauert, was es bietet, wie sich die Differenzen Frau/Mann bzw.
hetero/homo geltend machen (S. 125-201). Die Informationen,
geordnet nach dem Gesprächsleitfaden (S. 62, 80), kommen von den
Veranstaltern, nicht von den Besuchern.
Das Erkenntnisinteresse der Autorin zielt auf die Grenzen, wie sie
gesetzt und eingehalten werden. Darüber hinaus finden sich
anregende Seitenbemerkungen zur Fluidität des Phänomens: Kaum, dass
der Begriff BDSM bekannt geworden ist, erfährt die Sexualform eine
Aufspaltung, insofern die Veranstaltungen sich an spezifische
Begehrensrichtungen wenden müssen, um weiterhin Zulauf zu finden;
Sexualität allein verbinde nicht mehr (S. 215).
Diskussion
Im sozialtheoretischen Vorspann wird das Hauptthema nur gestreift.
Erst im Fazit (S. 211-221) finden die gedanklichen Linien
zueinander.
Die Feldstudie zu den fünf Veranstaltungstypen ist anschaulich
geschrieben und ermöglicht einen umfassenden Blick in verborgenes
Geschehen. Der wissenschaftliche Anspruch führt zu einer
stringenten Strukturierung, zum Verzicht auf jeden Sensationalismus
und zu einer soliden Erstinformation. Der Text – im Hauptteil, also
im Bericht zur Feldstudie – ist anschaulich geschrieben, verlässt
hier kaum das Niveau einer Recherche anspruchsvoller Journalistik.
Sozialtheoretisch Interessierte können sich an die Einleitung sowie
an die raumsoziologische These halten, allerdings ohne dort mehr
über das titelgebende Thema zu erfahren. Aus der Feldstudie heben
sich diejenigen Passagen heraus, in denen eine
Binnendifferenzierung und die Wandlungstendenzen angesprochen
sind.
Den ›harten Kern‹ des Geschehens – das sexuelle Handeln in
BDSM-Situationen – braucht die Studie nicht anzusprechen; die norm-
und wissenssoziologische Perspektive auf Konstruktion und Diskurs
erspart ihr (und uns) das. Damit bleibt der ›Elefant im Raum‹
unsichtbar. Wohl aber hören wir viel dazu, wie auf jenes Geschehen
geblickt wird.
In einer Art von Exkurs bietet die Verfasserin eine
»Gentrifizierungsthese« zur Erklärung des Phänomens an
(S. 203-209). Danach bilden sich durch Grenzziehung neue soziale
Räume; die sexuellen Praktiken des BDSM werden hierher »verdrängt«,
d.h. »gentrifiziert« (S. 205). Das klingt so, als würde BDSM nur in
den organisierten Zusammenhängen ausgeübt. Demgegenüber ist
festzuhalten, dass diese Begehrensform zuerst und parallel in
privaten Zweierkonstellationen entstanden ist und heute vor allem
durch individuelle Partnersuche im Netz realisiert wird.
Fazit
Das Buch beschreibt einige Erscheinungsformen subkultureller
Sexualität, in denen sadomasochistische und fetischistische Impulse
mit anderen ausgelebt werden können. Geschildert werden die
Erfahrungen mit kommerziell organisierten Veranstaltungen aus der
Sicht der Betreiber. Berichtet werden Tendenzen zur Differenzierung
und Spezialisierung der Nachfrage. Hingewiesen wird auf die
Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Klientel sowie
zwischen Homo- und Heterosexualität. Im Vergleich zu früheren
Studien wird einerseits eine Konstanz der Begehrensform,
andererseits ein gewisses Ausmaß an Stiländerungen deutlich. Die
Studie eignet sich vor allem für einen ersten Einblick in eine
sexuelle Randszene.
Rezensent
Dr.phil. Dr.jur. Rüdiger Lautmann
Jg. 1935, arbeitete von 1971 bis 2010 als Professor für Soziologie
an der Universität Bremen und lebt jetzt in Berlin. Zahlreiche
Publikationen zu Recht und Kriminalität, Geschlecht und
Sexualität.
Zitiervorschlag
Rüdiger Lautmann. Rezension vom 06.03.2019 zu: Anne Deremetz
(Hrsg.): Die BDSM-Szene. Eine ethnografische Feldstudie.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN 978-3-8379-2812-9. Reihe:
Angewandte Sexualwissenschaft - Band 13.
https://www.socialnet.de/rezensionen/25048.php, Datum des Zugriffs
08.03.2019.
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