Rezension zu Lob der Scham (PDF-E-Book)
Psychotherapie & Seelsorge 1.2019
Rezension von Gabriele Stotz-Ingenlath
Scham und Selbstachtung
Ein Lob der Scham zu schreiben, ist ein anregendes und sehr
komplexes Unterfangen, das Daniel Hell im vorliegenden Buch
ausgesprochen gut gelungen ist. Die Scham, ein grundlegendes, aber
schwer auszuhaltendes, »brennendes« Gefühl, umkreist der
emeritierte Ordinarius der Psychiatrischen Uni-Klinik Zürich mit
vernetztem Denken, Lebenserfahrung und phänomenologischem
Geschick. Kulturgeschichte, individuelle Entwicklungsgeschichte
sowie die Pathogenität und die Pathologie, also das potenziell
Krankmachende und die tatsächlich krankhaften Vorgänge im
Zusammenhang mit Scham, finden Beachtung, und letztlich entstehen
anhand der vielschichtigen Analyse der Scham, die derzeit »kein
Modewort« sei, dann doch profunde Überlegungen zum Zeitgeist, die
hochaktuell sind und betroffen machen.
Hell definiert die Scham als »Türhüterin des Selbst«. Sie trägt
zur Entwicklung bei und hat auch mit Selbstachtung zu tun. Sie ist
ein Sen sor, wenn das Identitätsgefühl gefährdet ist, und auch
Voraussetzung für Empathie und das Verständnis der anderen. Als
Taktgefühl regelt sie den zwischenmenschlichen Austausch. Scham
macht den Menschen erst menschlich. Soziologisch gesehen wird sie
mit Anpassung und Heteronomie gleichgesetzt, beides wird im
Zeitalter der Autonomie nicht mehr gewünscht. So wertet und wehrt
man heute das Gefühl der Scham ab, man will es nicht mehr
zulassen. Hell spricht da- gegen von einer »Beschämungskultur«,
die sich gerade im digitalen Zeitalter breitmacht, man denke an die
Verdinglichung, Empathie-Ausschaltung und Virtualisierung. Das
heißt: Man schämt sich nicht mehr, man beschämt. Mit dem
Schamverlust korreliert andererseits eine Zunahme narzisstischer
Kränkbarkeit. Die Angst davor, beschämt zu werden, führt zur
heute häufig gewordenen sozialen Phobie.
Als erfahrener Kliniker und jetzt privatärztlich tätiger
Therapeut gibt Hell auch Hinweise zum Umgang mit Scham. Sich zu
schämen ist keine Schande. In der Therapie, im wertungsfreien
Gegenübersein kann dem Betroffenen geholfen werden, zu seiner
Scham zu stehen, sie und damit sich selbst zu akzeptieren und
wieder Vertrauen auf- zubauen. Denn wer sich der Scham stellt,
stärkt das Eigene.
Man muss sich auf das Buch einlassen, sich einschwingen in den
differenzierten, manchmal etwas gewundenen, auslotenden Stil, mit
dem Hell aber dem facettenreichen Phänomen behutsam und sogar
etwas bohrend philosophisch-anthropologisch und psychopathologisch
gerecht wird. Spätestens dann, wenn man am Ende Scham für die
herrschende Beschämungskultur zu spüren beginnt, wird einem klar,
wie wichtig es sein könnte, Schamfähigkeit wieder einzuüben.
Ein durch und durch empfehlenswertes und beherzigenswertes
Buch!
Dr. med. Dr. phil. Gabriele Stotz-Ingenlath arbeitet als
Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in
Berlin und München.