Rezension zu Holocaust, Trauma und Resilienz (PDF-E-Book)
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Rezension von Gertrud Hardtmann
Thema
Traumatische Erfahrungen und deren Verarbeitung, speziell des
Holocaust, werden mittels der hermeneutischen Methode anhand einer
Autobiografie untersucht und Forschungsergebnisse über die
Langzeitfolgen von Extremtraumatisierungen dargestellt und
diskutiert.
Entstehungshintergrund
Die Spätfolgen von Extremtraumatisierungen und Resilienz.
Autorin
Monika Jesenitschnig studierte Germanistik und Anglistik in Köln
und Klagenfurt, sowie Psychologie in Klagenfurt mit dem Abschluss
eines Mag. phil.
Aufbau
Nach einem Vorwort von Judith Glück und einer Einleitung durch die
Autorin wird im theoretischen Teil speziell auf die traumatischen
Folgen des Holocaust und die Themen Resilienz und posttraumatisches
Wachstum eingegangen. Nach ausführlichen theoretischen Erörterungen
und dem Stand der Forschung folgt ein empirischer Teil, in dem
zunächst die Fragestellung, Methodik und das Material von
Einzelfallanalysen vorgestellt und anschließend anhand von Boris
Cyrulnik und Ruth Klüger die Bewältigungsstrategien während der
Verfolgung, im Konzentrationslager und danach unter dem speziellen
Aspekt von Ressourcen, Schutz- und Risikofaktoren. Im letzten
Kapitel werden die Ergebnisse diskutiert und kritisch in die
Resilienzforschung eingeordnet.
Inhalt
Vorwort (2 Seiten).
Die Resilienzforschung habe sich zum Teil auf simple Formeln
reduziert und zum Teil zu einem impliziten Imperativ entwickelt. So
erhielten z.B. Menschen, die den Tod von nahen Angehörigen erlitten
hatten, bei massiven Traureaktionen nach mehr als zwei Wochen
bereits die Diagnose Depression (Diagnostisch-Statistisches Manual
der American Psychiatric Association). Damit werden
traumatisierende und Verfolgungserfahrungen, z.B. in der NS-Zeit,
pathologisiert. Sind letztere überhaupt resilient zu verarbeiten?
Gebrochenheit, Ambivalenz, aber auch Weiterentwicklung finden sich
bei Ruth Klüger. Die Autorin untersucht anhand von Ressourcen und
Resilienzprozessen die Komplexität solcher Traumatisierungen in
Gestalt von lebenslanger Verletztheit und gleichzeitig
Unzerstörtheit.
Einleitung (9 Seiten).
Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne – Entwicklung von der
Empfängnis bis zum Tod – hat sich seit 1997 zu einem eigenständigen
Forschungsgebiet entwickelt, das biologische, sozio-kulturelle,
psychische und historische Faktoren berücksichtigt: Konzeption
einer dynamischen Multidimensionalität. Individuelle Entwicklung
wird in einen historischen und kulturellen Kontext eingeordnet.
Krisen können auch positiv (Reifung, Weisheit) bewältigt werden.
Die salutogenetische Forschung stellt Risiken und Defiziten
ganzheitlich die Ressourcen zur Bewältigung gegenüber.
Es folgt ein Exkurs über den Holocaust in der Wissenschaft und den
Medien, verstärkt seit 1990, und die Entwicklung einer Erinnerungs-
und Gedenkkultur. Nicht allen Opfern gelang es, nach den
traumatischen Erfahrungen weiter zu leben. Andererseits waren auch
Adaptationen (?) und Regenerationen zu beobachten. Anhand der
Autobiografien von Ruth Klüger werden die Texte unter dem Aspekt
der Salutogenese gelesen und interpretiert. Die Erkenntnisse lassen
sich möglicherweise auch übertragen auf aktuelle Völkermorde und
Traumatisierungen durch Krieg und Verfolgung.
Der Aufbau beginnt mit der Theorie der Traumatisierung, speziell
durch den Holocaust, und stellt Untersuchungen über das
Überlebendensyndrom und Child survivors und das empirische und
methodische Vorgehen der Autorin vor.
I. Theoretischer Teil
1) Holocaust (17 Seiten).
Die Etymologie und Semantik des Begriffs wird untersucht und die
ideologischen Grundlagen von Rassismus, Antisemitismus und
Herrschaftsutopie. Nach Friedländer handelte es sich um einen
»Erlösungsantisemitismus« mit einem messianischen
Sendungsbewusstsein, der in der »Endlösung der Judenfrage«
kulminierte. Die Chronologie der Judenvernichtung wird dargestellt
und die Idiosynkrasien politischer und sozialer Prozesse, die
Systematik und Zielgerichtetheit und Strategie dieses gigantischen
bürokratisch-arbeitsteiligen Staatsverbrechens.
2) Psychotraumata (34 Seiten).
Einer Definition und Konzeptualisierung was ein psychisches Traum
ist: »Ein belastendes Ereignis oder eine Situation
außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz
oder lang anhaltend), das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung
hervorrufen würde.« (Dilling 2000) »Ein vitales Diskrepanzerlebnis
zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und
Schutzlosigkeit einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von
Selbst- und Weltverständnis bewirkt.« (Fischer/Riedesser 2009). Das
Ergebnis ist eine posttraumatische Belastungsstörung mit den
Symptomen des Wiedererlebens der bedrohlichen Situation,
angestrengten Versuchen der Vermeidung (Nivellierung der
Gefühlswelt) und Übererregbarkeit (Schreckhaftigkeit,
Schlafstörungen, Empfindlichkeit); Erinnerungsspuren werden
entchronologisiert.
Spezifika des Holocaust-Traumas sind: Zurückgeworfensein auf die
nackte Existenz, Unfähigkeit zur Symbolisierung, Bruch des
Selbstverständnisses. Holocauststudien beschreiben das
»Überlebenden-Syndrom« als ständiges Gefühl von Bedrohung, Schutz-
und Rechtlosigkeit, Todesangst, Verunsicherung in Kontakten, und
darüber hinaus eine ›sequentielle Traumatisierung‹ (Keilson 1979)
durch Erfahrungen vor, während und nach der Verfolgung.
Über die Lebensspanne äußert sich das Trauma in unterschiedlichen
Lebensphasen: Im Kindes- und Jugendalter in einem Schock durch
Zerstörung des bisherigen Wertesystem, Erlenen von
Überlebensstrategien und Verleugnung der Todesgefahr. Im Gegensatz
zu Erwachsenen sind in der Adoleszenz größere adaptive Ressourcen
und ein stärkerer Gruppenzusammenhalt zu beobachten, allerdings
auch ein vorzeitiges Erwachsenwerden (Kestenberg 1992). Überlebende
Kinder mussten mit Entwurzelung, unsicherer Zukunft und
Unverständnis oder sogar Feindseligkeit zurechtkommen, was oft zu
verstärkter Leistungsbereitschaft, Arbeitswilligkeit, Ehrgeiz und
Streben nach Zugehörigkeit führte. Im Alter machte sich das Fehlen
von Verwandtschaft und Familie, Entwurzelung und Heimatlosigkeit
durch eine erhöhte Vulnerabilität, verstärkt durch Isolation und
Hilflosigkeit, besonders bemerkbar. Psychosoziale Organisationen
wie AMCHA (Israel), TAMACH (Schweiz) und ESRA (Österreich) bieten
Hilfen an.
3) Resilienz (37 Seiten).
Seit den 90er Jahren hat die Verlagerung des Forschungsinteresses
von der Pathogenese zur Salutogenese, einem Gesundheitsmodell
anstelle eines Krankheitsmodells, stattgefunden (Antonovsky 1997).
Auf einem multidimensionalen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wird
zwischen maximaler Gesundheit und maximaler Krankheit
unterschieden. Während die Pathogenese sich auf eine bestimmte
Krankheit konzentriere, betrachtet die Salutogenese den Menschen
ganzheitlich unter dem Gesichtspunkt eines Gesundheitskontinuums,
konzentriert auf die vorhandenen Ressourcen. Dabei können
Stressoren ambivalent, pathogen, neutral und salutogen wirken,
entscheidend sind die Bewältigungsmöglichkeiten und das
Kohärenzgefühl (Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit).
Daraus ergibt sich das psychologische Konstrukt der Resilienz,
fokussiert auf den Prozess der positiven Anpassung, Entwicklung und
Bewältigung von Bedrohungen und Verletzungen. Es handelt sich nicht
um eine „elastische Anpassung“, sondern um einen erfolgreichen
Umgang mit Traumatisierungen. Drei Kategorien werden
untersucht:
1. gesunde Entwicklung trotz z.B. chronischer Armut oder Krankheit
der Eltern,
2. Erhaltung der Kompetenz unter belastenden Bedingungen (Trennung,
Scheidungen),
3. Bewältigung schwerer traumatischer Erfahrungen (Krieg, Gewalt,
Konzentrationslager).
Es folgt eine Geschichte der Resilienzforschung seit den 70er
Jahren in Gestalt von Langzeitstudien, Entwicklungsverläufen und
Untersuchung protektiver Faktoren. Die zentralen Konzepte sind das
Risikofaktorenkonzept (Kumulation, Dauer und Chronologie der
Belastungen, Alter und Entwicklungsstand, Geschlechtsspezifität,
subjektive Bewertung und Multifinalität, d.h. unterschiedliche
Auswirkungen der Risikofaktoren). Dabei spielen
Vulnerabilitätsfaktoren (genetisch oder durch unsichere Bindung)
und Stressoren (Probleme der Eltern) eine wichtige Rolle.
Schutzfaktoren sind
1. Persönlichkeitsmerkmale, u.a. auch Bewältigungsstrategien,
2. soziale Ressourcen innerhalb der Familie oder
3. im Makrosystem von Freunden, Nachbarn, Betreuern.
Ein spezielles Kapitel beschäftigt sich mit der Resilienz bei
Holocaustüberlebenden. Neben Glück, guter Konstitution und
günstigen Umständen spielen Anpassungsfähigkeit, Selbstbehauptung,
Beharrlichkeit, Optimismus, Intelligenz, Fähigkeit zur
Distanzierung, soziale Anschlussfähigkeit, Integration des
Bewusstseins überlebt zu haben (lebendig geblieben zu sein) und
persönliche Sinnfindung, ein Kohärenzgefühl und Mut eine wichtige
Rolle. Dabei geht es weniger um ein Charakterzug als um einen
Heilungsprozess durch handlungsorientierte Hoffnung und
Sinnfindung, evtl. aber auch Einkapselung der negativen
Erfahrungen. Die Forschungsergebnisse widersprechen sich teilweise.
Ein Funktionieren auf der Alltagsebene kann auch durch Verdrängung
und Verleugnung erkauft werden. Individuelle Bindungserfahrungen
spielen eine wichtige Rolle und eine Abwehr von
Übergeneralisierungen, Verzerrungen, Mythenbildungen, Klischees und
Ritualisierungen.
Es folgt ein Abschnitt über den Neurologen und Psychiater Boris
Cyrulnik, der als Kind den Holocaust in einem Versteck in
Südfrankreich überlebte und sich als Erwachsener auf die Suche nach
der eigenen Resilienz machte. Schutzfaktoren waren eine sichere
Bindung, die Fähigkeit zur Verbalisierung, gute Erinnerungen,
Handlungsfähigkeit und Selbstvergewisserung, aber auch
Tagträumereien als Ersatzidentifikationen, positive
Identifikationsfiguren, z.B. Lehrer, und gesellschaftliche
Anerkennung.
4) Posttraumatisches Wachstum (7 Seiten).
Es handelt sich dabei um Veränderungs- und Bewältigungsprozesse wie
Wertschätzung des Lebens überhaupt, veränderte persönliche
Beziehungen, Bewusstwerden der eigenen Kraft und Stärke, Entdeckung
neuer Möglichkeiten der Entwicklung und Intensivierung eines
spirituellen, bzw. religiösen, Bewusstseins (Klärung fundamentaler
Fragen). Auf diese Weise kann aus Verlust auch ein Gewinn werden,
der Wachstum ermöglicht i.S. einer posttraumatischen Reifung, – ein
fragiles mehrdimensionales Konstrukt, das personale und soziale
Ressourcen einschließt.
II. Empirischer Teil
1) Design, Fragestellung, Methodik und Material (11 Seiten).
Eine Einzelfallanalyse eignet sich zur Darstellung des historischen
und lebensgeschichtlichen Hintergrundes, da Individuelles und
Typisches dargestellt werden kann.
Forschungsfragen, betr. Ruth Klüger, waren
1. Schutz- und Risikofaktoren vor der Deportation,
2. Strategien des Überlebens in drei Konzentrationslagern,
3. Vulnerabilitäten und Resilienzen anhand der autobiographischen
Bücher.
Dabei setzt die Autorin hermeneutische Methoden der klinischen und
tiefenpsychologischen Tradition ein in der Erforschung der
methodischen Suche nach Sinnstrukturen, ausgehend von der
subjektiven Darstellung und Deutung der traumatischen Erfahrung und
den Folgen für das persönliche Erleben. Nach diesen methodischen
Erörterungen folgt eine Chronologie der biographischen Eckdaten,
eine Darstellung und Kommentierung des Materials, beginnend in
Wien, fortgesetzt mit den Erfahrungen in den Konzentrationslagern,
der Zeit danach in Deutschland und den USA und zum Schluss die
Göttinger Zeit.
2) Fallanalyse und -interpretation von »weiter leben« (44
Seiten).
Beginnend mit den Schutz- und Risikofaktoren vor der Deportation
(den Eltern, dem Halbbruder und dem Kindermädchen, dem Umgang mit
dem Judentum und der frühen Beschäftigung mit Literatur, z.B.
Gedichte) werden Überlebensstrategien in den verschiedenen
Konzentrationslagern geschildert: In Theresienstadt die
Freundschaften mit Altersgleichen und Entwicklung einer jüdischen
kulturellen Identität, in Auschwitz-Birkenau die Bedeutung der
anwesenden Mutter und der Überlebenswille (durch
Beschäftigung/Ablenkung mit Lyrik), Überlebenshoffnung und die
Erfahrung von Mitmenschlichkeit; in Christianstadt-Groß Rosen die
Familieneinheit mit der „adoptierten“ Pflegeschwester Ditha und –
wieder – die Literatur als ein „Zuhause und Geborgensein“ in einer
anderen Welt.
Nach dem Kriegsende der Weg in die Autonomie getragen von Hoffnung,
Optimismus und Lebenslust und die schwierigen Resilienzprozesse
angesichts neuer Traumatisierungen durch verhinderte Zukunftspläne,
Emigration nach den USA, Retraumatisierung durch Unverständnis
eines Psychotherapeuten, Depression und einer
»Mutter-Tochter-Neurose«. Als Ressourcen Freundschaften, zunehmend
selbstbewusste Auseinandersetzung mit Sexismus (auch im
akademischen Milieu) und mit der Vergangenheit und Gegenwart.
Zusammenfassend werden die Schutz- und Risikofaktoren beschrieben:
Die schwierigen Eltern, die gute Erfahrung mit dem Kindermädchen
Anja, die Bedeutung von Lernen, Bildung und Rationalität und
Herstellung einer jüdischen kulturellen Identität und die Fähigkeit
zur Freundschaft.
3) Fallanalyse und -interpretation von »unterwegs verloren« (44
Seiten).
Es geht um die Zeit nach der Emigration in den 1950er Jahren, die
vielen Abschiede von der Mutter, dem Cousin, der (äußeren)
KZ-Nummer und um die Entdeckung neuer Welten wie Princeton ( als
akademisches Dorf), eine unglückliche Ehe, spätes Studium, nach der
Scheidung ein Leben als allein erziehende Mutter und
Universitätsprofessorin und ein Wiederanknüpfen an die europäische
literarische kulturelle Welt, die sie zwar äußerlich, aber nie
innerlich verlassen hatte, der späte Ruhm als Schriftstellerin, das
problematische (neurotische?) Verhältnis zu Göttingen/Deutschland
und Wien/Österreich und die Wahrnehmung der Verletzlichkeit und
gleichzeitig der Resilienz.
III. Ergebnisse & Diskussion
1) Ergebnisse (10 Seiten).
Die Forschungsfragen
1) Welche Schutz- und Risikofaktoren lassen sich bei Ruth Klüger
aus dem ersten Band ihrer Autobiographie („weiter leben“) für die
Zeit ihrer Kindheit vor der Deportation ableiten? Auf welche
individuellen Ressourcen und auf welche Ressourcen in ihrem
sozialen Umfeld konnte sie zurückgreifen? Wie ging sie mit den
zunehmenden antijüdischen Diffamierungen, Restriktionen und
Verboten um? Schutzfaktoren waren das Kindermädchen Anja, die wache
Intelligenz und Liebe zur Literatur und die Entwicklung einer
bewussten jüdischen Identität; Risikofaktoren die schwierige
Beziehung zu den Eltern, besonders zur Mutter und das
judenfeindliche Wien.
2) Welche Bewältigungsstrategien halfen Ruth Klüger die Aufenthalte
in drei Konzentrationslagern auszuhalten und zu überleben?
Theresienstadt war nach der zunehmenden Vereinsamung in Wien
positiv durch den Kontakt mit Gleichaltrigen und Festigung einer
jüdischen kulturellen Identität. In Auschwitz-Birkenau wurde die
Ablehnung der Mutter zu einer Gefahr, positiv hingegen das
Vertrauen in den Rat einer Fremden (keine Vorurteile?). Ein
Rettungsanker die innere Anwesenheit von Literatur/Lyrik. In
Christianstadt die Familieneinheit mit der von der Mutter
»adoptierten« Ditha und erneut die Literatur und Sprache als Zugang
zu einer anderen Welt und Widerstand (gegen die KZ-Welt). Nach
Kriegsende Autonomie, Freiheit und Wahlmöglichkeiten verbunden mit
Hoffnung, Optimismus und Lebenslust.
3) Welche resilienten Verhaltensweisen lassen sich bei Ruth Klüger
für ihr »weiter leben« aus ihren autobiographischen Büchern
ableiten? Welche Resilienzfaktoren trugen dazu bei, dass sie sich
in den USA eine neue Existenz aufbauen und ein als sinnvoll
empfundenes und erfolgreiches Leben führten konnte? Der
Kulturschock führte zu Depression und Suizidgedanken, dazu die
negative Erfahrung mit einem Psychotherapeuten, doch gelang es ihr
einen eigenen (im Gegensatz zur Mutter) Bekannten- und
Freundeskreis aufzubauen. Trotz einer unglücklichen Ehe und
komplizierten materiellen und familiären Verhältnissen war sie
ihren Söhnen eine »ausreichend gute Mutter« (was Fehler
einschließt, insbesondere wenn man selbst noch in einem Prozess der
Entwicklung und Reifung ist). Freundschaften, vor allem mit Frauen;
Sprache, Literatur, vor allem Lyrik, sind für Ruth Klüger
Ressourcen seit der Kindheit gewesen als ein Tor zu einer anderen
Welt, das auch unter widrigen Umständen offen geblieben ist.
Hinzukommen persönlichen Eigenschaften wie Hartnäckigkeit,
Eigenwilligkeit, Eigensinn, Mut und Durchsetzungsvermögen,
Selbstvertrauen und ein kritisch reflektierendes Selbst, das sich
gegen Vorurteilen und Vereinnahmung wehrt. Das Trauma der
Verfolgung wird dadurch nicht aufgehoben, auch nicht die
Verletzungen durch Kränkungen, die eine erhöhte Sensibilität
hinterlassen haben.
2) Diskussion (10 Seiten).
Wenn man diese biographischen Erinnerungen einordnet in die
Resilienzforschung, so ist die Bedeutung von familiären Bindungen
nach der Autorin bei Ruth Klüger eher fragil (doch auch die Bindung
an die Sprache und Literatur ist eine Bindung…); diese sind aber
auf der freundschaftlichen Ebene durchaus vorhanden und auch in der
kulturellen Anbindung an das – zeitweise auch zionistische –
Judentum. Personale Ressourcen waren Intelligenz und intellektuelle
Fähigkeiten, einschließlich der Phantasie. Spaltung, Verdrängung
und Verleugnung sind unsichere Abwehrmechanismen, weil die Realität
sich nicht verleugnen lässt und Spuren hinterlassen hat, die bei
einer offenen Konfrontation lebenslang auch Unversöhnlichkeit und
trotzige widerständige Selbstbehauptung hervorgerufen haben. Ein
Vergleich der Biographien von Boris Cyrulnik und Ruth Klüger zeigt
Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsamkeiten sind soziale
Identifizierungen (Judentum, Kommunismus), personale Ressourcen wie
Intelligenz, Sprachkompetenz und Kreativität, Entwicklungsfähigkeit
durch Arbeit und Beruf und gesellschaftliche Anerkennung, verbunden
mit einer Rückgewinnung der Kontrolle über das eigene Leben und
damit Autonomie.
Kritisch geht die Autorin darauf ein, dass autobiographische
Dokumente zu wenig wissenschaftlich genutzt werden, obgleich sie
insbesondere für die Resilienzforschung ein nützliches Instrument
sein können, das man nicht den Literaturwissenschaftlern überlassen
sollte. Dazu eignen sich allerdings nur die Texte, die über das
Faktische hinausgehend Narrations- und Reflexionsanteile enthalten.
Hilfreich seien zudem für Traumatisierte die öffentlichen
Anerkennung und ein sensibler und empathischer öffentlicher
Diskurs.
Literatur (15 Seiten)
Diskussion
So ansprechend das Bild von Frau Klüger auf der Titelseite dieses
Buches ist, so sehr kann es aber auch zu Missverständnissen
verleiten, dass es inhaltlich nur um ein individuelles Schicksal
einer Frau geht, die als Kind und Heranwachsende den Holocaust
überlebt hat. Das Buch bietet jedoch sehr viel mehr durch den
ausführlichen, und durch den umfangreichen Literaturanhang noch
erweiterten, theoretischen Teil zur Resilienzforschung und ist
deshalb allen zu empfehlen, die mit traumatisierten Menschen
arbeiten und auf der Suche nach den vorhandenen oder
unterstützungsbedürftigen Kräften sind, den Folgen des Traumas, das
nicht ungeschehen gemacht werden kann und lebenslange Spuren
hinterlässt, nicht ausgeliefert zu sein und Vertrauen in die
eigenen resilienten Kräfte/Ressourcen zu gewinnen. Die
Fallbeispiele zeigen, dass jeder Fall individuell, und damit
anders, ist und auch als solcher gesehen werden muss.
Psychodynamisch erschließt das gewählte und bewährte hermeneutische
Verfahren einen differenzierten Zugang zu bewussten und unbewussten
Bewältigungsstrategien.
Da Menschen nicht Nummern sondern eigenständige lebendige Wesen
sind, setzen sie die Interpretation und Selbstvergewisserung ihrer
vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen lebenslang fort,
insbesondere wenn durch gegenwärtige antisemitische Erfahrungen
alte Wunden und Verletzungen wieder schmerzlich bewusst werden.
Zu den Kindheitserfahrungen gehört bei Ruth Klüger aber auch die
diskriminierende Erfahrung, als kleines Mädchen von bestimmten
patriarchalen religiösen Ritualen oder den, für Kinder angeblich
ungeeigneten, Geheimnissen der Erwachsenen ausgeschlossen zu
sein.
Das autobiographische Erzählen ist ein Versuch der Rückgewinnung
der Kontrolle über sich selbst und das eigenen Leben, eine
Selbstvergewisserung zu einem bestimmten Zeitpunkt, der als
lebenslanger Prozess zukünftige Veränderungen nicht ausschließt.
Deshalb muss auch diese Forschung unabgeschlossen bleiben, was die
Ergebnisse anbetrifft. Methodisch eröffnet jedoch das
hermeneutische Verfahren eine Öffnung zum Verständnis der
Psychodynamik von Resilienz, das innere und äußere Faktoren
einschließt. Die Ergebnisse können eine Hilfe sein für alle, die
mit traumatisierten Menschen arbeiten, nicht an den eigenen oder
fremden, inneren und äußeren Tabus zu scheitern.
Jesenitschnig ist Psychologin und Literaturwissenschaftlerin, aus
psychoanalytischer Perspektive hat offensichtlich auch das (als
Objektrepräsentanz verinnerlichte?) Kindermädchen bleibende gute
Erfahrungen nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit einem
gesunden, widerständigen Selbstbewusstsein hinterlassen, ebenso die
trotz ihrer Schwächen auch lebensbejahende und kämpferische Haltung
der Mutter, was nicht ausschließt, dass ihr dieses Kind in vieler
Hinsicht auch fremd geblieben ist gerade in den Eigenschaften, die
Frau Klüger so anschlussfähig für Freundschaften machte.
Fazit
Ein sehr lesenswertes Buch, das allen zu empfehlen ist, die mit
traumatisierten Menschen arbeiten oder auch selbst traumatisiert
sind, weil es den Zugang zu möglichen Quellen der Resilienz
eröffnet. Den Weg zu den resilienten Quellen muss allerdings jeder
selbst finden.
Rezensentin
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 14.02.2019 zu: Monika
Jesenitschnig: Holocaust, Trauma und Resilienz. Eine
entwicklungspsychologische Studie am Beispiel von Ruth Klügers
Autobiografie. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN
978-3-8379-2807-5. Reihe: Forschung psychosozial. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
https://www.socialnet.de/rezensionen/25315.php, Datum des Zugriffs
13.03.2019.
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