Rezension zu Verwaltung des Krankenmordes
Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte Band 54/2004
Rezension von Hubert Kolling
An den nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmorden
wirkten bestimmte regionale Anstalts- und Fürsorgebehörden in einem
weit größeren Ausmaß mit, als die historische Forschung bislang
meist annahm. Zu diesen besonders exponierten regionalen Behörden,
deren Rolle bislang völlig unzureichend untersucht worden war,
zählte auch der Bezirksverband Nassau in Wiesbaden. In seinen
Anstalten (Hadamar, Eichberg und Weilmünster) sowie in der
gleichgeschalteten Anstalt Kalmenhof wurden in der ersten Hälfte
der 1940er Jahre rund 20.000 psychisch kranke, geistig behinderte,
sozial benachteiligte oder »rassisch« verfolgte Menschen ermordet.
Die Zahlen sind schon länger bekannt, ebenso wie die Mitwirkung von
Medizinern und Pflegekräften an den Verbrechen. Während in der
Vergangenheit den auf Reichsebene wirkenden Instanzen – heute unter
dem Kürzel »T4« bekannt – und ihrem Anteil an Implementierung und
Organisation des Krankenmordprogramms in der historischen Forschung
besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, blieb die Rolle der
Mittelinstanzen im Rahmen der Kranken- und Behindertenmordaktion
weitgehend unerforscht. Hier setzt Peter Sandner mit seiner groß
angelegten Studie über die »Verwaltung des Krankenmordes« an, in
deren Mittelpunkt nicht die Ärzte und das Pflegepersonal der
Anstalten stehen, sondern die Beamten der Wiesbadener
Zentralverwaltung des Verbandes. Gestützt auf umfangreiche Bestände
verschiedener Archive, allen voran das Bundesarchiv Koblenz, das
Hessische Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, die Hessischen Staatsarchive
Darmstadt und Marburg sowie das Archiv des
Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (Kassel), versucht er dabei ganz
konkret die Frage zu beantworten, welche Verantwortung der
Bezirksverband Nassau als Institution bei der Entschlussbildung,
der Vorbereitung und der organisatorischen Durchführung der
Krankenmorde in seinem Gebiet hatte.
Die mit mehr als 750 Seiten sehr umfangreiche Untersuchung gliedert
sich in fünf Teile. Zunächst behandelt der Autor die »Grundlagen«,
also insbesondere jene Faktoren, die für das Werden und Wirken des
Bezirksverbandes Nassau in der Zeit bis 1933, also vor der Zeit der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, bestimmend waren. Hierbei
beleuchtet er die Funktion des Bezirksverbandes im Rahmen der
kommunalen Selbstverwaltung und dessen Aufgaben im Fürsorgebereich
und in anderen Sektoren. Im zweiten Teil der Darstellung
thematisiert Sandner die »nationalsozialistische Formierung« des
Bezirksverbandes in ihren wichtigsten Facetten. Der zeitliche
Schwerpunkt dieses Teils liegt in den ersten Jahren der
NS-Herrschaft ab 1933 und bis 1937, als das Inkrafttreten des
Deutschen Beamtengesetzes einen gewissen Einschnitt darstellte.
Inhaltlich versucht er dabei die Frage zu beantworten, ob man eher
von einer Einflussnahme des NS-Staats auf den Bezirksverband
sprechen kann oder ob bzw. inwieweit der Bezirksverband und seine
Belegschaft sich selbst als einen Teil des »Dritten Reiches«
verstanden. Im dritten Teil befasst sich der Autor mit dem
Fürsorgebereich des Bezirksverbandes in der NS-Zeit. Dabei
konzentriert er sich auf die Zeit vor Kriegsbeginn und damit auch
vor Beginn der »Euthanasie«-Verbrechen. Hierbei sind überwiegend
die Jahre 1936 bis 1939 von Interesse, in denen die inhaltliche
Ausrichtung des Anstaltswesens sowie der »Erb- und Rassenpflege«
deutlich zum Ausdruck kamen. Zunächst stehen hier sowohl die
Initiativen des Bezirksverbandes zur »Entkonfessionalisierung« des
Anstaltswesens als auch die »rassenhygienische« Ausrichtung im
Mittelpunkt. Sodann wird aber auch die Rolle des Anstaltsdezernats,
die Sparpolitik der 1930er Jahre und erste Initiativen zu
Krankentötungen beleuchtet. Bevor die Krankenmorde der zentralen
Organisation »T4« im Bereich des Bezirksverbandes Nassau begannen,
wurde der Verband hauptsächlich im Jahr 1940 von machtpolitischen
Auseinandersetzungen geschüttelt, die inhaltlich zunächst nichts
mit den NS»Euthanasie«-Verbrechen zu tun hatten. Hier liegt der
Schwerpunkt des vierten Teils, in dem sich Sandner insgesamt mit
der Zeit der »T4«-Gasmorde in den Jahren 1940 und 1941 beschäftigt.
Wenngleich es sich hier um eine Phase handelt, in der auf den
ersten Blick nicht der Bezirksverband, sondern die zentrale
Mordorganisation »T4« für die Kranken- und Behindertenmorde
verantwortlich war, die 1941 auch in der Hadamarer Gaskammer
begangen wurden, geht der Autor der Frage nach, inwieweit der
Bezirksverband in diesem Rahmen dennoch Beiträge zur Mordaktion
lieferte. Der fünfte und letzte Teil beschäftigt sich mit der Zeit
der regionalen und dezentralen Krankenmorde insbesondere zwischen
1941 und 1945 und der Rolle, die der Bezirksverband Nassau dabei
übernahm. Dabei bringt Sandner insbesondere die Rolle der
Verwaltung des Bezirksverbandes bei den regional verantworteten
Krankenmorden zum Ausdruck, wobei sich ihm ein regelrechtes System
der Verlegungen in die Mordanstalten offenbarte. Im Mittelpunkt des
Interesses stand hierbei die Entschlüsselung von Intentionen und
Interessen sowohl verschiedener zentraler Protagonisten in Berlin
als auch ihrer Pendants in Wiesbaden; ebenso wird hier auch das
Paradoxon thematisiert, warum der Bezirksverband in so großer Zahl
kranke Menschen ermordete, obwohl die für diese eingenommenen
Pflegesätze doch die Existenzgrundlage für die
Bezirksverbandsanstalten darstellten. Ergänzt wird die Darstellung
durch einen umfangreichen Anhang, der neben Tabellen, Quellen- und
Literaturangaben sowie einem Personen- und Ortsindex auch sehr
nützliche biographische Daten enthält.
Die mit einem soliden Anmerkungsapparat ausgestattete
Veröffentlichung zeigt das erschreckende Ausmaß, in dem der
Bezirksverband Nassau in Wiesbaden an den nationalsozialistischen
Kranken- und Behindertenmorden mitwirkte. Der Verband erfüllte
nicht nur die an ihn gestellten Erwartungen bei weitem, sondern
trieb durch Eigeninitiative das NS-»Euthanasie«-Programm engagiert
voran, wodurch er in erheblicher Weise zu einem besonderen
Kooperationspartner der zentralen Mordorganisation wurde. Nach
Ansicht des Autors hatte die Übernahme dieser Rolle durch den
Bezirksverband Nassau zwei Hauptbedingungen: Entscheidend sei
zunächst gewesen, dass die politischen Beamten an der
Verbandsspitze die Ideologie der so genannten »Vernichtung
lebensunwerten Lebens« überzeugt verfochten. Ebenso wichtig sei
aber auch gewesen, dass die Verbandsverwaltung insgesamt Mittel und
Wege fand, diesen politischen Willen in die Tat umzusetzen und
dabei zugleich die Verbandsinteressen – machtpolitischer und
wirtschaftlicher Art zu verfolgen. »Nur die Allianz von Überzeugung
und Pragmatismus, von Intention und Struktur konnte eine derart
weit gehende Mitverantwortung des Bezirksverbandes für die
NS-Euthanasie-Verbrechen hervorrufen« (S. 691).
Die Entwicklung im Bezirksverband Nassau zeigt prototypisch, und
diese Erkenntnis ist neu, dass bei den »Euthanasie«-Verbrechen
zunehmend die Vertreter der Verwaltung die Richtung bestimmten –
und immer weniger die Vertreter der Medizin, die ursprünglich mit
einem vermeintlich »idealistischen« Ansatz das Thema »Euthanasie«
eingebracht und vorangetrieben hatten. Wie Sandner zeigen kann,
nahmen nach der öffentlichen Unruhe und damit dem Debakel der
»T4«-Gasmordaktion, bei der Ärzte eine bestimmte Rolle gespielt
hatten, ab 1941 – sowohl in der Berliner Zentrale als auch in
einzelnen Regionen – zunehmend die Verwaltungsexperten das Heft in
die Hand. Sie organisierten mit verwaltungstechnischen,
strukturellen Mitteln – z. B. Verlegungen aus Luftkriegsgründen,
Nahrungsentzug durch Änderung des Haushaltsplans – die möglichst
unauffällige und »reibungslose« Fortsetzung der Kranken- und
Behindertenmorde. Ohne dass er deshalb die Mitverantwortung der
Medizin an den NS-»Euthanasie«-Verbrechen schmälern möchte, gilt
doch für den Autor, »dass Ärzte im Zeitverlauf zunehmend als bloß
noch ausführende Organe der Mordpolitik wirkten, während die
wichtigen Entscheidungen – nämlich welche und wie viele Menschen
ermordet werden sollten – von der Verwaltung ausgingen« (S. 692).
So trugen in den Anstalten nicht Ärzte und Pflegekräfte in erster
Linie die Verantwortung für den Nahrungsmangel, der als gezielte
Mordmethode und nicht als Ergebnis äußerer
Ernährungsschwierigkeiten zu werten ist, sondern die leitenden
Beamten in der Zentrale des Bezirksverbandes sowie die
Verwaltungsbeamten in den jeweiligen Anstalten. Die Untersuchung
zeigt unter der Beamtenschaft auch ein erhebliches Maß an
Anpassung. So kam es nur vereinzelt zu Reibungen, insgesamt aber
herrschte ein pragmatisches Bemühen um eine Fortsetzung der
»korrekten« Verwaltungsführung – unabhängig vom System – vor. Seit
Mitte der 1930er Jahre wurden Schlüsselstellen in der Verwaltung
und in den Anstalten (Juristen, Ärzte) nach Möglichkeit mit
SS-Mitgliedern besetzt. Einige überzeugte Meinungsführer wurden
dabei gestützt durch ein Gros von bereitwilligen Mitwirkenden. Von
daher geschah die ideologische Neuausrichtung der Verwaltung
»überwiegend mit dem bisherigen Personal und nicht gegen dieses«
(S. 694).
Insgesamt betrachtet ist die Studie von Sandner nicht nur ein
wertvoller Beitrag zur hessischen Institutionengeschichte während
des Nationalsozialismus im Besonderen, sondern auch eine starke
Bereicherung der Forschung zur Sozial- und Medizingeschichte im
Allgemeinen.