Rezension zu Unheimlich und verlockend (PDF-E-Book)
www.socialnet.de vom 4. Januar 2019
Rezension von Heinz-Jürgen Voß
Thema
»Unheimlich und verlockend: Zum pädagogischen Umgang mit Sexualität
von Kindern und Jugendlichen« ist ein Sammelband, der sich vor dem
Hintergrund der aktuellen Problematisierungen von sexualisierter
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Fragen danach zuwendet, wie
trotz der gesellschaftlichen Debatten Möglichkeitsräume für Kinder
bzw. Jugendliche erhalten bleiben können, um ihre eigenen sexuellen
Erfahrungen zu machen. Ausgehend von den Theorien Sigmund Freuds
wird dabei die sexuelle Entwicklung im sozialen Kontext betrachtet
und werden pädagogische Ableitungen getroffen.
Herausgeber_innen
Die 2017 verstorbene Annelinde Eggert-Schmid Noerr war Professorin
an der Katholischen Hochschule Mainz und war Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Gruppenanalytikerin.
Joachim Heilmann ist Diplom-Pädagoge, mit Spezialisierung auf
psychoanalytische Pädagogik, zudem ist er Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapeut. Heilmann ist Mitarbeiter einer
therapeutischen Fachstelle in Frankfurt/Main und zweiter
Vorsitzender des »Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische
Pädagogik«.
Ilse Weißert ist Lehrerin im außerschulischen Bereich,
psychoanalytische Pädagogin und Mitglied im Vorstand des
»Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik«.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist als 48. Band der Reihe »Psychoanalytische Pädagogik«
im Psychosozial-Verlag erschienen.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband »Unheimlich und verlockend« setzt sich aus insgesamt
zwölf Beiträgen zusammen, die teils erstmalig erscheinen, teils
Zweitveröffentlichungen darstellen.
Inhalt
Die von den Herausgeber*innen verfasste Einleitung dient zugleich
als programmatische Richtungsbestimmung für den Band. So wird
ausgehend von einer sexuellen Situation zwischen Kindern in einem
Hort das Themenfeld Kindersexualität und gesellschaftlicher Umgang
mit ihr eröffnet: »Im Hort hatten viele Kinder offenbar ihren Spaß
an der Sache gehabt, sie fanden das irgendwie verpönte Thema Sex
›unheimlich verlockend‹, sei es als Reiz des Fantasieerlebens, sei
es als Vehikel der Bloßstellung der Adressatin, sei es als
Provokation der Erwachsenen. Beim Elternabend aber ist die Abwehr
der Erwachsenen groß.« (S. 8) »Kinder und Jugendliche haben nicht
nur einen wachsenden, gesund zu erhaltenden oder sportlich zu
trainierenden Körper, sondern auch einen sexuellen Körper, den sie
erkunden und als Ort der Lust einsetzen« (ebd.), folgern die
Herausgeber*innen, um gerade vor dem Hintergrund von Aufdeckungen
über Jahre stattgefundener sexualisierter Gewalt in verschiedenen
Einrichtungen Ableitungen für die pädagogische Praxis anzuregen. Es
gelte pädagogisch, »einen schützenden Rahmen zu gewährleisten, aber
auch, die sexuelle Neugierde und sexuellen Bestrebungen der Kinder
und Jugendlichen nicht zu ersticken. Mit der Gefahr umzugehen, das
Kind könne zum Opfer werden, ohne in einen falschen Rigorismus zu
verfallen, ist schwer.« (S. 9) Entsprechend soll es im Buch um »das
Schillernde, das Verwirrende der Thematik«, »um das Verlockende der
Sexualität, um das Unheimliche, um die Verbindung zwischen beidem«
(ebd.) und die sich damit ergebenden pädagogischen
Herausforderungen aus Sicht der Psychoanalytischen Pädagogik
gehen.
Der sich anschließende Beitrag von Thilo M. Naumann befasst sich
aus queer-theoretisch geschulter psychoanalytischer Perspektive mit
den geschlechtlichen und sexuellen Zurichtungen, denen Kinder in
der Gesellschaft unterliegen. In einer »heteronormativen«
Gesellschaft, also einer in der die Bezogenheit von Frau und Mann
aufeinander privilegiert und zelebriert wird, würden die
Möglichkeitsräume von Menschen beschränkt – die Psychoanalyse nehme
hier einen ihrer Ausgangspunkte, um die Zugänge zu dem Verdrängten
wieder zu eröffnen. Naumann schreibt: »Die performativen
zweigeschlechtlichen Erfahrungen in der alltäglichen Arbeits- und
Beziehungswelt hinterlassen letztlich auch in der inneren Struktur
und Psychodynamik sowie in den Begehrensformen ihre Spuren. So
führt die heteronormative Kopplung von Zweigeschlechtlichkeit und
Heterosexualität zumeist dazu, dass sich die anfänglich bisexuelle
Orientierung der Menschen über die Verdrängung homosexuellen
Begehrens hin zum heterosexuellen Begehren wandelt.« (S. 24 f.)
Hatte Louis Althusser in Bezug auf das Geschlecht ausgeführt, dass
das Kind bereits vor seiner Geburt als Mädchen oder Junge erwartet
werde, so lassen sich die Ausführungen auch auf das Sexuelle
erweitern. Mit Bezug zu Quindeau und Heenen-Wolff führt Naumann
entsprechend aus: Das »Kind fungiert gleichsam als Container für
die Träume und Traumen seiner Bezugspersonen. Zwar wird es mit
einem biologischen Geschlecht geboren, doch entsteht der
geschlechtliche und sexuelle Körper von Beginn an durch den Blick,
die Sprache und die Handlungen der Erwachsenen, die das Kind auf
seine Weise übersetzt.« (S. 34) In der pädagogischen Praxis prägten
differente Umgangsweisen mit als Mädchen und als Jungen
wahrgenommenen Kindern ihre Möglichkeiten. Entsprechend sieht
Naumann Selbstreflexionsräume in den Aus- und Fortbildungen der
Erwachsenen als wichtigen Schritt an, um Entfaltungsmöglichkeiten
für die Kinder zu eröffnen, denn diese Selbstreflexionsräume
»eröffnen eine vielleicht auch nachholende innere Triangulierung,
eine Versöhnung mit der unweigerlichen geschlechtlichen und
sexuellen Begrenztheit sowie ein Kennenlernen der mitunter
abgespaltenen homo- oder auch heterosexuellen Tendenzen.«
(S. 45)
Im Anschluss an diesen von der Queer Theory inspirierten Beitrag
gibt Ilka Quindeau einen gewohnt nuancierten (vgl. etwa ihren Band
»Sexualität« im selben Verlag) Überblick über die sexuelle
Entwicklung. Dabei beginnt sie beim Säugling und verfolgt die
Entwicklungsschritte bis hin zu den Entwicklungsaufgaben der
Adoleszenz. Damit liefert sie im Band den Einstand für eine Reihe
weiterer Aufsätze, die sich der sexuellen Entwicklung im KiTa-Alter
(Bernd Niedergesäß) und in der Adoleszenz (Marga Günther sowie
Karin Flaake) zuwenden sowie Fragen nach den Möglichkeiten und
Grenzen der Sexualaufklärung stellen (Achim Schröder). Liefern auch
diese Beiträge einen guten Überblick über die sexuellen
Entwicklungsaufgaben in den verschiedenen Altersstufen, so gibt
Niedergesäß auch einen Überblick über die geschichtliche
Entwicklung von Betrachtungen zum Sexuellen in Europa, von der
»Vormoderne«, über die »Moderne«, bis hin zur »Postmoderne«. Diese
Entwicklung grenzt er – an einem Beispiel – gegenüber einem
muslimischen Vater ab, dessen Haltung er als beispielhaft für
»patriarchalisch-islamische[] Gesellschaften« (S. 84) sieht und sie
gegen »unsere Gesellschaft« (S. 85) abgrenzt.
Die darauffolgenden Aufsätze von Svenja Heck, Ursula Pforr & Ulrike
Schaab sowie Birgit Wieland fokussieren auf geistig behinderte
Kinder und Jugendliche bzw. solche mit Lernschwierigkeiten. Die
Autorinnen problematisieren dabei jeweils den gesellschaftlichen
Blick, um sich anschließend den Handlungsoptionen von Fachkräften
zuzuwenden, um die positive und selbstbestimmte geschlechtliche und
sexuelle Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu unterstützen.
Das Problem sei dabei weiterhin: »Nimmt man nun die Sexualität von
Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen Behinderung in den
Blick, scheint man mit einer anhaltenden dreifachen Tabuisierung
konfrontiert. Wenn man erwachsene Menschen mit geistiger
Behinderung ›(…) als verwunderliche, ewige Kinder (ansieht), die
ein Niemandsland bewohnen, in das so etwas wie Sexualität niemals
eindringen wird‹ […], schwingt in dieser Haltung nicht nur eine
Infantilisierung des Personenkreises und eine Abwehr des Themas
Sexualität, sondern ebenfalls eine grundsätzliche Negierung von
kindlicher Sexualität mit, die im Kontext von Behinderung scheinbar
eine weitere Verschärfung erfährt.« (Heck, S. 153)
Final thematisiert Ilse Weißert sexuelle Fragen im Hinblick auf den
Film »Tomboy«, der sich mit Mädchen befasst, »die sich nicht
entsprechend der vorherrschenden Geschlechterrolle präsentieren«
(S. 196); Ulrike Heider greift die aktuelle gesellschaftliche
Gemengelage mit einer erstarkenden AfD auf, um sich in ihrem Essay
dafür auszusprechen, dass neben den Problematisierungen von
sexualisierter Gewalt auch ein positiver Blick auf Sexuelles
möglich bleiben solle.
Diskussion
»Unheimlich und verlockend: Zum pädagogischen Umgang mit Sexualität
von Kindern und Jugendlichen« ist ein differenzierter und
reflektierter Sammelband, der zahlreiche Zugangsweisen zu einem
pädagogischen Umgang mit sexueller Entwicklung eröffnet. Liefern
die ersten Beiträge wichtige Grundlagen, so fokussieren die
weiteren Beiträge einzelne Zielgruppen bzw. einzelne Aspekte.
Besonders hervorzuheben ist das positive Verständnis sexueller
Entwicklung, das in der Einleitung gelegt wird und sich durch den
gesamten Band zieht. Ebenso produktiv werden an Queer Theory
geschulte Perspektiven zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt,
die von Thilo M. Naumann zu Beginn des Buches ausgeführt werden,
auch in weiteren Beiträgen aufgegriffen.
Warum Bernd Niedergesäß für seine, durchaus lesenswerten,
geschichtlichen Ausführungen zu Europa, die mit einigen
pädagogischen Ableitungen verbunden sind, sehr stereotyp »den
Islam« als Projektionsfläche für »das Andere« entwickelt,
erschließt sich nicht. Eine kleine Passage einer Fallskizze, die er
zunächst zurückhaltend beschreibt, in der ein Vater – den
Niedergesäß anschließend als muslimisch kennzeichnet – seine Sorgen
äußert, dass seine Tochter von einem anderen kleinen Jungen in der
KiTa dazu gedrängt wurde, die Unterhose runterzuziehen,
interpretiert der Autor an späterer Stelle so, dass der Vater
»seine Ehre und die der ganzen Familie verletzt« (S. 86) gesehen
habe, obwohl das an keiner Stelle der Fallskizze so benannt ist.
Hier wäre mehr Selbstreflexion der eigenen Position erforderlich,
gerade wenn Niedergesäß diesen Vater, der sein Kind ganz
offensichtlich in eine KiTa in Deutschland bringt, von »unsere[r]
Gesellschaft« (S. 85) abgrenzt…
Fazit
Insgesamt ist der Band lesenswert, führt psychoanalytische
Betrachtungen weiter und eröffnet Interessierten anderer
Disziplinen einen Zugang zu einem positiv-differenzierten
Verständnis von sexueller Entwicklung und zu pädagogischen
Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche.
Rezensent
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Forschungsprofessur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
(gefördert im Rahmen der BMBF-Förderlinie Sexualisierte Gewalt in
pädagogischen Einrichtungen) Hochschule Merseburg FB Soziale
Arbeit. Medien. Kultur
Homepage heinzjuergenvoss.de
Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 04.01.2019 zu: Joachim Heilmann,
Annelind Eggert-Schmid Noerr, Ilse Weißert (Hrsg.): Unheimlich und
verlockend. Zum pädagogischen Umgang mit Sexualität von Kindern und
Jugendlichen. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2017. ISBN
978-3-8379-2719-1. Reihe: Psychoanalytische Pädagogik - Band 48.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
https://www.socialnet.de/rezensionen/25299.php, Datum des Zugriffs
19.03.2019
www.socialnet.de