Rezension zu Freuds Lektüren
Freiburger literaturpsychologische Gespräche
Rezension von Carl Pietzcker
Nicht allen Texten, die Freud gelesen hat, gilt dieser Band,
sondern einigen literarischen, zu denen er sich in Brief,
Interpretation und Kommentar schriftlich äußerte. Beide, jene Texte
und Freuds Äußerungen zu ihnen, konfrontiert der Verfasser und
stellt beide ausführlich dar; er unterzieht sie Analysen, die ins
genau beobachtete Detail führen, interpretiert sie von ihrem
kultur-, literatur- und gesellschaftsgeschichtlichen Ort her und
sucht, noch indem er sichtbar macht, was Freud beachtete und was
nicht, Freuds Perspektiven zu erkunden; dazu gehören seine
Selbstinszenierungen, seine Absichten und Strategien, deren
Voraussetzungen, ja das kulturelle
Feld, in welchem er sich damals bewegte. Das geschieht oft auf kaum
zielgerichteten Wanderungen eines mit stupender Freud- und
Landschaftskenntnis ausgerüsteten Beobachters, der immer wieder
Seitenwege einschlägt, sich auf halb verwischten Spuren
weitertreiben lässt, Umwege geht, lange verharrt, wo für sein
Vorhaben eigentlich wenig zu finden ist und seine mannigfachen
Funde dann zu Hause auch kaum ordnet. Der Leser wird ihm vergnügt
folgen, falls er genügend Zeit im Beutel und Freude am
Weitschweifigen hat und im Übrigen systematisiertes Wissen für
nicht ganz so wichtig hält. Dieser Wanderer ist ein Einzelgänger,
ein Querdenker, ein Gelehrter im guten Sinn, der nicht von einem
System, sondern von Einzelheiten her denkt, hierbei bisher kaum
Beachtetes ins Auge fasst und seine oftmals verblüffenden, mit der
Lupe gewonnenen Ergebnisse nicht nur zuverlässig belegt, sondern
auch prägnant zu formulieren versteht und sich als wahrnehmende,
reflektierende und urteilende Person ungedeckt zu erkennen gibt. Im
Zentrum des Bandes stehen Freuds Lektüren von C. F. Meyers Die
Richterin (Kap. II), Wilhelm Jensens »Gradiva« (Kap. III) und
Arthur Schnitzlers »Die Weissagung« (Kap. IV); gerahmt werden sie
von einem Kapitel über den detektivischen Entzifferer Freud und
seine Nähe zu dem von ihm aufmerksam gelesenen »Sherlock Holmes« am
Anfang (Kap. I) und am Ende dann von einem Kapitel über Canettis
Auseinandersetzung mit Freud (Kap. V), einem Perspektivwechsel hin
zum Blick eines Schriftstellers auf Freud. Das erste Kapitel gilt
vor allem den Entzifferungs- und Darstellungsverfahren des
Kriminalromanlesers Freud und deren Nähe zu denen von Doyles
»Sherlock Holmes«, den er selbst als Vorbild nie genannt hat.
Freud, der, wie der Verfasser betont, in »Das Unheimliche« die
damals aktuellen Schrecken des Krieges, ja die der Moderne, ebenso
ausklammert wie die Darstellung des Unheimlichen im Kino,
entwickelt die Theorie des Unheimlichen an einem literarischen
Text, an E. T. A. Hoffmanns »Sandmann«, und das in einem
detektivischen Verfahren, wie wir es aus den Romanen Doyles, also
aus der Literatur kennen. Er folge den Mustern der ›detective
story‹, beschwöre wie Doyle das Unheimliche und treibe es mit Hilfe
der Ratio wieder aus, konstruiere Rätsel und löse sie, entziffre
Hoffmanns vieldeutige, mit dem Rätselhaften spielende Erzählung und
mache sie eindeutig, immer in der Gewissheit, dass ihr Geheimnis
erschlossen werden könne und dass er es sei, der den Schlüssel
besitze. Hierbei vergisst der Verfasser freilich, dass es Freud gar
nicht darum ging, die Erzählung als ganze zu interpretieren,
sondern darum, an ihr seine These zu demonstrieren. Er kann darüber
hinaus jedoch zeigen, dass Freud seine novellenartigen Fallberichte
analog zu Detektiverzählungen baut: Sie reduzieren die Vielfalt des
Faktischen auf das für ihre Erzählbarkeit Wesentliche,
rekonstruieren den Fall, wie dies zuvor schon der Analytiker hinter
der Couch getan hatte, erstellen also, was Freud bewusst war, eine
Fiktion und führen einen Entschlüsselungsprozess vor mit wissendem
Detektiv, Geständnis und erfolgreichem Ende, das der
außerliterarischen Wirklichkeit oftmals kaum entspreche. Das zweite
Kapitel kreist um Freuds frühen brieflichen Kommentar zu Meyers
»Richterin«. Hierbei nähert es sich seinem schriftlichen Umgang mit
Literatur, der einerseits davon bestimmt sei, dass Freuds Theorie
sich aus literarischen Bildern entwickelte, die wie das
Ödipus-Drama seinen Beobachtungen Gestalt gaben, andererseits
davon, dass Freud den literarischen Text so lese, wie er eine
mündliche Rede seiner Patienten höre, überzeugt von ihrem
Rätselcharakter und seiner eigenen Fähigkeit, das Rätsel zu lösen,
den verborgenen Text also zu entziffern. Die literarische Moderne
dagegen führe ihre Leser als Entschlüssler und Sinnsucher in die
Irre und stelle die Existenz einer wahren Lesart in Frage. Nachdem
er Meyers Novelle ausführlich dargestellt, interpretiert und die
von ihr aufgegriffenen, angespielten und gespiegelten literarischen
Traditionen und zeitgenössischen Texte herausgearbeitet hat, kann
der Verfasser feststellen, dass all dies bei Freud fehlt, der die
Vielzahl der Zeichen eines literarischen Textes und die Polyvalenz
ihrer Bedeutung auf weniges Eindeutige reduziere, sich auf die
Analyse des Protagonisten beschränke, vom Text auf die Geheimnisse
des Autors schließe, dessen Biographie aus ärztlicher Perspektive
als die eines Neurotikers lese und in ihr wiederum den Schlüssel
zum literarischen Text suche. Das trifft auf diesen frühen
brieflichen Kommentar Freuds, aber auch auf manch spätere Äußerung
zur Literatur gewiss zu, bedenkt aber zu wenig deren damalige
Funktionen, Wahrheiten und Potentiale. Das dritte Kapitel gilt
Freuds »Gradiva«-Essay und werkweit seinem von Nähe, Konkurrenz,
Distanzierung, Indienstnahme und Herablassung bestimmten Verhältnis
zu Dichtern und ihrer Dichtung. Freud erkenne die Dichter als
Wegbereiter an, nutze ihre Werke zum Beweis für die Gültigkeit
seiner Theoreme und erhebe den Psychoanalytiker, der als
Wissenschaftler mühsamer Arbeit verpflichtet sei, über den Dichter,
dem sein Wissen vom Unbewussten durch Intuition zufliege. Im
Vergleich von Jensens »Gradiva« und Freuds Essay betont der
Verfasser, dass Freud Jensens Novelle noch einmal erzähle, sie in
Konkurrenz zum Dichter durch eine neue ersetze und hierbei die
katastrophische Bedrohung, Hanolds Selbstheilung, den Erzähler,
ganz allgemein die Form, die Traditionslinien des Textes und die
literarische Kreativität des Autors ausklammere. Freud zentriere
sein selektives Interesse auf Hanold und Zoe, die gegen den Text
zur Heilenden, zur Botschafterin der neuen Wissenschaft,
schließlich zur vielfach reproduzierten gipsernen Muse der
Psychoanalyse werde. Freuds Interpretation sei es nicht um die
Suche nach Unbekanntem gegangen, sondern um die Bestätigung dessen,
was er bereits wusste.
Das vierte Kapitel geht aus von Freuds Bemerkung, er habe »Groll
über die versuchte Täuschung (...) nach der Lektüre von Schnitzlers
Erzählung »Die Weissagung« verspürt« und untersucht von hier aus
Freuds Verhältnis zu Schnitzler und den Dichtern und allgemeiner
das zu Ästhetizismus und Antisemitismus. Der Weg durchs Labyrinth
dieses Kapitels beginnt mit der Darstellung jener Erzählung, in
welcher der jüdische Zauberkünstler Marco Polo den Offizier von
Umprecht halluzinatorisch das Bild seines in zehn Jahren
eintreffenden Todes sehen lässt, zu dem es dann so auch kommt. Der
Weg führt über die an der Novelle zu beobachtende ironische
Brechung des Ästhetizismus und über Schnitzlers Wahrnehmungszweifel
hin zur Dominanz des Bildes bei diesem faszinierten Kinogänger,
dessen filmischem Blick sich der Novellenschluss verdanke. Er führt
weiter zum Juden Marco Polo, zum Antisemitismus von Umprechts und
anderer Figuren, mit dem Schnitzler vermutlich den Antisemitismus
seiner Gegenwart beschreibe; weiter zur Geschichte des
österreichischen Antisemitismus, von da zu Freuds und Schnitzlers
Lieblingsschriftsteller E.T.A. Hoffmann und zu beider Interesse an
Wahrsagung, was den Verfasser vermuten lässt, Marco Polo gerate wie
auch sein Autor für Freud in die Rolle des Scharlatans. Weiter
führt der Weg zu einer von Freuds Reaktionen auf den
Antisemitismus, zu seiner Identifikation mit Hannibal, an den ihn
Marco Polo erinnert haben könnte, und weiter zu Freuds
psychoanalytischer Übersetzung von Bildern in Sprache, mit welcher
er an der Linearität des Erzählens, also an einer ästhetischen
Position der Vormoderne festhalte, während Schnitzler die
Entzifferbarkeit von Bildern bestreite. Der Weg endet bei der Nähe
dieser beiden doppelgängerscheuen jüdischen Wiener Ärzte und Freuds
berühmtem Geburtstagsbrief, in dem Freud mehr den Kollegen als den
Dichter lobe. Wer diesen Weg, der allenfalls vermutend zum
Ausgangsproblem zurückkehrt, mitgewandert ist, konnte Ausblicke auf
Anregendes, auf Neues und auf längst Bekanntes genießen; eine
Wanderkarte hätte ihm jedoch gut getan und hier und da ein
Wegweiser auch. Das übersichtliche fünfte und letzte Kapitel gilt
Canettis Auseinandersetzung mit Freud, einem zumeist verborgenen
Dialog, in dem Canetti mit Freud konkurrierende Bilder der Masse,
des Unbewussten sowie des Dichters entworfen habe. Der Dichter,
anders als bei Freud kein der Welt abhanden gekommener Neurotiker,
sei der Welt verfallen, ihr Retter und Erlöser. Die Masse habe
Canetti um sich und in sich erfahren, er habe dem Unbekannten
nachgespürt, ihre Spontaneität, Offenheit und Führerlosigkeit
betont, während Freud, dem er Erfahrungsmangel vorwarf, sie aus
Büchern und nach dem, was er aus seinen Individualanalysen schon
wusste, aus der Ferne nach dem Modell geschlossener hierarchischer
Institutionen, des Heers und der Kirche, rekonstruiert habe. Freuds
Todestrieb habe Canetti, der diesen, ohne ihn zu nennen, um- und
fortschrieb, den Tötungstrieb des Machthabers entgegengesetzt, und
die Psychoanalyse als ganze habe er als geschlossenes
pseudoreligiöses System kritisiert, das den Stempel der Macht trage
und über individuelle Differenzen hinweggehe. Hinter Canettis
Versuchen, Freud auszugrenzen sieht der Verfasser freilich Spuren
des heimlichen Dialogs, den er mit Freud führte, ja eine Nähe zu
ihm. Diese Nähe und die Befreiung aus ihr, das zeige sich dem
psychoanalytischen Blick, sei für Canetti verbunden mit der Nähe zu
seiner Mutter und der Befreiung von ihr: Canetti habe im Widerstand
gegen Freuds Werk um seine intellektuelle Selbständigkeit gerungen.
In der »Blendung« habe er Freud mit dem reduktionistischen
Entzifferer Kien ein karikierendes Denkmal gesetzt. Doch Kien trage
auch Canettis eigene Züge. Der Band versammelt die Früchte einer
Jahrzehnte währenden intensiven Beschäftigung mit Freud. Der
Verfasser fragt allermeist nicht nach Richtig oder Falsch, sondern
sucht Verfahren zu beschreiben und darüber hinaus das Netz all der
Fakten und Vorstellungen ans Licht zu heben, die zu Freuds Lektüren
beitrugen. Das gelingt ihm dort, wo er Einzelheiten nicht
übergewichtet, Kritik nicht in Misstrauen umschlagen lässt und
keinen Sack modernen Bildungswissens in den Text schüttet. Da lesen
wir mit Gewinn von Freud als einem lebendigen Menschen seiner
Zeit.