Rezension zu Pädophilie (PDF-E-Book)
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Rezension von Gernot Hahn
Thema
Der bereits 2001 erschienene italienische Originaltitel »Pedofilia
Pedofilie« liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Schinaia nähert
sich dem Phänomen Pädophilie aus psychoanalytischer Perspektive auf
gleichermaßen klinischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wegen.
Behandelt werden dabei zahlreiche klinische Fälle, aber auch
pädophile Tendenzen in Märchen, Sagen und Romanen. Dem Autor ist
dabei eine differenzierte Betrachtung der Pädophilie wichtig, vor
allem die unterschiedlichen Erscheinungsformen zu erkennen, um eine
erfolgreiche psychotherapeutische Behandlung durchführen zu können
und so pädophil motivierte Taten zu verhindern.
Autor
Cosimo Schinaia ist niedergelassener Psychoanalytiker und
Psychiater, langjähriger Direktor des Zentrums für seelische
Gesundheit in Genua. Er arbeitet zudem als Lehranalytiker und
Supervisor der italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft.
Aufbau und Inhalt
Das Buch beinhaltet neben einem Vorwort von Angelika
Ebrecht-Laermann elf Kapitel, welche auf soziale, kulturelle und
historische Aspekte der Pädophilie eingehen,
medizinisch-psychiatrische Konzepte erfassen und ein
psychoanalytisches Konzept der Pädophilie formulieren. Weitere
Beiträge fokussieren auf die Persönlichkeit des Pädophilen in
Romanen, die pädophile Beziehung, zwei Fallgeschichten und eine
Arbeitsgruppe von psychotherapeutisch tätigen, welche sich mit der
Behandlung pädophiler Menschen beschäftigen.
Soziale und kulturelle Aspekte der Pädophilie. Die Rolle der
Massenmedien, allen voran das Internet und die dort zur Schau
gestellte Sexualität und Gewalt, die phylogenetisch bedingte
Ansprechbarkeit Erwachsener in Bezug auf das als hilflos und
schutzbedürftig wahrgenommene Kind (Kindchenschema), der Diskurs
zur Pädophilie bei Michel Foucault (der für die Straffreiheit einer
von ihm als »milde« postulierten »freiwilligen« Pädosexualität
eintrat, der Roman »La petite Roche« von de Maupassant aus den
1880er Jahren in dem der Bürgermeister ein Mädchen vergewaltigt und
tötet und sich schließlich selbst das Leben nimmt, die Vermarktung
kindlicher Sexualität als Ware, die Berichterstattung der
Massenmedien über Missbrauch und Mord an Kindern – die Quellen die
Schinaia heranzieht sind vielgestaltig. Er belegt, dass die
kulturellen und sozialen Zusammenhänge und die gesellschaftliche
Rahmung der Pädophilie auf vielen Ebenen angelegt sind und die
Öffentlichkeit über Jahrhunderte hinweg beschäftigt haben. Über den
Umstand einer massenmedialen Inszenierung ist das Thema einerseits
verfügbarer geworden, was auch belegt, dass die pädophile Thematik
weiterhin bzw. stärker zur modernen Gesellschaft gehört. »Die
gesellschaftliche Organisation der Pädophilie und ihr Anspruch auf
Sichtbarkeit (im Gegensatz zur früheren Anonymität und
Geheimhaltung der Perversionen) sind in unserer Zeit neue
Phänomene« (66). Letztlich fordert Schinaia verstärkte und neue
Ansätze in Recht, Politik und Wissenschaft um die »die Individuen
und das Gemeinwesen zu schützen« (66).
Mythos und Pädophilie. Mythen betrachtet Schinaia als »blinde
Manifestationen eines kollektiven Unbewussten« (70), sie seien der
»Versuch … Antworten auf die großen Fragen nach dem Ursprung zu
finden« (ebd.). In erzählerischer Form tauchen mythenhafte Motive
in Märchen auf, wo sie fiktional überhöht werden um den Kern
gesellschaftlicher und individueller Konflikte zu beleuchten. In
der klassischen Mythologie und in den Märchen tauchen Kinder und
die pädophile Thematik auf: Zeus und Ganymed, Laios und Chrysippe,
Herakles und Abderos. Sie sind Beispiel für emotionale und
erotische/sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern,
meist mit dramatischer Zuspitzung, Konflikt und Tod und sie
scheinen die besonderen Beziehungsebenen zwischen Erwachsenen und
Kindern, innerhalb und außerhalb von Familien zu belegen.
Märchen und pädophile Phantasien. »Der Ursprung der Neurosen liegt
in einer traumatischen sexuellen Erfahrung der Frühzeit. Die wird
abgelöst von einer erfolgreichen Abwehrphase und dann von einer
Wiederkehr des Verdrängten nach der Pubertät mit der Herausbildung
von Krankheitssymptomen. … Darüber hinaus handelt die gesamte
Neurosenlehre, die Freud vielleicht deshalb als Märchen bezeichnet,
weil er sie als phantasierte und gewagte Form der Erzählung
präsentiert, von dem normalerweise in Märchen enthaltenen Material:
dem Ursprung von Traumen und Konflikten (zunächst und vor allem von
pädophilen Konflikten) sowie dem zur Konfrontation mit ihnen und zu
ihrer Überwindung zurückgelegten Weg, der das Risiko birgt, ihnen
zu erliegen« (98f). In diesem Kontext stellt Schinaia dann eine
Reihe klassischer Märchen und Erzählungen vor (Die Eselshaut,
Rotkäppchen) und arbeitet jeweils pädophile oder pädophil anmutende
Anteile dieser Geschichten heraus, so (sehr knapp) auch die
weibliche Form der Pädophilie, das Phänomen des »sich
Einverleibens« (»Orale Einverleibung« als Durchdrungen-Seins durch
einen anderen und dessen Lust) und eben die Rollenverschiebung
»Guter« Erwachsener (z.B. die Großmutter) mit schützenden und
förderlichen Anteilen hin zu »Bösen« Wesen (der Wolf) mit eindeutig
anderen Interessen.
Geschichte der Pädophilie. Anknüpfend an die Epoche der klassischen
Antike, das Mittelalter und das ausgehende 19. Jahrhundert zeigt
Schinaia, dass Pädophilie und sexueller Missbrauch ein stets
beobachtbares Phänomen ist, dass allerdings nie die breite
Zustimmung der Gesellschaft erfahren hat, auch wenn teilweise eine
partiell informelle Akzeptanz unterstellt werden kann. Das
Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern wurde/wird immer auch
im Kontext von Machtverhältnissen und (struktureller) Gewalt
gesehen.
Pädophilie in Medizin und Psychiatrie. Das Kapitel erfasst die
Entwicklung der medizinischen Auseinandersetzung mit der Pädophilie
seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, den frühen Arbeiten, v.a. dem
Beitrag von Krafft-Ebing (der verschiedene Formen der Pädophilie
beschrieb) und den frühen Einordnungsversuchen der Psychiatrie
(Kraepelin, Bleuler), welche pädophiles Geschehen eher im Kontext
anderer psychiatrischer Störungen (Epilepsie, »Dementia senilis«)
verorteten. Erst ab den 1940er/50er Jahren erfolgte eine verstärkte
Auseinandersetzung mit der Thematik und die Kategorienbildung der
Paraphilien, unter die dann auch die Pädophilie zugeordnet wurde,
bis hin zu den gegenwärtigen Klassifikationen in DSM V und ICD
10.
Psychoanalyse und Pädophilie. Im Denkgebäude der Psychoanalyse wird
die Pädophilie den Theorien über Perversionen zugeordnet, wobei die
Beschäftigung mit Pädophilie (unter dem begrifflichen Konstrukt)
eher die Ausnahme darstellt. Perversionen stehen hier im
Zusammenhang mit erlittenen Traumata und den hiermit in
Zusammenhang stehenden ungelösten Konflikten, verzögerter
emotionaler Entwicklung und der Wiederholung von Versuchen der
Bewältigung in Form einer destruktiven Aggressivität. Neben der
frühen Konzeption der Perversion (Freud) werden die
Differenzierungsversuche Kernbergs dargestellt, der drei
unterschiedlich stark ausgeprägte Störungsgruppen beschreibt.
Pädophilie in Romanen. Pädophilie, pädophile Menschen, ihre
Verhaltensweisen und Persönlichkeiten sind Stoff in Märchen und
Romanen. Einige dieser Typologien werden anhand Thomas Manns
Novelle »Der Tod in Venedig«, Nabukows »Lolita«, Dostojewskis »Die
Dämonen« oder Allendes »Verdorbenes Kind« dargestellt und ihrer
literarischen, psychologischen und gesellschaftlichen Dimension
erfasst. Alle geschilderten Falltypen fasst Schinaia folgender
Maßen zusammen: »Auf jeden Fall ist das Vertrauen des Kindes zu
Erwachsenen untergraben, und der Schaden an seiner gesamten
emotionalen Welt bleibt irreparabel« (219).
Die pädophile Beziehung. »Die pädophile Beziehung ist asymmetrisch«
(225). Ausgehend von diesem Befund beschreibt Schinaia die
vorzufindenden manipulativen, von Kenntnis der kindlichen Welt
geprägten Verhaltensweisen in pädophilen Kontakten. Dabei gehe es
um die Wiederholung des immer gleichen, das Ausleben der sexuellen
Erregung in der Rolle des Stärkeren, wobei das konkrete Kind als
Person keine besondere Rolle spielt, sondern eben dessen Unreife
und Unterlegenheit. Beispiele für diese Facette pädophiler
Beziehungsgestaltung bezieht Schinaia wiederum aus der Belletristik
und nicht aus dem klinischen Alltag. Hinsichtlich der
Familienstrukturen in denen pädophile Menschen aufwuchsen und leben
deutet Schinaia auf dort vorhandene intergenerationale
Missbrauchsthemen hin und auf besondere sozialisationstheoretische
Zusammenhänge, insbesondere eine Störung der elterlichen
Kommunikation, sowie Bindungsaspekte. Etwas ausführlicher wird über
den Opfer-Täter-Opfer-Kreislauf geschrieben, hier insbesondere die
Bedeutung selbst erlebter und nicht bewältigter traumatischer
Erfahrungen. Hinsichtlich der therapeutischen Beziehung zwischen
pädophilem Patient und Analytiker wird darauf verwiesen, dass ein
Verständnis der hinter dem Symptom Pädophilie liegenden
Beschädigung bzw. Störung notwendig ist, ohne dass eine
Überidentifikation mit den Opfern der Pädophilie erfolgen solle.
Vielmehr käme es – im psychoanalytischen Sinne des Erinnerns und
Durcharbeitens – um die Überwindung der erlittenen Traumata (des
Pädophilen) in der Therapie, also die Reaktualisierung verdrängter
Anteile und deren Überwindung. Daneben findet sich eine Reihe
weiterer ungünstiger Übertragungs-Gegenübertragungsmechanismen,
welche z.T. durch Beispiele unterlegt werden.
Fälle von pädophiler Perversion und Perversität. Kapitel neun und
zehn beschreiben im Rahmen zweier ausführlicher psychoanalytischer
Fallvignetten die Konstruktion des theoretischen Modells der
Perversion und Perversität (hier unter pädophiler Symptombildung),
wodurch die zu Grunde liegenden Theorien, Beziehungsaspekte und
einige Hinweise zum Behandlungsfortgang erschlossen werden
können.
Arbeitsgruppe. Im abschließenden elften Kapitel wird Einblick in
eine Intervisionsgruppe psychoanalytisch tätiger Therapeuten und
deren Erfahrungen in der Behandlung pädophiler Patienten gegeben.
Neben therapeutisch-methodischen Aspekten werden vor allem auch
Merkmale der soziokulturellen Rahmung der Pädophilie (Märchen,
Romane, Filme) dargestellt und die (z.T. von starker Dynamik
geprägte) Entwicklung der thematischen Arbeitsgruppe erörtert.
Zielgruppe
Alle an der Thematik Pädophilie interessierten Berufsgruppen, die
sich mit der psychoanalytischen Perspektive auseinandersetzen
möchten.
Diskussion
Seitens der Psychoanalyse herrschte lange eine gewisse
Zurückhaltung in Bezug auf die pädophile Thematik. Pädophilie geht
traditionell ein in die Theorien der Perversion, wird als perverse
Symptombildung verstanden und in diesem Kontext ohne weitere
therapeutisch-methodische Spezialisierung behandelt. Schinaia
zeichnet diesen Weg der Theoriebildung anhand zahlreicher
klinischer Fälle nach, aber auch mittels kultureller Beispiele aus
der literarischen Welt, wodurch die soziokulturelle Rahmung der
Pädophilie und »des Pädophilen« erkennbar wird. Erstaunlich
erscheint dabei, dass dem Umstand der Tabuisierung der Pädophilie
wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird und auch der Umstand der
Projektion (unbewusster gesellschaftlicher Anteile) auf die Person
»des Pädophilen« eher am Rande gestreift wird. Die Quellen auf die
sich Schinaia bezieht stammen aus den Bereichen Film und
Belletristik. Neuere (massen)mediale Phänomene und der aktuelle
öffentliche Diskurs um Pädophilie (auch im Kontext jüngerer
rechtlicher Änderungen) fehlen. Dies liegt v.a. daran, dass es sich
bei der vorliegenden Publikation um die deutsche Übersetzung des
bereits 2001 veröffentlichen italienischen Originaltitels handelt,
der eben nicht entsprechend inhaltlich überarbeitet und ergänzt
wurde. Entsprechend fehlen auch differenzierte Aussagen zur
weiblichen Pädophilie.
Insgesamt nähert sich Schinaia mit psychoanalytischer
Differenziertheit und Tiefe der Pädophilie und den Pädophilen, mit
therapeutischer Offenheit und sozial-kultureller Sensibilität. Das
führt insgesamt zu einer Versachlichung der Thematik. Indem die
psychoanalytische Konzeptualisierung der Perversion Pädophilie ein
dahinter stehendes Trauma vermutet, werden betroffene Pädophile als
leidende Wesen begriffen, denen Hilfe und Behandlung zusteht,
wodurch ein wichtiger Beitrag zur Entdämonisierung dieser Gruppe
von Patienten geleistet wird. Allerdings ist hier anzumerken, dass
ein umfassender empirischer Beleg für diese Entstehungstheorie
jenseits einzelner Fallvignetten bislang – auch seitens der
Psychoanalyse – nicht erbracht wurde.
Fazit
Der Band schließt eine Lücke, indem er eine Verbindung zwischen
kulturellen, klinischen und theoretischen Aspekten herzustellen
versucht. Neben klinischen Beispielen, den historischen und
kulturellen Wurzeln und Ausdrucksformen pädophiler Thematik
erschließt der Band auch Grundzüge psychoanalytischer Behandlung
und Gestaltung der Therapeuten-Klienten-Beziehung und leistet so
einen wichtigen Beitrag für die Weiterentwicklung der Therapie
pädophiler Menschen, auch unter dem Aspekt der
Deliktvermeidung.
Rezensent
Dr. phil. Gernot Hahn
Dipl. Sozialpädagoge (Univ.), Sozialtherapeut
Klinikum am Europakanal Erlangen Forensische Ambulanz
Homepage www.gernot-hahn.de
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 18.12.2018 zu: Cosimo Schinaia, Klaus
Laermann: Pädophilie. Eine psychoanalytische Untersuchung.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN 978-3-8379-2734-4. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
https://www.socialnet.de/rezensionen/23879.php, Datum des Zugriffs
31.01.2019.
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