Rezension zu Filmpsychoanalyse
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Rezension von Michael Christopher
Andreas Hamburger: Filmpsychoanalyse
Thema
Von seinem Status als ein mit Naserümpfen betrachtetes
Kirmesspektakel ist der Film seit bald schon neunzig Jahren (teil-)
befreit, auch wenn er seitdem noch immer Grabenkämpfe zwischen der
Betrachtung Film als Kunst oder Film als einfache Unterhaltung
aushalten muss. Nichtsdestotrotz ist der Film ein Kulturgut und in
viele Lebensbereiche der Gesellschaft eingedrungen. So gibt es auch
von vielen Seiten Versuche, den Film als solches und seine Wirkung
zu deuten. Gesammelt wurden diese in den unterschiedlichen Ansätzen
der Filmtheorie. Doch darüber hinaus nähern sich auch fachfremde
wissenschaftliche Disziplinen Filmen auf ihre ganz eigene Weise, so
wie die Soziologie, die Pädagogik oder hier, die Psychologie.
Autor
Andreas Hamburger ist Professor für Klinische Psychologie an der
privaten Hochschule Internationale Psychoanalytische Universität in
Berlin, die ihren Fokus auf die Ausbildung von psychoanalytisch
ausgebildeten Psychologen gelegt hat.
Aufbau
Das Buch ist in vier Kapitel, eingerahmt von einer Einleitung und
einer Abschlussbetrachtung, aufgeteilt. Diese Kapitel sind wiederum
kleinteilig in viele Unterüberschriften gegliedert. Begleitet wird
der Text von einem umfangreichen Literaturverzeichnis sowie einem
Personen-, einem Film- und einem Sachregister.
Inhalt
Natural Born Viewers – Zur Psychoanalyse der Spielfilmerfahrung
Im ersten Kapitel zeichnet Hamburger die zeitgleichen Anfänge von
Film und Psychoanalyse nach, die beide gegen Ende des 19.
Jahrhunderts die ersten Spuren in der Zeitgeschichte hinterlassen
hatten. Dabei zeigt der Autor auch die Antipathie Freuds gegenüber
dem neuen Medium, mit der er sich damals in bester Gesellschaft
anderer bürgerlicher Gebildeter befand. Den Versuchen der
Annäherung des Filmes an die Themen der Psychoanalyse stand Freud
ablehnend gegenüber, da das Medium Film die Illusion statt die
Aufklärung befeuere. Hamburger fegt den gerne bemühten Vergleich
von Traum und Film mit vom Tisch, da der Traum per se etwas
Flüchtiges sei. Im letzten Abschnitt des Kapitels spricht er die
Theorien des Embodiments an und kommt auf Laura Mulvey, Vivian
Sobchack und die Ideen der Frankfurter Schule zu sprechen.
Freud in Wonderland – Wege durch den Bilderwald
Im ersten Abschnitt des Kapitels erläutert Hamburger die sieben
psychoanalytischen Zugänge zum Film nach Glen Gabbard:
• Erläuterung zugrunde liegender kultureller Mythen
• Benennung der reflektierenden Subjektivität des Filmemachers
• Benennung der universalen Entwicklungsmomente und -krisen im
Film
• Anwendung der Theorie der Traumarbeit
• Analyse der Zuschauerreaktion
• Darlegung der aufgegriffenen psychoanalytischen Konstrukte im
Film
• Analyse der Filmfiguren
Andreas Hamburger sieht diese Ansätze für eine Filmpsychoanalyse
teilweise kritisch und fragt sich nach dem Nutzen, z.B. Filmfiguren
wie Patienten zu sehen. Vielmehr kann aber das subjektive Erfahren
eines Filmes in Verbindung der Kenntnis der filmischen Mittel
gedeutet und als Arbeitshilfe genutzt werden.
Dabei geht er in seinem Verständnis der Filmpsychoanalyse vom
Zuschauer aus und versteht diese, angelehnt an die Methode der
Kulturanalyse von Alfred Lorenz folgendermaßen:
• Die Psychoanalyse von Kunstwerken könne sich nicht an der
Projektion der Neurosenlehre erschöpfen.
• Sie beruhe auf dem wiederholten Studium eines Films durch einen
Interpreten (d.h. nicht aus der Interaktion zweier Personen).
• Der Therapeut muss sich ebenfalls in diese Szenen einfühlen und
nutzt die eigene Befindlichkeit um den unbewussten Gehalt zu
verstehen.
• Das Ziel sei, dass das Kunstwerk helfen solle, sich selber zu
verstehen
Danach schildert der Autor praktische Schritte bei der
psychoanalytischen Filmanalyse (Auswahl des Filmes, Sichtung,
selbstanalytische Arbeit am spezifischen Film, Analyse der
filmischen Mittel, Arbeit mit dem Publikum).
Filmpraxis
Hamburger betrachtet zuerst den Themenkomplex zu Genre und spricht
über die Zuschauererwartung, verweist auf Freuds Verlinkung von
Witz zum Unterbewussten, betrachtet bei Agententhriller wie James
Bond die Männlichkeitskonstruktionen zwischen Staatsdiener und
Outlaw und das Spiel mit dem Genre.
Danach widmet er sich der Filmerzählung. Er versucht sich dem
Drehbuch über fiktive Drehbuchautoren im Film zu nähern, blickt auf
die Dramaturgie und die Konstellation der Figuren sowie der
Erzählung, der Figurenentfaltung und der Mentalisierung mit ihnen.
Er kommt auf den Aspekt des Traumes zurück und schaut erneut auf
die Erwartungen des Publikums.
Im dritten Teil des Kapitels blickt der Autor auf die Filmästhetik
und verbindet diese mit psychoanalytischen Gedanken. Er beginnt bei
der Fotografie, betrachtet die Metapher des Spiegels, blickt auf
Kadrierung, Aufnahmeort (Innen/ Außen), Licht, Einstellungsgrößen,
Schärfe und Kamerabewegung. Er beschreibt tiefgreifend die
Zeitdramaturgie, mit dem Filmschnitt und dem Bewegungsbild nach
Gilles Deleuze. Danach widmet sich Hamburger dem Raum des Kinos,
den er, ganz klassisch, als dunklen Raum bezeichne, in dem sich der
Film erst entfalte. Er widmet sich intensiv dem Publikum und seiner
Erfahrung im Kino.
Nachdem der Autor sich an der (psychoanalytischen) Filmtheorie für
seine Schilderungen bedient hat, grenzt er sich sogleich von ihr ab
und erhebt sich über sie mit seinem Ansatz, den Zuschauer direkter
zu betrachten
Filmtheorie und Psychoanalyse
Im vierten Kapitel wendet sich Andreas Hamburger erneut den
Filmtheorien zu. Er nimmt sich zwei Begriffe hervor und stellt
Interaktion und Leiblichkeit als zentrale Punkte seines
Verständnisses heraus. Film werde vom Filmpsychoanalytiker als
Kunstwerk angesehen und dementsprechend analysiert. Er kritisiert
dabei direkt Theoretiker, die Filme dazu nutzen würden, lediglich
ihre eigenen Ideen zu illustrieren (256f). In diesem Kapitel nahm
sich der Autor vor, sich den Theorien zu widmen, die in den voran
gegangenen Kapiteln keinen Platz gefunden hatten und sich mit der
Körperlichkeit und dem Traum beschäftigen. Er beschreibt die
Semiotik und die Lacansche Schule, bevor er seine Ideen zu
Filmmetaphern darlegt. Er betrachtet Männer-und Frauenbilder und
deren Rezeption bevor er sich erneut Jacques Lacan widmet und
intensiv die Ideen von Slavoj Žižek kritisiert. Er kommt daraufhin
wieder zu den filmästhetischen Zeitaspekten zurück und folgt der
Verführungskraft des narrativen Kinos.
Und die Moral von der Geschichte
Im letzten kurzen Kapitel fasst der Autor knapp seinen Ansatz
zusammen und blickt auf das Moralische von Film und
Psychoanalyse.
Diskussion
Andreas Hamburger sieht in der Filmpsychoanalyse einen
therapeutischen Auftrag. Dieser richte sich an den Zuschauer, dem
mithilfe des Filmes Zugang zu verschütteten Erfahrungen ermöglicht
werden könne. Von daher geht es dem Autor nicht zu aller erst um
Interpretationen von Filmen, sondern um die therapeutische Arbeit
mit Filmen. Natürlich gehört dazu, den Film zu verstehen. Hier
zeigt er verschiedene Punkte auf, die dem Fachmann einen
psychoanalytischen Zugang zu Filmen ermöglichen. Hamburger grenzt
die Filmpsychologie von der Filmwissenschaft ab (vgl. 50). Beide
hätten unterschiedliche Ansätze u.a. im Umgang mit Bedeutungen.
Dennoch nutzt er die theoretischen Konstrukte der Filmwissenschaft
um in die Tiefen des Filmes vorzudringen und die für ihn wertvollen
Fragen/ Antworten für sich nutzbar zu machen.
Die klassische Sichtweise auf das Kino als Raum der filmischen
Rezeption (vgl. 235) ist eine ideelle Betrachtung. Unlängst hat
sich der Film aus dem Raum des Kinos verabschiedet und kurz eine
allgegenwärtige Präsenz zu Hause und Unterwegs eingenommen, die dem
Medium Film natürlich nie gerecht werden konnte. Der Film wurde
beiläufig, besonders wenn er auf Tablets in Zügen oder auf der
Rückwand von Flugzeugsesseln betrachtet wurde. Mittlerweile drängt
sich die Serie statt des Films in den Mittelpunkt des
Alltagserlebens, da die Serie sowohl länger als auch kürzer zu
konsumieren ist. Mit acht bis zu zwölf Episoden sind häufig 45
minütige (bei Sitcoms 25 bei mehr Episoden) Produktionen insgesamt
sechs bis zehn Stunden dauernd und das pro Staffel. Auch das
Online-Spiel rückt immer stärker in den Mittelpunkt der medialen
Aufmerksamkeit des Zuschauers. Mit dem Bedeutungsumschwung müsste
sich eventuell das Feld der Filmpsychoanalyse in eine
Medienpsychoanalyse weiten, sollte es manchen Patienten gerecht
werden. Die Stärke des Filmes ist aber immer noch das intensive
Auseinandersetzen im dunklen Kinosaal, in dem eine Ich-Fokussierung
unlängst einfacher ist, als Medien es in der Alltagswelt zu
schaffen in der Lage sind. Auf diese Stärke des Films legt der
Autor seinen Fokus.
Immer wieder taucht Hamburger tief in filmtheoretische Aspekte ein,
nutzt diese zur Beschreibung von Film und Filmerleben, lobt diese
für die möglichen Ansatzpunkte des Filmverstehens, um darauf hin
sich über diese zu stellen: „Von diesen und anderen
psychoanalytisch inspirierten Ansätzen aus der Lacan-Schule […]
hebt sich die hier vertretende psychoanalytische Lektüre […] ab,
…“. Dieser professorale Ton wirkt an vielen Stellen überheblich und
störend. Seine Schüler werden ihm folgen, andere aber nicht
überzeugt sein, auch wenn die Ansätze Hamburgers interessant
erscheinen.
Die Arbeit eines Filmpsychoanalytikers sehe er als Analyst eines
Kunstwerkes – wobei das Gros der Filme nur schwer mit Kunst zu
beschreiben ist. Andere Theoretiker nutzten, seiner Ansicht nach,
Filme nur als Beleg für ihre Theorien, während sich der Autor
selber dem Wesen des Filmes an sich widme. Dabei fällt der
Unterschied zwischen dem Umgang des Autors mit Filmbeispielen und
dem der Kritisierten im Grunde nicht auf. Die Filmbeispiele
verweisen stets auf das von ihm Geschriebene.
Verstärkt wird der Eindruck des Professoralen durch die starke
Referenz auf das Ich des Autors. Thomas Elsaesser sagte einmal in
einem filmwissenschaftlichen Seminar, er möchte in einer von den
Studenten zu schreibenden Hausarbeit keine Referenz auf seine
eigenen Werke sehen, denn seine Gedanken seien ihm schließlich
bereits bekannt. Dieser Gedanke kam dem Rezensenten ungleich auf,
als er im Literaturverzeichnis 41 Einträge des Autors auf eigene
Aufsätze zählte.
Die Abarbeitung an den filmanalytischen Ideen von Slavoj Žižek war
eigentlich unnötig und stört den Anspruch des Buches. Man kann von
den populärwissenschaftlichen Schilderungen von Žižek halten was
man will und ja, er versucht aus den Ideen der Psychoanalyse für
ihn interessante Aspekte zu ziehen, aber man sollte sich davon
beileibe nicht kränken lassen.
Neben dem ausufernden Charakter des Buches verliert es in seiner
Erzählung an Struktur, greift Ideen später immer wieder als Reprise
auf, so in dem Ton, »ach, da hätte ich noch etwas …«.
Fazit
Als der Rezensent dieses Buch vorgeschlagen bekommen hatte, dachte
er – als Filmwissenschaftler –, dass dieses Buch primär von der
psychoanalytischen Filmtheorie handle. Dies ist aber nur sekundär
der Fall. Das Buch ist eher an psychoanalytisch orientierte
Psychologen gerichtet. Die Termini und Ideen sind diesbezüglich
sehr fachspezifisch. Diese Aspekte des Textes von Andreas Hamburger
sind für die Filmpsychoanalyse mit Sicherheit von großem Wert. Der
Text ist sehr fundiert, wenn auch an vielen Ecken zu ausschweifend,
geschrieben. Der Autor streut seine Kenntnisse über Theorien und
Filme in einem allwissenden Duktus ein, was je nach bevorzugtem
Lesen erhellend oder auch störend aufgenommen werden kann. Es liegt
kein psychologisches Manual vor, sondern eine grundlegende Debatte
über Film und Psychoanalyse, die sich häufig dem Film widmet aber
auch den psychoanalytischen Ideen viel Raum einräumt.
Das Buch ist für alle Leser, die sich dem psychoanalytischen
Universum zugehörig fühlen, sehr zur Lektüre ans Herz zu legen.
Darüber hinaus aber auch nicht.
Rezensent
Michael Christopher
Filmwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift
manycinemas
Zitiervorschlag
Michael Christopher. Rezension vom 28.11.2018 zu: Andreas
Hamburger: Filmpsychoanalyse. Das Unbewusste im Kino – das Kino im
Unbewussten. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN
978-3-8379-2673-6. Reihe: Imago. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24443.php, Datum
des Zugriffs 06.12.2018.
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