Rezension zu Lob der Scham (PDF-E-Book)
Tagesanzeiger am Samstag 7. Juli 2018
Rezension von Michael Meier
Sich zu schämen, tut gut
Der Zürcher Psychiater Daniel Hell lobt die Scham: Sie sei ein
Sensor für Gefahr, Menschen könnten an ihr reifen
Demut, Mitleid und Scham sind heute nicht hoch im Kurs. Sie
scheinen die individuelle Souveränität zu untergraben und das auf
Selbstbehauptung und Optimierung getrimmte Ich zu schwächen. Der
bekannte Zürcher Psychiater Daniel Hell konzentriert sich in seinem
neuen Buch auf die Scham – und auf deren Rehabilitierung. Er will
ihr den schlechten Ruf nehmen und sie nicht wie andere als
»Hemmfaktor einer gesunden und emanzipatorischen Entwicklung«
sehen.
Dass Scham kein angenehmes Gefühl ist, bestreitet Daniel Hell
nicht. Sie wirft einen auf sich selbst zurück, macht ein Ungenügen
offensichtlich und spiegelt die Differenz zwischen Ich-Ideal und
Wirklichkeit, zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Am biblischen
Mythos von Adam und Eva erläutert Hell die enge Verbindung von
Scham und Selbstbewusstsein. Erst unter dem Blick des anderen (oder
von Gott) schämt man sich, weil man sich nicht nur als Subjekt,
sondern auch als Objekt erfährt. Im Erleben der Scham kommt die
eigene Gebrochenheit als Subjekt und Objekt zum Vorschein. Der
Blick der anderen oder des Über-Ich konfrontiert einen mit sich
selber: Man schämt sich vor sich. Doch wer sich schämt, setzt sich
mit sich selbst auseinander, schreibt Daniel Hell.
Darum ist für den Psychiater die Scham ein Selbst-, Sozial- und
Wertgefühl, an dem Menschen reifen können. Scham hat mit Würde zu
tun, ja sie ist Hell zufolge die »Türhüterin des Selbst«. Ähnlich
wie die Angst ist sie ein Sensor, der uns vor einer Gefährdung des
Selbst oder vor psychischen Verletzungen warnt. Mit ihrer Alarm-
und Schutzfunktion macht sie auf zwischenmenschliche oder innere
Gefahren aufmerksam. Sie ist ein soziales Regulativ, moderiert
Gefühle von Nähe und Distanz, grenzt von anderen ab. Scham kann die
Autonomie des Menschen fördern, genauso auch die
Gemeinschaftsbildung.
Der einstige Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik
Zürich schöpft aus seiner langjährigen Erfahrung und geht intensiv
auf das Verhältnis von (sozialer) Scham und psychischer Erkrankung
ein. Er macht klar, dass Scham meist als Sensor auf eine Erkrankung
hinweist, selten aber deren Ursache ist. Manchmal scheint Hell vor
allem die Fachwelt im Blick zu haben. Er geht das Thema aus immer
neuen Perspektiven an, was zu vielen Redundanzen führt.
Das Schlusskapitel dürfte die Leser am meisten interessieren. Hier
wagt Hell eine nicht neue, aber eindrückliche Zeitdiagnose. Er
stellt fest, dass die moderne Abwertung von Scham gleichzeitig auch
mit einer Kritik an der Schamlosigkeit einhergeht. Er geht der
Frage nach, ob der Schamverlust zu einer neuen Beschämungskultur
führt. Im Leben heutiger Menschen hätten die Brüche zugenommen
(Stichwort Patchwork-Familien) und damit die Selbstüberforderung
mit Schamfolgen. Statt die Scham zu akzeptieren, werde sie vielfach
negiert und verdrängt. Verdienstvollerweise kommt Hell auf die
Political Correctness zu sprechen, die seit Ende des letzten
Jahrhunderts zunächst in den USA mit unzähligen Sprech- und
Denkverboten ein Programm gesellschaftlicher Entschämung
propagiert.
Scham aber bleibt bestehen – trotz oder gerade wegen freizügiger
Bekleidung auch die Körperscham. Sie verlagert sich vom schönen
nackten Leib zum fetten und alten Körper, der dem gängigen
Schönheitsideal nicht entspricht. Der Trend zur Selbstdarstellung
verbunden mit Hemmungs- und Schamverlust ortet Hell auch in
wirtschaftlicher Bereicherung und politischer Propaganda, generell
im Optimierungsdruck auf jeden Einzelnen. »Selbstverwirklichung ist
nicht mehr Privatsache, die auch Widerstand bedeuten kann, sondern
gesellschaftliche Norm.« Das angestrebte Optimum definiere heute
weniger das Individuum als der gesellschaftliche und
wirtschaftliche Mainstream. In der Leistungsgesellschaft ringt
jeder mit dem Ideal-Selbst, wird mit Ratings und Evaluationen von
aussen bewertet. Die Verdinglichung des Menschen und die Ich-Jagd
führen zum Abbau der Schamschranken, aber auch zur
Selbstüberforderung. Im Burn-out sieht der Psychiater ein modernes
Beschämungsphänomen: Ausgebrannte Menschen sind von sich selbst
enttäuscht und schämen sich.
Daniel Hell ist nicht der Erste, der davor warnt, dass das Internet
schamloses Verhalten und die Beschämungskultur fördert. In der
Anonymität und Gesichtslosigkeit blühen Cybermobbing und Public
Shaming. Der Onlinepranger zelebriert den Schamverlust. Was die
Beschämungstendenzen fördert, ist Hell zufolge der fehlende Blick.
Mit dem nicht existenten Augenkontakt fehlt dem Public Shaming, was
die persönliche Beziehung ausmacht. »Erst das Gesicht löst Scham
aus. Wo es fehlt, geht das mitmenschliche Du verloren.« Der Autor
beruft sich auf den Philosophen Emanuel Lévinas, der die Bedeutung
des Antlitzes thematisierte und mit ihm die Scham. Es macht die
Qualität dieses Buches aus, dass der Autor Phänomene an der
Schnittstelle von Psychiatrie und Philosophie oder Theologie
präzise zu formulieren vermag. Einleuchtend zeigt er, dass Adams
und Evas »Sündenfall« eigentlich ein »Schamfall« war. Dem
Religionsstifter Jesus zum Trotz habe die Theologie mit ihrer
Fokussierung auf die Schuldthematik den Scham- und
Beschämungsdiskurs weitgehend verdrängt. Dank seiner
jüdisch-christlichen Wurzeln habe das Abendland eine Schuld- statt
einer Schamkultur entwickelt.
In Abgrenzung zu vielen anderen Autoren unterscheidet Hell
dezidiert zwischen Scham, narzisstischer Kränkung und Beschämung.
Zwischen Scham und Beschämung ist der Unterschied so gross wie
zwischen Demut und Demütigung. Das veranschaulicht er an der
Kriegsbewältigung der Deutschen. Nach dem verlorenen Ersten
Weltkrieg empfanden sie den Zusammenbruch und die Versailler
Verträge als massive Kränkung. So entwickelten sie statt
Selbstkritik und Scham Hass auf jene, die sie für die Kränkung
verantwortlich machten, insbesondere die Juden. Hitler verdrängte
die Scham mit militärischem Protz und narzisstischer
Selbstüberhöhung. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im »Volk
der Dichter und Denker« Scham möglich – Hell zufolge auch dank dem
Marshallplan der Alliierten und dem raschen Wirtschaftswachstum.
Scham kann auch auf der kollektiv-gesellschaftlichen Ebene heilsam
sein.
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