Rezension zu Entfremdung bei Perversionen
ÖAGG Feedback (Zeitschrift des Österr. Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik) 3&4 2018
Rezension von Günter Dietrich
Der vorliegende Band von Masud Khan, Schüler von Anna Freud und
Donald Winnicott und in den 1970er Jahren prominenter Vertreter der
British Psychoanalytic Association, ist 1979 unter dem Titel
»Alienation in Perversions« in der englischen Originalausgabe
erschienen. Die von Hans-Jürgen Wirth im Psychosozial-Verlag
herausgegebene »Bibliothek der Psychoanalyse« setzt es sich zum
Ziel, lange vergriffene Klassiker der Psychoanalyse zum
Wiederentdecken bereitzustellen. So soll auch dieser Klassiker von
Masud Khan leichter zugänglich gemacht werden, um das kritische
Potential der Psychoanalyse in den Herausforderungen des modernen
wissenschaftlichen Dialogs zu erhalten.
Der 1989 verstorbene Autor formuliert seine Grundthese im Vorwort
des Buches, er geht davon aus, dass »der Perverse ein
unpersönliches Objekt zwischen sein Verlangen und seinen Komplizen
schiebt.« Und weiter: »Dieses Objekt kann eine stereotype
Phantasie, ein Fetisch oder eine pornographische Darstellung sein.
Alle drei entfremden den Perversen sowohl von sich selbst als auch
– leider – vom Objekt seines Verlangens« (S.7). In den 11 Kapiteln
des Werkes gelingt Masud Khan, illustriert mit viel Fallmaterial
aus der klinischen Praxis, eine differenzierte Analyse zu perversen
Pathologien, die er in der Ätiologie als Reparaturversuche im Sinne
eines Wiedergutmachungstriebes eines beeinträchtigten Selbst
versteht. Als Ursprung der Störungsbilder beschreibt er eine vor
allem in der Säuglings- und Kleinkindzeit gestörten
Mutter-Kind-Interaktion. Die Betroffenen seien von ihren Müttern
idolisiert worden (Khan wendet diesen Begriff bewusst und in
Abgrenzung zu »idealisiert« an(1)), die Fürsorge der Mütter sei
vorwiegend auf das körperliche Gedeihen des kleinen Kindes
gerichtet gewesen, im Ausmaß übergroß und intensiv sowie von eher
unpersönlicher Natur. Die Kinder seien von der Mutter eher als
»Ding-Geschöpf« (»thing-creation«) behandelt worden, als eine im
Entstehen begriffene heranwachsende eigenständige Person. Zudem sei
auch typisch, dass der Vater von diesen Kindern nicht als wichtige
Gestalt oder Person registriert worden ist.
Kritisch anzumerken ist zunächst, dass es der Autor verabsäumt, den
zentralen Begriff der Perversion in irgendeiner Weise zu
definieren. Es entsteht so für eine wissenschaftliche Betrachtung
der Eindruck einer Beliebigkeit, die mit anderen
wissenschaftstheoretischen und forschungsmethodologischen Problemen
der vorliegenden Arbeit korrespondiert. Der Autor wirkt, als sei er
einem naiven Realismus verhaftet und glaube, seinen
Forschungsgegenstand direkt und unmittelbar zu erkennen. Dabei ist
die verwendete Sprache klar und eindeutig, wenngleich die
durchgängige Praxis der Stigmatisierung der betroffenen
Patientinnen auch bei wohlmeinender Leseweise die Frage nach
fehlender Empathie des Autors aufwirft. Im ganzen Buch ist in
entpersonalisierender Weise von »der Perverse« zu lesen, als dessen
markanteste Persönlichkeitseigenschaften angeführt wird, dass
»diese Menschen selbstsüchtig, ungeduldig, offensichtlich
unempathisch, wenig edel, niederträchtig und anderen gegenüber kalt
und abweisend« seien (S. 15). Die von Masud Khan genutzte
Forschungsmethode der klinischen Generalisierungen von Fallmaterial
blickt zwar in der Psychoanalyse auf eine lange Tradition zurück,
ist aus heutiger Sicht methodologisch mit zahlreichen
Schwierigkeiten behaftet. Weiterführend ist anzumerken, dass die
hermeneutische Methode der qualitativen Forschung in den 1940er
Jahren etwa durch Merleau-Ponty (1945) wesentliche Impulse erhalten
hat, die seit den frühen 1960er Jahren auch in englischsprachigen
Übersetzungen vorgelegen sind. In der englischen Psychoanalyse hat
S.H. Foulkes (1949) ebenfalls seit den 1940er Jahren zahlreiche
Arbeiten mit einer differenzierten qualitativen Methodologie
publiziert. Und in die 1970er Jahre fällt in Deutschland in der
Frankfurter Schule die wegweisende Positionierung der Psychoanalyse
als hermeneutische Wissenschaft mit qualitativ-empirischen
Untersuchungen auf methodologisch-reflektierter Basis,
hervorstechend etwa in den Arbeiten von Lorenzer und Argelander
(vgl. Busch 2007).
Einen positiven Wert besitzt die vorliegende Arbeit von Masud Khan
durch seine tiefgründigen und modellhaften Einblicke in die innere
Welt von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Auf der Basis der
Triebtheorie steht Khan in der Weiterentwicklung der
psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie für ein Verständnis des
inneren Phantasiesystems, das, jenseits von den Konzepten der
Neurosen und Psychosen, unbewusst und schwer erkennbar ist. Er
beschreibt eine spezifische Qualität der Fehlanpassung in den
frühkindlichen Entwicklungsstufen der Betroffenen, die zur Bildung
einer inneren psychischen Realität eines »montierten inneren
Objekts« führt, das der Betroffene nur durch besondere sexuelle
Geschehnisse erleben und verwirklichen kann. Dieses Konzept
erinnert an die ziemlich zeitgleich erfolgte Theoriebildung von
Fritz Morgenthaler mit der Annahme einer »Lücke im Selbstgefühl«,
die die Perversion wie ein »Pfropf« oder eine »Prothese«
auszufüllen versucht (Morgenthaler 1984). Damit wird ein
Verständnis der Psychodynamik bei spezifischen
Persönlichkeitsstörungen möglich, das mit einer Fülle von Material
aus der klinischen Erfahrung hinterlegt wird.
Hinderlich erscheint aber in diesem Werk eine ausgeprägt
pathologisierende Haltung des Autors, die zudem wiederholt
frauenfeindliche Züge annimmt. So wird für die klinische
Beleuchtung der Perversion in den Kapiteln immer wieder bevorzugt
auf das Phänomen der Homosexualität zurückgegriffen. Anders aber
als beim bereits erwähnten Autor Morgenthaler, der die gesunde
Entwicklung der Homosexualität beschrieben hat, wird bei Khan
deutlich, dass hier ein behandlungsbedürftiges Störungsbild
vorliege. Obwohl Kinsey (1954) in der Literatur zitiert wird,
scheinen seine Forschungsdaten zur Normalität der Homosexualität
bei Khan nicht wirklich beachtet worden zu sein. Zur Erinnerung:
Homosexualität wurde 1973 von der American Psychiatric Association
aus dem Krankheitenkatalog DSM gestrichen.
Besonders krude wird der vorliegende Text in den ausführlichen
Passagen zur weiblichen Sexualität, die bei mir beim Lesen das
Gefühl hinterlassen haben, als wäre die Welt im Jahr 1905 mit den
berühmten »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« Freuds stehen
geblieben. Weitgehend unbefangen wird die natürliche Unterlegenheit
der Frau im Vergleich zum Mann referiert, da bei der Frau »die
Natur ihren Ansprüchen weniger sorgfältig Rechnung trägt als im
Falle der Männlichkeit« (S.80), die gegebene Minderwertigkeit der
Klitoris im Vergleich zum Penis wiederholt (S.78) und der Mythos
des reifen vaginalen Orgasmus gegenüber der unreifen klitoridalen
Erotik strapaziert (S.79). Bemerkenswert erscheint mir dabei
wirklich, im Jahr 1979 ein dem Bestreben nach wissenschaftliches
Fachbuch zur menschlichen Sexualität zu veröffentlichen, in dem die
Sexualforschung nahezu gesamt ausgeblendet bleibt. Wo sind die
Daten, die von so vielen Autorinnen gesammelt worden sind, Kinsey
(1948), Masters und Johnson (1966), Sigusch (1972) oder Hite
(1976), um nur eine Handvoll zu nennen? Stattdessen setzt Khan auf
eine freudianische Entwicklungspsychologie, die nicht nur in der
Sexualtheorie in den 1970er Jahren bereits überholt gewesen ist,
sondern auch im grundlegenden Beziehungsverständnis der Interaktion
von Kind und Bindungsperson.
In der Zusammenfassung der angesprochenen Probleme mit
Stigmatisierungen, Pathologisierungen, Frauenfeindlichkeiten,
forschungsmethodologischen Einschränkungen und auch eingedenk des
Umstandes, dass der vorliegende Text schon beim Ersterscheinen 1979
als veraltet anzusehen gewesen ist, hege ich gewisse Zweifel, ob
dieser Band dem eingangs zitierten Wunsch der Buchreihe, das
kritische Potential der Psychoanalyse in den modernen
wissenschaftlichen Dialog einzubringen, wirklich dienlich ist. Ich
würde eher den Bedarf an Selbstkritik wahrnehmen, innerhalb der
Psychoanalyse in offener und interdisziplinärer Weise
Konzeptualisierungen zu überprüfen und zu erweitern.
Natürlich ist der Zugang zu historischen Texten wertvoll, nicht nur
in genuin wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht, sondern auch für
die klinische Praxis, Lehre und Weiterbildung, um die Entwicklung
psychoanalytischer Positionen verstehen und nachvollziehen zu
können. Und natürlich soll und darf es keine Denkverbote geben.
Insofern gibt es Räume der Auseinandersetzung, auch mit
Fachvertreterinnen zurückliegender Generationen in Diskussion zu
treten. Offen bleibt für mich, wie weit ein Buch mit dem
Erscheinungsjahr 2018 weniger geschulte Leserinnen zur Annahme
verleiten könnte, diese Inhalte und Theorien seien psychoanalytisch
State of the art. Ein derartiges Missverständnis schiene mir
wirklich gefährlich. Hier könnte wahrscheinlich zukünftig bei einer
solchen Neuauflage ein kritisches Vorwort eine gewisse Abhilfe
schaffen.
Günter Dietrich
Literatur:
Busch, Hans-Joachim (2007): Spuren des Subjekts. Positionen
psychoanalytischer Sozialpsychologie.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Foulkes, S.H. (1949): Introdnction to Gronp-Analytic Psychotherapy.
New York: Grüne & Stratton. Hite, Shere (1976): The Hite Report. A
Nationwide Study of Female Sexnality. New York: Seven Stories.
Kinsey, Alfred et al. (1948): Sexual Behavior in the Human Male.
Bloominglon: Indiana Universily Press. Kinsey, Alfred et. al.
(1954): Das sexuelle Verhalten der Frau. Berlin: Fischer. Masters,
W.H., Johnson, V.E. (1966): Human sexual response. Boston: Little,
Brown. Merleau-Ponty, Maurice (1945): Phänomenologie de la
perception. Paris: Gallimard. Morgenthaler, Fritz (1984):
Homosexualität, HeteroSexualität, Perversion. Frankfurt/Main:
Qumran. Sigusch, Volkmar (1972): Ergebnisse zur Sexualmedizin.
Köln: Wissenschalts-Verlag.
1 Zugleich durchbricht Khan aber selbst diese Differenzierung,
indem er auf S. 9 davon spricht, dass jeder Säugling »nur durch die
idolisierende Zuwendung der Mutter« existiert und sich erfährt.