Rezension zu Das Phänomen Liebe

ÖAGG Feedback (Zeitschrift des Österr. Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik) 3&4 2018

Rezension von Markus Grubing

Nach »Goldmine und Minenfeld« (Gießen, Psychosozial-Verlag 2012) legt Mathias Hirsch ein weiteres Buch vor, das sich der Liebe und ihrem potentiellen Missbrauch in der Psychotherapie widmet. In »Das Phänomen Liebe – Wie sie entsteht, was sie in der Psychotherapie für Probleme macht und warum sie missbraucht werden kann« steht zuerst nicht weniger als die große Frage im Zentrum: Was ist die Liebe?

Hirsch sucht Antwort v.a. bei Roland Barthes – seinerseits ein genauer Kenner von Freuds Schriften – Goethe und schließlich Freud. Er spannt damit den Bogen von der Semiotik und Hermeneutik (Barthes) über die Dichtung (Goethe) bis zur Psychologie Freuds und zeigt damit auch die Spannung innerhalb des Begriffs »Liebe«: Zwischen rätselhaftem Funkeln, literarischem Verführungspotential und Freuds Konzeption von u.a. Trieb, Wunsch, Angst und Objektwahl/Beziehung versucht er eine Annäherung und Einordnung. Am Ende des ersten Kapitels bleibt der Eindruck, die Liebe wäre sowohl das eine, zugleich das andere und würde sich ständig als ungenügend erklärbar entziehen. Vielleicht steckt dahinter aber auch der Wunsch oder auch die soziale und kulturelle Vermittlung, die Liebe sei etwas Eigenes und Größeres, das über die Dynamik menschlicher Gefühle und der jeweiligen Beziehung hinaus geht.

In der zweiten Hälfte des Buchs untersucht Hirsch dann auf den bisherigen Überlegungen aufbauend die Liebe im Kontext der therapeutischen Beziehung, die aus seiner Sicht eben immer und ohne Ausnahme eine therapeutische Beziehung bleiben muss. Liebe und sexuelle Wünsche seien in dieser spezifischen Begegnung ausschließlich Übertragungsgeschehen, das (aus)gehalten, verstanden und gedeutet werden müsse. Jedes Agieren, also das Eingehen einer sexuellen Beziehung mit Patientinnen, sei narzisstischer Machtmissbrauch, unabhängig davon, wie realistisch und drängend die sexuelle Verführung auf beiden Seiten ist. Die Zeugenschaft von Opfern solcher Übergriffe, die ihre Erfahrungen unter Pseudonym veröffentlicht haben und die der Autor zitiert, sind plastisch und berühren. Die inneren Prozesse der Täter werden leider nur knapp konzeptualisiert, hier wünscht man sich eine weiter gehende Auseinandersetzung. Es fehlen – aus nachvollziehbaren Gründen – auch authentische Berichte von Betroffenen auf Seite der Therapeutinnen.

Zusammenfassend bietet »Das Phänomen Liebe« für den fachkundigen Leser besonders im zweiten Teil nicht viel Neues. Zugleich sind sexuelle Beziehungen zwischen Patientinnen und Therapeutinnen jedoch Realität. Eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik ist noch allzu oft in Ausbildungsinstituten und innerhalb der therapeutischen Community tabuisiert. Das Buch von Mathias Hirsch und seine klare Positionierung ist hier ein wichtiger Beitrag, sich mit dem Thema individuell und institutionell genauer und aktiver zu beschäftigen.



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