Rezension zu Nach dem bewaffneten Kampf
Neue Zürcher Zeitung
Rezension von Joachim Güntner
Opfer sind auf Täter fixiert, diese aber nur auf sich
selbst
Anmerkungen zur Nachgeschichte der RAF im Spiegel
zweier Publikationen
Der Mörder ist stets interessanter als der Ermordete. Das gilt
zumal für seine Selbstwahrnehmung und die neugierige
Öffentlichkeit. Mehr noch aber bleiben die Betroffenen an seine
Untat gebunden. Notizen zum Täter-Opfer-Ungleichgewicht am Beispiel
der RAF.
Ein Täter kann durchaus auch Opfer sein. Stellen wir uns einen
Taschendieb vor, der morgens etwas geklaut hat und abends beim
Spaziergang mit seiner Freundin von einem Auto überfahren wird. Es
macht keine intellektuellen oder moralischen Schwierigkeiten
zuzugeben, dass er in der einen Situation Täter war, in der anderen
aber ein Opfer. Heikler wird die Sache, wenn jemand in Situationen,
die direkt miteinander verkoppelt sind, als Täter und Opfer
zugleich figuriert. Wird etwa unser Taschendieb auf frischer Tat
ertappt und vom Beklauten verprügelt – würden wir ihn dann der
Prügel wegen als Opfer ansehen? Oder ein Terrorist, der, als Mörder
verurteilt, in einen Hochsicherheitstrakt gesperrt, von Kontakten
und Geräuschen isoliert und mit Schlafentzug schikaniert wird –
dürfen jene Mitglieder der RAF, denen solches Unrecht widerfuhr,
einen Opferstatus reklamieren? Das sogenannte gesunde
Volksempfinden wird die Frage sicherlich anders beantworten als ein
Psychotherapeut.
Sieben Jahre lang haben sich ehemalige deutsche Linksterroristen zu
Gruppensitzungen getroffen, die von Psychoanalytikern und
Therapeuten moderiert wurden. Die Hardliner waren nicht dabei oder
haben sich rasch wieder abgesondert. Jene, die mitmachten, zogen
hinterher schriftlich Bilanz: Wie blicken sie heute auf ihre Ziele
von einst, die Anschläge, das Miteinander in der RAF und der
Bewegung 2.Juni, die Zeit im Gefängnis, die Gespräche in der
Gruppe? Unter dem Titel »Nach dem bewaffneten Kampf« sind ihre
Texte kürzlich als Buch im Psychosozial-Verlag (216 Seiten, Fr.
34.90) erschienen. Viel ist darin die Rede von eigenen
Traumatisierungen, von Wut, Enttäuschung, Zorn, Trauer und Furcht,
vom durch Misstrauen und Rigidität geprägten Klima innerhalb der
RAF-Kommandos, von der Unfähigkeit zu Freundschaft und
Selbstkritik. Dem Leser begegnet der hybride Begriff »Opfer-
Täter«, geprägt allerdings nicht von den Ex-Terroristen als
Beschreibung ihrer selbst, sondern von einem Therapeuten.
Unendliche Selbstbezogenheit
Larmoyant sind die Rückblicke keineswegs, jedoch von
einer unendlichen Selbstbezogenheit. Kontrast bietet ein zweiter
Band: Anne Siemens Sammlung von Interviews mit den Hinterbliebenen
von Opfern der RAF und mit ehemaligen Geiseln der
Palästinensergruppe, die 1977 die Lufthansa-Maschine »Landshut«
entführte. (»Für die RAF war er das System, für mich der Vater«,
Piper-Verlag, 287 Seiten, Fr. 34.70.) Liest man beide Bücher
gegeneinander, tritt das Ungleichgewicht von
Täter-Opfer-Beziehungen hervor. Dass Gewalt die Neugier reizt und
der Terrorist das Publikum stets mehr fasziniert als der
Terrorisierte – das wussten wir schon. Kunst, Literatur und Medien
bezeugen unsere grosse Fixierung auf Täter. Was aber die
vergleichende Lektüre klarmacht, ist die umfassende Geltung dieses
Phänomens. Nicht nur die öffentliche Wahrnehmung und nicht nur
jene, die sich als Unbeteiligte am »Kick« der Gewalt delektieren,
sind auf Täter fixiert. Auch die Betroffenen sind es.
In den Gesprächen, die Anne Siemens geführt hat, liegt zwar das
Hauptgewicht darauf, den von der RAF Ermordeten Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, sie als Individuen statt bloss als
Funktionsträger zu zeichnen. Zugleich aber setzen sich die Opfer
permanent mit den Terroristen, ihren Beweggründen, ihren
Rechtfertigungen, ihrem Umfeld und dem Zeitgeist der 1970er Jahre
auseinander. Sympathiebekundungen für die 68er Bewegung, sogar Rufe
nach Begnadigung von inhaftierten RAF-Mitgliedern werden laut.
Ebenso das Gegenteil: Adorno und Marcuse werden der geistigen
Mitschuld am Terror bezichtigt, und die Idee einer Begnadigung
derer, die den Gatten oder Vater umgebracht haben, stösst auf
schärfste Ablehnung. Perplex steht der Leser vor dem Grossmut, mit
welchem die Brüder des ermordeten Diplomaten Gerold von Braunmühl
einst zwanzigtausend Mark stifteten, um den RAF-Mann Peter-Jürgen
Book in der Revision gegen ein als unfair empfundenes Urteil zu
unterstützen.
Verglichen damit bewegt sich das Sinnen und Fühlen der ehemaligen
Terroristen noch immer wie eingekapselt in jener »Raumstation«, als
welche Karl-Heinz Dellwo in seinem Bericht den Hochsicherheitstrakt
und auch die RAF bezeichnet. Bereits das Äusserste an Teilnahme
scheint erreicht, wenn Dellwo bekennt: »Ich bin mitverantwortlich
für den Tod von zwei Botschaftsangehörigen.« Konkreter wird das
Bedauern nicht, und nie kommt es zum Schaudern vor der Brutalität,
die den Anschlägen der RAF eigentümlich war. Distanz zu den Taten
bei gleichzeitigem Festhalten an den Motiven kennzeichnet die
Haltung.
»Unser Aufbruch war richtig«, beharrt Dellwo. Nur sei eben der
Kampf für Ideale, die RAF als Projekt gegenkultureller
»Menschwerdung« (so Ex- Mitglied Ella Rollnik) verraten worden, und
zwar erstmals bei der »Entführung zufällig und wahllos
vorgefundener Menschen« im Falle der Geiselnahme in der »Landshut«.
Man ahnt, Dellwo führt diese Bestimmung ein, um die nicht »wahllos«
mordende RAF vom Massenmord der al-Kaida abzugrenzen. Aber es
bleibt der Irrsinn, dass Dellwo damit implizit die Anmassung
bekräftigt, zwischen legitimen und illegitimen Morden unterscheiden
zu können. Entsprechend galt Hanns Martin Schleyer, der ehemalige
SS-Mann und spätere Arbeitgeberpräsident, den Terroristen und
Sympathisanten immer als das «richtige» Opfer.
Beide Bücher erscheinen in einer Phase, da sich die deutsche
Öffentlichkeit wieder einmal heftig mit dem einzigen blutigen
Kapitel der Bonner Republik konfrontiert sieht. Christian Klars
Ersuchen um Begnadigung sorgt für Meinungsstreit und wird dies wohl
auch weiterhin tun, denn der Bundespräsident hat seine Entscheidung
über den Gnadenakt vertagt. Klars Genossin Brigitte Mohnhaupt ist
seit einigen Tagen auf freiem Fuss; ihre vorzeitige Entlassung nach
Verbüssung der Mindeststrafe spaltet die Meinungskämpfer
ebenfalls.
Eine solche Debatte wird schnell heiss, denn für viele Menschen
sind die hier thematisierten Ereignisse Teil ihrer
Lebensgeschichte. Und wo die Zeitzeugen noch leben, ja die meisten
von uns selber Zeitzeugen sind, da ist die kollektive Erinnerung an
die RAF noch keine erstarrte Lava, sondern befindet sich in jenem
Fluss, den das »kommunikative Gedächtnis« von den geronnenen Formen
des »kulturellen Gedächtnisses« (Jan Assmann) unterscheidet. Dieses
kommunikative Gedächtnis, das noch so lebhaft von der Erinnerung
der Individuen zehrt, ist launisch: Es zerrt Vergessenes hervor und
vergisst anderes, erfindet und baut um. Zurzeit weist es starke
Tendenzen auf, den bundesrepublikanischen Linksterrorismus zu
entpolitisieren und vergessen zu machen, wie gross damals der Kreis
derer war, die vielleicht nicht alle Taten, grundsätzlich aber die
Motive der Attentäter billigten. Entpolitisiert erscheint auch das
Totengedenken. Die Ermordeten müssen nichts Offizielles mehr
repräsentieren und kommen als Privatpersonen, als Gatten und Väter
in den Blick.
Einmal Opfer, immer Opfer
Schliesslich die Terroristen von einst, die unter
Verweis auf ihre Persönlichkeitsrechte die Verewigung in der
Zeitgeschichte verweigern: Ganz Privatier, verbittet sich Brigitte
Mohnhaupt über ihren Anwalt, in der Presse noch weiterhin als
Mörderin bezeichnet zu werden. Susanne Albrecht, die 1977 beim
Anschlag auf einen Schulfreund ihres Vaters, den Bankier Jürgen
Ponto, mitmachte, will gerichtlich durchsetzen, dass keine Fotos
mehr im Umlauf sind, die sie in Zusammenhang mit der RAF bringen.
Sollten Mohnhaupt und Albrecht Erfolg haben, erwiese sich ein
weiteres Mal das Ungleichgewicht in der Stellung von Tätern und
Opfern. Wie Jürgen Pontos Tochter Corinna bitter vermerkt, kann ein
Terrorist den öffentlichen Status eines »Ex-Terroristen« erlangen.
Ein Privileg, denn für die andere Seite gilt nichts Analoges: »Wer
einmal Opfer wurde, kann nie ein Ex-Opfer sein.« Tief, als Raub an
der Lebensgeschichte, greift die Tat in sein Dasein ein. Opfer
eines Gewaltverbrechens bekommen immer lebenslänglich.