Rezension zu Psychoanalytische Schulen im Gespräch über die Konzepte Wilfred R. Bions
Newsletter des Fortbildungsinstituts für Supervision (FiS), Nr. 13, November 2018
Rezension von Jürgen Kreft
Wolfgang Mertens – Psychoanalytiker und emeritierter Professor für
Psychoanalyse und psychodynamische Forschung an der
Ludwig-Maximilians-Universität in München – legt mit der
vorliegenden Veröffentlichung zu den Konzepten von Wilfred R. Bion
den 4. Band der Reihe »Psychoanalytische Schulen im Gespräch« (1)
vor. Die Reihe zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass die Leserinnen
und Leser eingeladen sind, sich mitdenkend an einer fiktiven
Diskussionsrunde zu beteiligen. In der hier vorzustellenden Runde
diskutieren ein an Bion orientierter Psychoanalytiker und fünf
weitere jeweils unterschiedlichen Schulen angehörende
Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker sowie ein interessierter
Laie – und mit Letzterem kann man sich als Leser*in ziemlich gut im
Geiste verbünden. Der Laie traut sich immer wieder, einfache
Fragen zu stellen, und zwingt die Psychoanalytiker*innen, ihre
Unterschiede zu verdeutlichen und die gemeinten Sachverhalte
verständlicher zu formulieren. Und dies ist angesichts der
Konzepte W.R. Bions, dessen Schriften manchmal kryptisch
erscheinen, zumindest aber schwer zu verstehen sind, nicht
unerheblich.
W.R. Bion (1897-1979) gilt als einer der einflussreichsten
Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts. Seine Konzepte wie
Containing, Reverie, Projektive Identifizierung, negative
capability und seine Ausführungen zum Wissenserwerb und der
Gruppendynamik werden auch außerhalb der Psychoanalyse – z.B. in
supervisorischen Beratungsprozessen – rezipiert und diskutiert.
Den einzelnen Gesprächsrunden vorangestellt ist eine kurze
Charakterisierung von Leben und Werk W.R. Bions. In 17 Kapiteln
werden dann die zentralen Modelle und Konzepte diskutiert. In der
Regel beginnt der an Bion orientierte Psychoanalytiker mit einer
kurzen Einführung. Die Psychoanalytiker*innen der anderen Schulen
formulieren ihre Bedenken und immer auch die Gemeinsamkeiten, die
sich hinter den ungewöhnlichen Begriffen und Zeichen
verbergen.
Für den Nicht-Psychoanalytiker und Supervisor, als den ich mich
verstehe, ist die Beschäftigung mit dem Buch in zweifacher
Hinsicht interessant. Als Theorie unbewusster Vorgänge fand ich
jene Passagen spannend zu lesen, die sich mit der frühkindlichen
Entwicklung auseinandersetzen. Für W.R. Bion sind die Emotionen
die grundlegenden Bausteine der Psyche und bilden die
Universalsprache aller menschlichen Beziehung. Für das Kleinkind
sind die auftretenden Sinneserfahrungen und Empfindungen noch ohne
Bedeutung – quasi unverdaute Fakten. Bion nennt die Wahrnehmung
physiologisch bedingter Erregungszustände Beta-Elemente. Solange
sie unerkannt und undifferenziert bleiben, können sie eine
namenlose Angst verbreiten. Denkfähig werden sie erst, wenn ihnen
eine psychische Bedeutung verliehen werden kann. Die Aufgabe der
Mutter besteht nun darin, die psychischen Zustände des Kindes zu
»verwörtern«, was Bion als Alpha-Funktion bezeichnet. Die
Begleitung von einfühlsamen Eltern ist somit eine Voraussetzung
für die sich entfaltende Denkfähigkeit des Kindes. »Wenn in der
Gegenwart die Erkenntnisse aus der Bindungs- und der
Kleinkindforschung über die Bedeutung des Eingehens auf kindliche
Bindungssignale, auf die dabei zum Tragen kommende mütterliche
Feinfühligkeit so sehr betont werde«, so lässt Wolfgang Mertens
den an Bion orientierten Psychoanalytiker ausführen, »dann muss
Bion – neben Winnicott und Kohut – als ein herausragender Pionier
dieser Erkenntnisse gelten. Er beschreibt wie kein anderer
Psychoanalytiker vor ihm die unbeschreiblichen und kaum fassbaren
namenlosen Ängste eines Kindes sowie die verzweifelten Versuche,
diese zu kommunizieren.« (S. 33) Die sich daran anschließenden
fiktiven Diskussionen, die in vielen Kapiteln Bezug nehmen auf die
frühkindliche Entwicklung und die Bedeutung der Mutter, sind
hochinteressant und spannend zu lesen.
Aus supervisorischer Perspektive haben mich vor allem die
Ausführungen angeregt, die sich rund um die Gesprächssituation
mit einem Klienten/Supervisanden ergeben. Wie ist es möglich, eine
tragfähige Beziehung herzustellen und einen haltenden Rahmen zu
gestalten? Was sind die Voraussetzungen eines gelingenden
Containments? Wie ist es möglich, sich im Hier und Jetzt der
Beratungssituation auf das Gegenüber einzustimmen? Wie lässt sich
in der Beratung ein anregender Denkraum zur Verfügung stellen?
W.R. Bion spricht im Zusammenhang mit der Gesprächshaltung des
Therapeuten von »Reverie«, einer träumerischen Gelöstheit oder
Einfühlung, die sich mit der Haltung des »without memory, without
desire und without understanding« umschreiben lässt. Angesichts
kurzer und zielorientierter Beratungsprozesse klingt dies wie eine
große Zumutung. Aber die Frage, wie es der Supervisorin und dem
Supervisor gelingt, die eigene gedankliche Freiheit zu halten und
die gedankliche Freiheit des Gegenübers zu ermöglichen, lässt
sich nicht vorschnell zu Seite schieben. Wenn es um die
Ermöglichung des Selbst-Denkens aller Beteiligten gehen soll,
könnte die einengende Erinnerung an die letzte Sitzung die
differenzierte Wahrnehmung des aktuellen Geschehens verhindern.
Die eigenen Wünsche, einen besonders gelingenden, an den Regeln
der Kunst orientierten supervisorischen Prozess zu gestalten,
könnte der vollständigen Konzentration auf den Menschen, der mir
gegenüber sitzt, im Wege stehen. Und jeder vorschnelle Versuch zu
verstehen, scheitert an der Tatsache, dass vieles nur langsam oder
gar nicht zu verstehen ist.
Gerade der Umgang mit Ungewissheit scheint mir auch für
Supervisor*innen von zentraler Bedeutung zu sein, weil jeder
Beratungsauftrag immer auch den Wunsch nach einer schnellen und
effizienten Lösung beinhaltet. Dies setzt uns als Zuhörende unter
Druck, schnell verstehen zu müssen. Die Fähigkeit, Ungewissheit
aushalten zu können, ist eine grundlegende Voraussetzung des
Zuhörens. Sie ermöglicht, Informationen aufzunehmen, ohne bereits
alles zu verstehen und so offen zu sein, für das noch
»Nicht-Gewusste«. W.R. Bion spricht im Rückgriff auf den
englischen Romantiker John Keats von »negative capability«.
Die Ausführungen zum Denken unterscheiden sich stark von unserer
gängigen Vorstellungen einer exakten Verwendung von Begriffen zum
Zweck der Lösung von Problemen anhand von logischen
Schlussfolgerungen. Für W.R. Bion ist Denken etwas sehr
Emotionales und für die Entstehung von Gedanken können nur die
sogenannten Alpha-Elemente genutzt werden. Da die Beta-Elemente als
körperliche Erfahrungen auftauchen und weder in Worte gefasst noch
erinnert werden, können sie nicht Gegenstand des Denkens sein. Der
an Bion orientierte Psychoanalytiker erläutert, »dass das Denken
sich nicht einfach aus einer gleichsam naturwüchsigen
entwicklungspsychologischen Abfolge ergibt /.../, sondern in
Abhängigkeit von der mütterlichen bzw. elterlichen Einflussnahme.
Denn die Alpha-Funktion der Mutter und ihre Reverie haben einen
entscheidenden Anteil daran, wie gut sich das Denken-Können ihres
Kindes entwickelt.« (S. 161)
Auch in unserer supervisorischen Arbeit ist es wichtig, Denkräume
zu ermöglichen und zu bewahren. Es macht Sinn, darüber
nachzudenken, wie im Sinne eines Containments die Grundlagen für
die Aufnahme und Umwandlung der Beta- in Alpha-Elemente geschaffen
werden können. Wenn man »beseelten Vorgängen Ausdruck verleihen
möchte, muss man Gedanken bilden und denken können und sich mit
der inneren Welt beschäftigen. Das Denken in der beseelten inneren
Welt ist unweigerlich mit emotionalen Erfahrungen verbunden und
deshalb auch nicht jedermanns Sache.« (S. 179) Lernen und Wachstum
hängt von der Fähigkeit ab, Erlebnisse und Erfahrungen zu
verstehen und zu bewahren – und zwar auf eine Art und Weise, die
eine Aufnahme neuer Ideen ermöglicht. Aus Erfahrung lernen, heißt
eben immer auch, mit den »facts of life« – den unvermeidlichen
Enttäuschungen des Lebens – gut umzugehen.
Wolfgang Mertens gibt für diese Auseinandersetzung eine Fülle von
Anregungen. Das ausführliche Gespräch der psychoanalytischen
Schulen über die Konzepte Wilfred R. Bions trägt nicht nur zum
fundierten Verständnis von Bions Werk bei. Es nimmt den Leser mit
in einen interessanten Denkraum.
Jürgen Kreft
(1) Wolfgang Mertens: Psychoanalytische Schulen im Gespräch. Band
1: Strukturtheorie, Ichpsychologie und moderne Konflikttheorie,
Göttingen 2010. Band 2: Selbstpsychologie, Post-Selbstpsychologie,
relationale und intersubjektive Kritik, Göttingen 2011. Band 3:
Psychoanalytische Bindungstheorie und moderne Kleinkindforschung,
Göttingen 2012.