Rezension zu Wie die Seele in die Wissenschaft kam

Newsletter des Fortbildungsinstituts für Supervision (FiS), Nr. 13, November 2018

Rezension von Jürgen Kreft

Gerade noch rechtzeitig zu den Supervisionstagen des FiS (Fortbildungsinstitut für Supervision) im April diesen Jahres lag »Wie die Seele in die Wissenschaften kam« von Gerhard Wittenberger druckfrisch auf dem Büchertisch. Das Interesse der TagungsteilnehmerInnen war groß und hat mich nicht überrascht. Immerhin war G. Wittenberger nicht nur 1984 an der Gründung des FiS als erstem freien Ausbildungsinstitut beteiligt, sondern hat in der Folgezeit bis heute 14 Supervisionsausbildungen – zumeist mit Inge Zimmer-Leinfelder – geleitet. Mittlerweile habe ich das Buch lesen können und – um es vorweg zu sagen – kann es nur zur eigenen Lektüre empfehlen.

Der Untertitel macht es deutlich. Es geht G. Wittenberger um »Eine historische Skizze zur Entstehung der Psychoanalyse«, die er vor allem für Nicht-AnalytikerInnen geschrieben hat. Interessierte Leserinnen und Leser sollen an das Werk Sigmund Freuds herangeführt werden und eine erste Orientierungshilfe an die Hand bekommen. Dabei werden Aspekte der Lebensgeschichte und der Konzepte von S. Freud immer wieder in den historisch-gesellschaftlichen Kontext gestellt. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Ausführungen um eine Vielzahl von Abbildungen ergänzt werden, die einerseits die Vorläufer, Begleiter und Nachfolger Freuds porträtieren und anderseits die gesellschaftlichen Bedingungen illustrieren.

Zunächst mag es überraschen, dass der Blick auf den historischen Kontext mit den Ansichten zur Magie und Suggestion einsetzt. Mit unerklärlichen seelischen Erscheinungen haben sich die Menschen schon immer beschäftigt. Mit der von A. Messmer (1734-1815) betriebenen Praxis des Magnetisierens und den ersten Behandlungen durch die Hypnose von J.-M. Charcot (1825-1893) und P. Janet (1859 – 1947) erlebt die Auseinandersetzung mit der Seele des Menschen eine neue Dynamik. An der Salpetrieìre in Paris wird der erste Lehrstuhl für Nervenkrankheiten eingerichtet und die Klinik, an der Freud neben vielen anderen Ärzten hospitiert, entwickelt sich unter der Leitung J-M. Charcots zu einem wichtigen Zentrum. Indem Wittenberger diese Entwicklungslinie von A. Mesmer zu S. Freud skizziert, gerät vor allem das Arzt-Patient-Verhältnis in den Mittelpunkt.

Der westliche Teil der Welt ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit außergewöhnlichen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen konfrontiert. Die Menschen machen sich auf in die Städte, die mit dem schnellen Wachstum kaum mithalten können. So kommt auch die Familie Freud mit dem 3jährigen Sigmund von Freiberg über Leipzig in die Großstadt Wien. Das viktorianische Zeitalter mit seiner moralischen Normativität und dem Ideal der Selbstkontrolle gerade auch in Fragen der Sexualität prägt das Leben in Familie und Gesellschaft. Darüber hinaus nimmt der Antisemitismus in Wien nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu und das, obwohl – oder gerade weil – ein Großteil der intellektuellen und kulturellen Elite jüdischer Herkunft ist.
In einer biografischen Skizze versucht Wittenberger Leben und Werk Freuds miteinander zu verbinden. Ausgangspunkt sind einige Aspekte aus früher Kind- und Jugendzeit, in denen der familiären Hintergrund von Vater und Mutter und die jüdische Tradition betrachtet werden. Es folgen die Studienzeit und erste berufliche Stationen: Studium der Medizin in Wien, erste ärztliche Tätigkeit am Allgemeinen Krankenhaus (1882- 1885), Habilitation (1885), Eröffnung der Praxis (1986) und die Zeit der Erfolge und Misserfolge in der Selbstständigkeit. So entsteht das facettenreiche Bild eines Mannes, der sich auf ein wissenschaftlich noch unbekanntes Terrain vorwagt, und man bekommt eine Vorstellung davon, »wie schmerzlich – und aufregend zugleich – es für Freud gewesen sein muss, die ›verbotene‹ Welt der verdrängten Gedanken, Wünsche und Gefühle, seiner eigenen und die seiner Umgebung, ins Bewusstsein zu bringen.« (S. 173)

Obwohl Freud sich mit seinen Vorstellungen und Ideen zu wenig wahrgenommen fühlt, ist die Zeit reif für eine Erweiterung des Verständnisses darüber, was noch als Wissenschaft zu gelten hat und was nicht. Als gesichert geltende Erkenntnisse werden umgestürzt. Man beginnt, sich für alles zu interessieren, was verunsichert und unbekannt ist. 1902 wird Freud zum außerordentlichen Professor ernannt und in der weiteren Folge wird die sogenannte »Mittwoch-Gesellschaft« gegründet, in der man sich wöchentlich trifft, einen Vortrag hört und darüber diskutiert. Die Mittwoch-Gesellschaft wächst schnell und Freud und sein Werk üben eine starke Anziehungskraft aus. »Freud hatte nun Anhänger in Zürich, Berlin, Budapest, London und eine Handvoll Leute in Wien. Seine Versuche, die Bewegung zu konsolidieren, mündeten in die Gründung der ›Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung‹ in Nürnberg 1910.« (S. 212)

Etwa in diese Periode fällt die Auseinandersetzung Freuds mit der Funktion von Träumen. In »Die Traumdeutung« (1900) geht Freud davon aus, dass Träume wertvolle Informationen über die Mechanismen des Unbewussten liefern. Insofern wird die Deutung von Träumen zu einer wichtigen Therapietechnik und zum ›Königsweg zum Unbewussten‹. Wittenberger widmet diesem vielleicht bekanntesten Werk von Freud und der Weiterentwicklung der Traumdeutung einen kleinen, aber sehr lesenswerten Exkurs. Mit der Traumdeutung wird eine neue Psychologie begründet, »die Psychisches ohne Bezug auf Übersinnliches erklären kann und in einer ›neuen Mythologie‹ (Brief an Jung 30.6.1908) ihren Ausdruck findet, in deren Struktur die alten Götter durch die Mächte des ›Es‹ ersetzt werden: durch den Trieb, den Wunsch und das Unbewusste.« (S. 222)

Das abschließende Kapitel widmet sich dem Institutionalisierungsprozess der Psychoanalyse. Als Gründer einer neuen psychologischen Schule muss sich Freud sehr bald mit dem Problem der Abspaltungen auseinander setzen. Wittenberger beschreibt die Divergenzen mit A. Adler, C.G. Jung, W. Reich und O. Rank, indem er theoretische Unterschiede, Unvereinbarkeiten der jeweiligen Charaktere und Eifersüchteleien in den jungen psychoanalytischen Institutionen beleuchtet.

Gleichsam als »Reaktionsbildung« (S. 263) auf die fürchterlichen Ereignisse des Ersten Weltkrieges und der damit verbundenen Konsequenz eines Auseinanderbrechens des Österreichisch-Ungarischen Vielvölkerstaates als Konsequenz erlebt Freud eine produktive Zeit. Er hält Vorträge vor größerem Publikum und verfasst grundlegende Beiträge zu einer »Metapsychologie«. 1919 wird der internationale Psychoanalytische Verlag gegründet. In Wien entsteht eine Reihe von psychoanalytischen Projekten im sozialen und pädagogischen Feld. In Budapest wird ein Lehrstuhl für Psychoanalyse eingerichtet, Berlin wird in den 20er Jahren zu einem Zentrum der psychoanalytischen Bewegung und in London entwickeln sich rund um die Tavistock Clinic und das Tavistock Institut interessante Anregungen und Erweiterungen. Es ist höchst spannend zu lesen, wie Wittenberger die Zusammenhänge, Kontroversen und Konsequenzen für die Psychoanalyse zusammenfasst und fokussiert. Die biografische Skizze endet dann mit der Krebserkrankung Freuds und seiner Flucht vor den Nazis nach London.

Ein wesentlicher Teil des Buches sind die vielfältigen Abbildungen. Sie bilden auf der einen Seite die Portraits der vielfältigen Akteurinnen und Akteure ab. Auf der anderen Seite illustrieren sie die die damalige Zeit. Auf einmal findet man sich als Leserin und Leser in den Gebäuden der Salpetrieìre wieder, nimmt Teil an den Hypnosesitzungen und besucht das Speisezimmer von Charcot. Man ist innerlich beteiligt an Streifzügen durch das alte Wien, begegnet orthodoxen Juden auf dem Karmeliterplatz, besucht Freud in seiner Praxis in der Berggasse 19 und blickt auf einen Ausschnitt von Freuds Antiquitätensammlung. Die Abbildungen ergänzen und unterstützen den äußerst detailreichen Text und geben Halt. Es ist schon erstaunlich und manchmal auch überfordernd, was G. Wittenberger an Fakten und Fotos zusammengetragen hat. Aber die Fülle wird zusammengehalten von einer Sprache, der man anmerkt, dass hier jemand spricht, der seinem »Gegenstand« sehr verbunden ist.

Ein Wort noch zur Abbildung auf dem Umschlag. Zu sehen ist ein blattloser und vielleicht abgestorbener Baum, schwer zu sagen welcher Art er ist. In seinem gekappten Geäst trägt er einen großen, augenscheinlich schweren Findling. Wie kommt er dort hin und warum fällt er nicht herunter? Es handelt sich um eine Skulptur, die der Arte-Povera-Künstler Guiseppe Penone 2010 zwei Jahre vor der documenta 13 in der Kassler Karlsaue aufgestellt hat. In einem 9 Meter hohen Bronzeguss eines Haselnussbaumes hat sich ein 3 Tonnen schwerer Granatfindling verfangen. Am Fuße der Skulptur pflanzte G. Penone eine kleine Stechpflanze. Der schwere auf seinem Weg zum Boden aufgehaltene Findling und die zum Licht strebende Stechpalme. Die Schwerkraft und die Sehnsucht zum Licht – und der Stein auf halbem Weg.

Und was hat das alles mit der Seele zu tun? »Die Gesetze des Traumes sind wie die Gesetze der Dichtung« – und man möchte hinzufügen: wie die Gesetze der Kunst überhaupt – »beide bezeichnen, was nicht existiert, nennen, was es nicht gibt, beschwören, was nicht ist, aber sein sollte.« (S. 222)



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