Rezension zu Deutungsprozesse im Wandel
Psychotherapeutenjournal 3/2018
Rezension von Rupert Martin
Deuten in der Psychotherapie
Deutung gilt für die psychoanalytische Arbeitsweise als zentrales
Konzept. Es hat sich im Verlauf der nun über 100-jährigen
psychoanalytischen Behandlungserfahrungen beständig
weiterentwickelt. Die Autoren des Buches greifen dies auf und
zeigen, auf welche Weise sprachliche und nichtsprachliche
Interventionen für die Patienten Räume des Fühlens und Denkens
neu erschließen oder verhindern können. Der psychoanalytische
Diskurs dazu dürfte auch für Psychotherapeuten anderer Schulen
von Interesse sein.
Zuerst lesen sollte man den hinten im Buch platzierten Beitrag von
Heiner Binding, »Deutungswege in der Kunst«, da er deutlich macht,
warum überhaupt gedeutet werden muss. Wie bei den Werken der
modernen Kunst liegt auch in den Erzählungen von Patienten der
Sinn nicht offen zu Tage, bedarf also der Deutung. Dies kann auch
frustrieren: So verweile ein Museumsbesucher durchschnittlich nur
zehn Sekunden vor einem Bild. Um länger zu bleiben, bedürfe es
einer Irritation, die »staunen« lässt. Binding bezieht sich hier
auf Wilfred Bion, der es als »negative Fähigkeiten« des
Analytikers beschrieben hat, sich keiner vorschnellen Sinnsuche
hinzugeben, sondern abwarten und sich emotional berühren lassen zu
können. Die genaue Betrachtung des Kunstwerkes unter Beachtung der
eigenen Gefühle sowie der Gefühle und Gedanken anderer weise den
Weg zur Deutung. Dabei gebe es stets verschiedene Wege und jede
Deutung sollte zudem »auch offene Stellen zulassen«. Gustav
Bovensiepen führt dies in seinem analog auf klinisches Material
bezogenen Beitrag »Das Unsichtbare sichtbar machen« weiter aus.
Es bietet sich an, als nächsten Beitrag »Zur Geschichte der
Deutung« zu lesen, in dem Dorothea Kuttenkeuler anschaulich
nachzeichnet, wie die heutigen psychoanalytischen Deutungskonzepte
entstanden sind. Wie heute Psychoanalytiker deuten, die sich der
»intersubjektiven« Schule verpflichtet fühlen, welche das
Behandlungsgeschehen als einen gemeinsamen Abstimmungsprozess
zwischen Psychotherapeut und Patient konzeptionalisiert, zeigen
Beiträge von Klaus-Dieter Weber und Christian Maier. Harm Stehr
wendet sich gegen eine Sicht, die das Behandlungsgeschehen
einseitig vom Patienten her ausdeutet, während der Psychotherapeut
ein scheinbar objektiver Beobachter bleiben könne. Nicola Sahhar
führt Störungen zwischen Analytiker und Analysand auf Störungen
der Mutter-Kind-Interaktionen zurück, die er an videografiertem
Material aufzeigt. Ein gemeinsamer Beitrag von Franz Herberth und
Ute Moini-Afchari beschreibt den intersubjektiven Prozess einer
Ausbildungssupervision.
Susann Heenen-Wolff warnt in ihrem Beitrag »Über die Gründe, zu
deuten, und jene, es nicht zu tun« vor einer allzu großen
intersubjektiven Konsensorientierung. Entscheidend sei nicht, ob
eine Deutung inhaltlich zutreffe, sondern ob sie
veränderungsrelevant sei. Besonders das »empathische Eingehen auf
den Patienten« führe häufig zu einer vorschnellen Einigung, worin
das Problem des Patienten bestehe, und damit »am unbewussten
Konflikt vorbei«. Anhand einer Fallvignette beschreibt sie, wie
abwartendes Zuhören beim Patienten zwar eine »minimale
Destabilisierung« evoziere, die aber zu deutbaren »Ideenketten«
führe. Das abwartende Zuhören des Analytikers habe eine
»unbewusste Äquivalenz der frühen Mutter«, eng verbunden mit der
»Fähigkeit, in Gegenwart der Mutter allein zu sein«.
Der Beitrag von Georg Schäfer »Wie hört man mit dem ›dritten
Ohr‹?« bezieht den Deutungsdiskurs auf die psychoanalytische
Ausbildung und könnte insofern auch wie ein Fazit des Buches
gelesen werden. Schäfer konstatiert das Fehlen einer »umfassenden
Didaktik für die psychoanalytische Ausbildung«". In diese Lücke
treten implizite Modelle von der inneren Arbeitsweise des
Psychoanalytikers. Zentral ist für Schäfer hier das Modell des
»Hörens mit dem dritten Ohr« von Theodor Reik. Zur Entwicklung
eines eigenen Arbeitsmodells gehöre es, sich immer wieder selbst
zu hinterfragen sowie Toleranz für Widersprüche und Paradoxien zu
entwickeln. Die kasuistische Evaluation der persönlichen
Arbeitsmodelle von Ausbildungsteilnehmern sieht Schäfer als
gestalthaften Abgleich der Wahrnehmung der Kandidaten mit denen
ihrer Ausbilder. Die psychoanalytischen Institute und
Fachgesellschaften fungierten dabei als »Denkstilkollektive«, die
diesen Prozessen eine Gesamtrahmung gäben.
Auch wenn die Beiträge des Buches den Deutungsdiskurs in
unterschiedlicher Tiefe ausleuchten und die intersubjektive
Perspektive über andere mögliche Sichtweisen dominiert, ist der
vorliegende Band ein sehr lesenswertes und höchst anregendes Buch,
das auch dabei hilft, die eigenen Deutungskonzepte zu
reflektieren.
Dr. Rupert Martin, Köln