Rezension zu Nach dem bewaffneten Kampf
Der Standard
Rezension von Rebecca Hillauer
Die RAF auf der Couch
In Therapiegruppen setzten sich ehemalige Mitglieder der Roten
Armee Fraktion mit ihrer Vergangenheit auseinander
Revolution – oder tot. Dies waren einst die denkbaren Alternativen
für die Mitglieder der RAF. Wie lebt man aber weiter, wenn weder
der Tod noch die Revolution eingetroffen sind? Das neue Buch Nach
dem bewaffneten Kampf lässt ahnen, wie schwierig bis unerträglich
das ist. Sieben Jahre, von 1996 bis 2003, trafen sich ehemalige
Häftlinge der RAF und der Bewegung 2. Juni mit Therapeuten zu
Gesprächswochenenden.
»Ein Aspekt hierfür war sicher die Hoffnung, irgendwann wieder über
die Politik der RAF, die fast das ganze Leben bestimmt hat und auch
dauerhaft bestimmen wird, reflektieren zu können«, begründet etwa
Roland Mayer, warum er sich auf das ungewöhnliche Projekt einließ.
Die Ergebnisse dieser Gespräche sind in elf sehr unterschiedlichen
Texten öffentlich gemacht. In diesen Stellungnahmen der
Ex-Gefangenen nehmen persönliche Auseinandersetzungen
untereinander, gegenseitiges Misstrauen, Enttäuschungen, Wut, Hass
und Verzweiflung großen Raum ein. Die Unterschiedlichkeit der Texte
ist auch die Stärke des Buchs. Es liefert eine vielschichtige
Innensicht auf ein Phänomen, das 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst
erneut die Bundesrepublik bewegt.
Aus den Aufsätzen wird klar: Ebenso schwer, wie es dem Einzelnen
fiel, sich der Vergangenheit zu stellen, war das gegenseitige
Aushalten in der Gruppe. Sogar für die professionellen Helfer: Von
den acht Therapeuten blieben nur zwei bis zum Schluss. Volker
Friedrich schildert die erste Sitzung: »Die meisten waren frisch
aus der Haft entlassen, oft nach über 12 bis 21 Jahren. Sie sahen
elend aus, leidend, rauchten ununterbrochen, sie gingen sich
gegenseitig aus dem Weg oder hingen eng zusammen.«
Knut Folkerts fühlte sich wie in einem »Tigerkäfig«: »Die
unbesprochenen Widersprüche aus 20 Jahren waren explodiert und
lagen als Trümmer zwischen uns.« Mit den Therapeuten als Puffer
zwischen den Beteiligten bildete sich trotz aller gegenseitigen
Widersprüche und Verletzungen langsam eine Vertrauensbasis in der
Gruppe. »Weil alle irgendwann gemerkt haben, dass das Verbindende
die existentielle Niederlage und vor allem die Anstrengungen waren,
daraus zu lernen«, schreibt Monika Berberich, die wegen Bankraubs
und Gefängnisausbruchs insgesamt 17 Jahre in Haft war.
Das Thema der Gruppe sollte die Traumatisierung der ehemaligen
Gefangenen durch Haft und Isolation sein. Doch schon bald erkannten
sie, dass sie sich ebenso durch die Beziehungen im ehemaligen
Kollektiv und ihre Erfahrungen nach der Haft traumatisiert fühlten.
»Freundschaften waren in der RAF nicht möglich«, vermerkt
Karl-Heinz Dellwo, vor 32 Jahren an der Besetzung der deutschen
Botschaft in Stockholm beteiligt. »Von den stillschweigend als
Leader Anerkannten gefasste Beschlüsse waren nicht mehr
diskutierbar«, erinnert sich Gabriele »Ella« Rollnik, die wegen der
Beteiligung an der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz 15
Jahre im Gefängnis saß. In der Illegalität oder in den
Hungerstreiks im Knast vereinigt, stand plötzlich jeder allein da.
»Nach der Haft war erst einmal Wüste.«
»Reden untereinander über all das findet bis heute nicht statt«,
klagt Dellwo, der den längsten Beitrag geschrieben hat. Bereits
1993 provozierte er, noch in Haft, mit einer ersten
selbstkritischen Veröffentlichung eine RAF-Spaltung. Über die alten
Widersprüche kam es auch in der Therapiegruppe bald zum Zerwürfnis.
Die einstige Spaltung wiederholte sich im Kleinen: Eine Hälfte der
Teilnehmer brach ab. Sie wollten über ihre Traumatisierung im
Gefängnis, nicht aber über interne Konflikte sprechen. Während der
Haft hatten alle ehemaligen Gefangenen an den alten Feindbildern
festgehalten, um die als zerstörerisch empfundenen Haftbedingungen
zu überleben.
Nur aufgrund des zeitlichen Abstands schafften die
Gruppenteilnehmer es, ihre »schweren Charakterpanzerungen«, wie
Therapeut Friedrich es nennt, abzustreifen und an dem mühseligen
Erfahrungsprozess festzuhalten, Widersprüche auszuhalten und
differenzierter zu denken. Im Gefängnis wäre dies unmöglich
gewesen. Insofern liefert das Buch auch ein überzeugendes Argument
für die Begnadigung Christian Klars und die Freilassung der
restlichen noch einsitzenden RAF-Mitglieder.
Auch vor dem Tabuthema der Todesnacht in Stammheim machen die Texte
nicht Halt: Es wird klar über Selbstmord gesprochen. Freimütig
räumen sie auch die politische Niederlage ein. Anfangs, schreibt
Dellwo, hätten sie noch »von der alten sozialen Kraftquelle der
68er« gezehrt, die aber mehr und mehr versiegt sei. »Umso rigider
wurde an der Form festgehalten, die zu bloßem Militarismus verkam«,
kritisiert Gabriele Rollnik. Ihren »Aufbruch« verteidigen sie nach
wie vor. Roland Mayer: »Das Projekt RAF ist gescheitert, vieles
daran war falsch, manches unentschuldbar. Dennoch war der Versuch
in dieser Welt richtig.« Wer einen verbalen Kniefall erwartet, der
wird enttäuscht.
Karl-Heinz Dellwo, der inzwischen die Legitimität der früheren
Mittel infrage stellt, räumt ein, »dass wir von keiner
Gegengesellschaft oder Gegenmoral reden können, wenn dies die
Möglichkeit von Geiselerschießungen und damit die vollständige
Verdinglichung von Menschen beinhaltet«. Offen gesteht er seine
Mitverantwortung für den Tod der beiden Botschaftsangehörigen in
Stockholm ein. Wer tatsächlich geschossen hat, verrät er nicht.
Diese konsequente Haltung über Jahrzehnte eint die
Ex-RAF-Mitglieder über alle Widersprüche hinweg. Das ist ihre
Stärke. So scheint die RAF weiterzuleben, obwohl sie seit zehn
Jahren nicht mehr existiert.
Ein Zurück gibt es für die Ehemaligen nicht. Doch irgendwo
angekommen sind sie ebenso wenig. Nach dem Zerbrechen der
identitätsstiftenden Gruppe fragt Knut Folkerts sich
stellvertretend: »Wie Halt finden in Bedingungen, die man einst
bekämpft hat? Wie eine Haltung zur Vergangenheit finden, mit der
ich leben kann?« Leider erfährt man nicht, wie die Ex-Gefangenen
das machen. Welchen persönlichen Preis sie für ihr Handeln zu
zahlen hatten, wie sie ihr Leben nach der langen Haftstrafe
gestalten. Denn sie teilen nur wenig über ihre Biografien mit. Ihre
Texte vermitteln dennoch höchst spannende Einblicke in die Psyche
der einstigen »Staatsfeinde Nummer 1«.