Rezension zu Kultur- und gesellschaftssensible Beratung von Migrantinnen und Migranten

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Rezension von Willy Klawe

Thema
Der Autor begründet eingangs die Motivation für seine Publikation mit drei zentralen Argumenten:
1. es ist und bleibt weiter notwendig, die Kultursensibilität psychologischer Beratung weiter zu entwickeln;
2. die verstärkte Zuwanderung von Geflüchteten in den letzten Jahren macht diese Notwendigkeit noch dringlicher;
3. künftig muss der gesellschaftlich-diskursive Kontext, in den die Beziehung von BeraterIn und zu Beratenden eingebettet ist, stärker berücksichtigt werden.

»Der gegenwärtige fachliche Diskurs zur interkulturellen psychologischen Beratungsbeziehung steht in Gefahr, die interkulturelle Arbeitsbeziehung auf die kulturelle Besonderheit zu reduzieren und die Auswirkungen der gesellschaftlichen Situation auf die Beziehung von InländerInnen und MigrantInnen zu vernachlässigen. Indem ich die Notwendigkeit eines mehrdimensionalen Ansatzes unterstreiche, möchte ich diesem Trend mit der vorliegenden Buchveröffentlichung gegensteuern.« (13)

Aufbau und inhaltliche Positionen
Zunächst beschreibt der Autor einleitend die bundesrepublikanische Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft und liefert eine knappe Skizze deutscher Migrationsgeschichte als einer Abfolge von Aus- und Einwanderung. Mit Verweis auf statistische Daten verdeutlicht er die kulturelle und ethnische Vielfalt unserer Gesellschaft, stellt aber zugleich fest: »Trotz aller Zuwanderungen und den damit verbundenen demografischen Veränderungen fällt es der Aufnahmegesellschaft in Deutschland immer noch schwer, sich als Einwanderungsland zu definieren und sich dazu zu bekennen. Politische Bekenntnisse zur ethnischen, kulturellen, religiösen Vielfalt in der Gesellschaft als hohes gesellschaftliches Gut stoßen immer noch auf starke Ressentiments und Ablehnung« (21) Der Autor lotet in seinen weiteren Ausführungen dieses Spannungsfeld zwischen Realität und vielfältigen Widersprüchen aus und deutet deren Auswirkungen auf mögliche Beratungssettings an.

Vor diesem Hintergrund setzt er sich kritisch mit dem gängigen Begriff »interkulturell« auseinander und kritisiert zu Recht, dass dieser die kulturellen Aspekte der Beziehungen betont, die damit immer auch verbundenen sozialen Aspekte und Verteilungskonflikte jedoch ausklammert. »So wird in der Betonung der kulturellen und nationalen Diversität nicht nur die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten zwischen den kulturellen Orientierungen, sondern darüber hinaus auch der Blick für Gemeinsamkeiten auf einen gesellschaftlichen Konsens…erschwert.« (25)

Plausibel erläutert der Autor die Bedeutung dieses gesellschaftlichen Kontextes für interkulturelle Begegnung und kultursensible Beratung und beschreibt prägnant die damit verbundenen Prozesse der Wahrnehmung und (Vor-)Urteilsbildung sowie unterschiedliche erkenntnistheoretische Konzepte im Umgang mit Fremdheit und Fremden.

Auf dieser Basis entwickelt er dann seine »Konzeption einer migranten- und kultursensiblen psychologischen Beratungsarbeit«. Mit Blick auf die kulturelle Sensibilisierung von Beratungsangeboten in anderen Ländern verweist er zunächst auf die Widerstände und Versäumnisse in Deutschland, die damit zu tun haben, dass lange Zeit der Charakter als Einwanderungsland geleugnet wurde. Erst zur Jahrtausendwende wurde die interkulturelle Öffnung der Beratungsdienste zum erklärten Ziel der einschlägigen Dachverbände. »Zugenommen hat die Anzahl muttersprachlicher PsychotherapeutInnen in den Sprachen der größten Migrantengruppierungen und auch in den stationären Einrichtungen finden sich zunehmend mehr Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit Migrationshintergrund, die mehrsprachig ihre Dienste leisten. Dennoch gibt es noch massive Defizite … sowohl im ambulanten wie auch im klinischen Bereich.« (43)

Ausgehend von seiner eigenen Praxis in der kirchlichen Beratungsarbeit entwirft der Autor ein einleuchtendes Beratungskonzept, das gleichermaßen die lebensgeschichtlich psychologische Perspektive erfasst, eine kulturelle Bedeutungsanalyse vornimmt, und
die gegenwärtige gesellschaftliche Situation in ihren Auswirkungen auf den Beratungsprozess zu analysieren versucht. Diese Ebenen entsprechen verschiedenen vom Autor so genannten »Verständnisfolien«, die er im Einzelnen ausführt und methodisch konkretisiert. »Diese Verständnisfolien sind Konstruktionen, die Fragerichtungen eröffnen, um ausgeblendete Bereiche der Wirklichkeiten besser erfassen zu können … Die Arbeit mit diesen Verständnisfolien erscheint aus den bisherigen Erfahrungen sinnvoll und notwendig für alle Etappen einer psychologischen Beratung, für den Auftakt, während der Beratungsreihe und zum Abschluss der Beratung.« (60f)

In diesem Zusammenhang thematisiert der Autor auch gängige »Klippen und Fallen« einer migrations- und kultursensiblen Beratung, u.a. eine Bagatellisierung der Minderheiten- und Mehrheitenwirklichkeit; eine Unterschätzung der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung der in der Beratung gesprochenen Sprachen; Sprachlosigkeit.

»Es gehört zu den Einsichten einer migranten- und kultursensiblen Beratungsarbeit, dass dieses Entschlüsseln von Bedeutungen und Übersetzen von Bedeutungen an eine große Bereitschaft und Fähigkeit gebunden ist, die Begrenztheit des eigenen kulturellen Bedeutungssystems zuzulassen.« (71) In diesem Kontext diskutiert er auch die Vor- und Nachteile einer Beratung unter Einbeziehung von Dolmetschern.

Als zusätzliche und notwendige Unterstützungsressource für die beratenden Fachkräfte ist deren Einbettung in unterschiedliche Teamstrukturen zwingend erforderlich. Der Autor erläutert verschiedene relevante Aspekte dieser Einbettung und verweist damit auch auf funktionale und strukturelle Bedingungen psychologischer Beratungsarbeit.

Nach der Beschreibung der strukturellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche migrations- und kultursensible Beratung wendet sich der Autor den individuellen subjektiven Voraussetzungen zu. »Diese Kompetenz beinhaltet keine neue psychologische Metatheorie, sondern zielt auf die Fähigkeit, psychologische Konzepte und Fertigkeiten unter den Bedingungen einer multiethnischen, multikulturellen Gesellschaft mit Minderheiten und einer Mehrheitsbevölkerung in der psychologischen Beratungsarbeit anzuwenden.«(87) Stichwortartig und dennoch differenziert zählt der Autor die notwendigen Kenntnisse, Reflexionen und Handlungskompetenzen auf und deutet gelegentlich auch an, auf welche Weise sie erworben und weiter entwickelt werden können.

Sehr praktisch und anschaulich wird die Arbeit mit den bereits erwähnten »Verständnisfolien« im darauf folgenden Abschnitt über Praxisfelder des hier vorgestellten Beratungskonzeptes. Der Autor stellt ein breites Spektrum möglicher Praxisfelder vor und illustriert diese mit Fällen oder Situationsskizzen aus der Beratungsarbeit. In der Deutung dieser Situationen kommen die erwähnten »Verständnisfolien« zur Anwendung und erweisen sich als adäquates und produktives Instrument einer kultursensiblen Wahrnehmung und Interpretation der Lebenswelt der/des Ratsuchenden, auch wenn man der Interpretation des Autor inhaltlich nicht in jedem Fall folgen mag.

Das Buch endet mit einem engagierten Plädoyer für eine interkulturelle Öffnung von Trägern und Beratungsstellen, um Menschen mit Migrationsgeschichte den ungehinderten Zugang und die Nutzung migrations- und kultursensibler Beratungsangebote zu ermöglichen. Allerdings befinden wir uns in dieser Hinsicht noch am Anfang eines (vermutlich) langen Weges.

Fazit
Der Autor hat mit dem vorliegenden Band eine knappe, klare und verständliche Einführung in die Thematik vorgelegt, die geeignet ist, auch erfahrene Beraterinnen und Berater für die besonderen Anforderungen einer kultursensiblen Beratung zu sensibilisieren. Der Band bietet eine Reihe hilfreicher praktischer Anregungen für die Gestaltung einer produktiven Beziehung und eines hilfreichen Prozesses in der Beratung von Menschen mit Migrationserfahrung. Dabei kann der zusätzliche Fokus auf den je aktuellen gesellschaftlichen Kontext helfen, Irritationen und Widerstände in der Beratung zu erkennen, erklären und zu verändern

Rezensent
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)

Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 08.10.2018 zu: Norbert Kunze: Kultur- und gesellschaftssensible Beratung von Migrantinnen und Migranten. Konzepte für die psychologische und psychosoziale Praxis. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN 978-3-8379-2814-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24531.php, Datum des Zugriffs 19.10.2018.

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