Rezension zu Kultur- und gesellschaftssensible Beratung von Migrantinnen und Migranten (PDF-E-Book)
bke. Informationen für Erziehungsberatungsstellen 2/18
Rezension von Paul Friese
Prägnanz und Klarheit
Norbert Kunze? Muss man den kennen? Den meisten Fachkräften in der
Erziehungsberatung dürfte dieser Name eher nicht bekannt sein.
Zumal Publikationen von Norbert Kunze ziemlich rar sind und oft
nicht leicht zugänglich. Und Kunze war eigentlich in einem anderen
Beratungssegment zu Hause – in der Paar-, Familien- und
Lebensberatung.
In der »Szene« der psychosozialen Einrichtungen für
Migrationsfamilien ist Norbert Kunze allerdings eine eminent
wichtige Persönlichkeit – als Gründer und langjähriger Leiter einer
interkulturellen EFL-Beratungsstelle (in Reutlingen), als profunder
Kenner der internationalen Literatur zu psychologischen und
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Folgen von Migration und
Flucht und über Jahre hinweg als Leiter und Koordinator der Treffen
interkultureller Beratungsstellen in Deutschland. Nach dem von ihm
veröffentlichten Modell migranten- und kultursensiblen
Fallverstehens (von uns Anwendern der Einfachheit halber
»Kunze-Modell« genannt) werden Fachkolleg/innen seit vielen Jahren
in Weiterbildungen für interkulturell kompetente Fallarbeit
sensibilisiert und geschult. Eine quasi szenische Darstellung
dieses Modells wurde bereits 1998 bei der bke-Jahrestagung
präsentiert und im Jahr 2000 als Aufsatz in dem Band »Fremdheit in
Beratung und Therapie« durch die bke publiziert.
Wenn Norbert Kunze nun sein Buch Kultur- und gesellschaftssensible
Beratung von Migrantinnen und Migranten im Psychosozial-Verlag
publiziert, ist ihm die Aufmerksamkeit der im interkulturellen
Bereich besonders aktiven Beratungsfachkräfte gewiss. Es ist ein
eher schmales Bändchen, in dem der Autor prägnant und fokussiert
seine bisher in Einzelartikeln publizierten Beiträge zur
interkulturellen Beratungsarbeit zusammenfasst und
weiterentwickelt.
Auseinandersetzung mit Begriffen
Und schon ist der Rezensent aus lauter Gewohnheit den Fallstricken
sprachlicher Ungenauigkeit zum Opfer gefallen: Denn Kunze setzt
sich kurz und bündig mit den Unzulänglichkeiten der Begriffe
»inter- und transkulturell« und »international« auseinander, deren
Einseitigkeit bzw. Mehrdeutigkeit er kritisiert. Er entscheidet
sich daher für die Formulierung »migranten- und kultursensible
Beratungsarbeit«. Diese Begrifflichkeit ist nicht wirklich griffig,
aber schlüssig und nachvollziehbar. Auch der migranten-und
kultursensiblen Kompetenz (meist »interkulturelle Kompetenz«
genannt) ist ein Kapitel gewidmet.
Im Untertitel heißt der Band Konzepte für die psychologische und
psychosoziale Praxis, und das verdeutlicht gut, was der Autor will:
Es ist kein Rezeptbuch für knifflige interkulturelle
Beratungssituationen (was bei der Vielschichtigkeit der
Migrationsthematik ohnehin völlig absurd wäre, gerne aber von
Fachkolleg/innen gefordert wird), sondern es formuliert Grundlagen
und Hintergründe für einen wissenschaftlich fundierten und der
Diversität des Themas angemessenen Diskurs zur psychologischen
Beratungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft.
Gerade die derzeit aufgeheizte politische Diskussion, die zunehmend
um das Thema Fremdheit und Migration kreist, macht überdeutlich,
dass psychosoziale Beratungsarbeit mit Migrationsfamilien nur im
Kontext der Aufnahmegesellschaft und ihrer Rahmensetzungen für die
eingewanderten Menschen betrachtet werden kann. Dabei wird häufig
genug kulturalisiert und mit Aversionen gegen andere Ethnien,
Religionen und Werte operiert, als könne man die Ungleichheit der
Machtverhältnisse und die unzureichende Partizipation von
Migrant/innen dadurch quasi legitimieren.
Multiperspektivische Betrachtungsweise
Dagegen setzt Kunze Differenzierung, plädiert für eine migranten-
und kultursensible Orientierung und entwickelt in seinem Konzept
»Verständnisfolien« für die migranten- und kultursensible
psychologische Beratung. Im Mittelpunkt des Modells steht natürlich
die Klient/innen-Berater/innen-Beziehung als Gestaltungsaufgabe für
die Beratung. Sie wird eingerahmt von dem gesellschaftlichen, dem
kulturellen und dem psychologisch-lebensgeschichtlichen
Bedeutungskontext. Diese multiperspektivische Betrachtungsweise,
die ermöglicht, Beratungsanlass und -anliegen, Werthaltungen und
die gesellschaftliche Positionierung der Ratsuchenden
differenzierend, aber im Zusammenhang zu betrachten, korrespondiert
– wie Kunze ausführt – mit der Notwendigkeit, dass Berater/innen
sich im Rahmen von Selbsterfahrung mit eigenen Befangenheiten und
Vorurteilen auseinandersetzen.
Dadurch, dass der Autor den jeweiligen Verständnisfolien auch
Fragerichtungen zuordnet, die den Berater/ innen Anregungen für die
Gestaltung des Beratungsprozesses geben können, ist das Buch dann
doch sehr praxisorientiert und anregend für den Beratungsalltag.
Das gilt genauso für das Kapitel, das sich mit dem für die Arbeit
mit Migrationsklientel zentralen Thema »Sprache und
Sprachlosigkeit« beschäftigt.
Was Kunze über die Bedeutung des Teams für die migranten- und
kultursensible Beratungsarbeit formuliert, ist sicher stark an der
Teampraxis der von ihm geprägten Beratungsstelle orientiert und
daher nicht unbedingt im Detail vollständig auf andere Teams
übertragbar. Auch ist vielleicht die Einschätzung, dass Fachteams
sich zunehmend durch ihre multikulturelle Zusammensetzung und
intensivere Beschäftigung mit Migrationsklientel weiter entwickeln,
ein wenig zu optimistisch. Aber dem Grundgedanken, dass die
Reflexionskultur in den Teams der Beratungsstellen ein
Gütekriterium auch für migranten- und kultursensible
Beratungsarbeit ist, und dass dies umso mehr zum Tragen kommt, wenn
die Teams auch multikulturell zusammengesetzt sind, kann nur
beigepflichtet werden.
Ein Kapitel mit Fallvignetten aus unterschiedlichen Praxisfeldern
psychosozialer Beratung und ein knapper Blick auf die Verantwortung
der Träger auf der institutionellen Ebene vervollständigen die
Übersicht über das vielschichtige Thema der migranten- und
kultursensiblen Beratungsarbeit.
Insgesamt beeindruckt das Buch durch seine Prägnanz und Klarheit,
auch wenn der Rezensent an der einen oder anderen Stelle gerne noch
mehr aus dem großen Fundus des Autoren geschöpft hätte. Trotz der
Knappheit der Darstellung ist es aber keineswegs verkürzt oder gar
oberflächlich. Im Gegenteil, bei allem Praxisbezug besticht es auch
durch den Blick auf die gesellschaftliche Dynamik der
Einwanderungsgesellschaft und durch erkenntnistheoretische
Vertiefungen, z.B. zum Thema Fremdheit. Für Fachleute, denen die
interkulturelle (Verzeihung: migranten- und kultursensible)
Beratung ein Anliegen ist, ist es unbedingt empfehlenswert. Für
alle anderen erst recht.
Paul Friese