Rezension zu Sozialisation und Behinderung

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Rezension von Mathias Stübinger

Thema
Die Perspektive, Behinderung keinesfalls als ein ausschließlich individuelles, personenbezogenes Phänomen zu begreifen ist – im aktuellen fachlichen Diskurs der verschiedenen Fachdisziplinen längst einem biopsychosozialen Verständnis gewichen; Behinderung wird heute – kontextbezogen – anhand beobachtbarer Beeinträchtigungen im Bereich von Aktivitäts und Teilhabemöglichkeiten an allen gesellschaftlichen Bereichen (Arbeit, Wohnen, Freizeit, kulturelles Leben etc.) verstanden; die Auseinandersetzung mit der Diversität von Behinderung verlangt folgerichtig nach einer möglichst ganzheitlichen Betrachtung der Lebensumstände betroffener Menschen; individuelle Handicaps und/oder Schädigungen im Bereich von Körperfunktionen und strukturen sind stets in Relation zu Umwelt und Umfeldfaktoren zu sehen.

Der analytisch reflektierte Blick auf die prägenden Wirkungen gesellschaftlicher Haltungen, Beziehungen und Bedingungen für die Diagnose und Bewertung von Behinderung fand – so Peter Rödler in seinem Vorwort zur Neuauflage dieses Buches seine Anfänge tatsächlich allerdings erst in den Anfängen der 1970er Jahre; Wolfgang Jantzen war demnach einer der ersten Lehrenden und Forschenden im Bereich der Behindertenpädagogik, der Behinderung speziell Geistige Behinderung als gesellschaftliches Konstrukt darstellte (vgl. S. VIIf.).

Der vom Psychosozial-Verlag als Faksimileausgabe wieder zugänglich gemachte Text: »Sozialisation und Behinderung. Studien zu sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik« stellte seinerzeit eine der ersten – sehr kontrovers diskutierten Veröffentlichungen dar, die auf einer breiten soziologischen Basis Behinderung als gesellschaftliches Produkt und Konstrukt thematisierte.

Autor
Prof. Dr. Wolfgang Jantzen studierte an den Universitäten Gießen und Marburg und erwarb hier die u.a. Abschlüsse für das Lehramt in Grund-, Haupt- und Realschulen; er ist Diplom-Psychologe und Sonderschullehrer; 1972 promovierte er in Erziehungswissenschaften mit den Nebenfächern Psychologie und Soziologie; von 1974 bis 2006 war er Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen; seine Vita verzeichnet unter anderem die Wilhelm-Wundt-Professur für Psychologie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig (1987/1988) oder eine Forschungsprofessur an der Staatlichen Universität São Carlos in Brasilien im Jahre 2010 (vgl. hierzu und im Folgenden www.basaglia.de/Vita/vita.html).

Neben der vorliegenden Neuauflage seiner erstmals 1974 veröffentlichten Publikation: »Sozialisation und Behinderung« zählen – auch nach eigener Einschätzung des Autors Titel wie die folgenden zu den wegweisenden Texten des Verfassers:

- »Grundriss einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie«, Köln 1979
- »Sozialgeschichte des Behindertenbetreuungswesens«, München 1992
- »Allgemeine Behindertenpädagogik Band I und Band II«, Berlin 2007 (www.socialnet.de/rezensionen/4778.php)
- »Einführung in die Behindertenpädagogik«, Berlin 2017 (www.socialnet.de/rezensionen/21491.php)

Aufbau und Inhalt
Als Ergänzung zum Originaltext begründet – wie schon erwähnt ein kurzes Vorwort zur Neuauflage des in Koblenz lehrenden Prof. Dr. Peter Rödler – die originäre Bedeutung des Buches für die Sonder und Heilpädagogik; erstmals wird Behinderung in der Art und Weise begriffen und analysiert, die schließlich im international anerkannten biopsychosozialen Verständnis von Behinderung mündet mit seinen wechselwirkenden Zusammenhängen von impairment (Schädigung), disability (funktionelle Einschränkung) und handicap (soziale Beeinträchtigung).

Die Bedeutung einer unveränderten Neuauflage des ursprünglich originären, innovativen, wegweisenden Textes begründet Peter Rödler darin, dass es – trotz stets fortgeführter Forschungen und Fortschreibungen zu den sozialwissenschaftlichen Grundlagen der Behindertenpädagogik – geboten scheint, die Gedanke von Wolfgang Jantzen wieder sichtbar zu machen um damit Hilfe bei einer (neuerlichen) Annäherung an die pädagogischen und soziologischen Fragestellungen von Inklusions und Teilhabeforschung zu geben.

Wolfgang Jantzen greift in einem anschließenden, selbst verfassten Vorwort zur Neuauflage in Form einer Retrospektive die Fragestellung auf, was er denn 1974 eigentlich geschrieben habe und wie die Rezeption und Weiterentwicklung seines seinerzeit fundamental von der gängigen Lehrmeinung abweichenden – Ansatzes verlaufen sei; der Verfasser schildert kurz die Entstehungsgeschichte seines Buches und gibt – anhand einer kurzen Skizze der einzelnen Kapitel – einen Überblick über Aufbau und Relevanz des Textes; deutlich wird die grundlegende Idee des Autors, einen Paradigmenwechsels in der Behindertenpädagogik einzuleiten und eine – auf Karl Marx zurückzuführende sogenannte materialistische Behindertenpädagogik zu entwickeln und zu implementieren.

Nach diesen beiden einleitenden Kapiteln erfolgt der – unkommentierte und nicht editierte – Nachdruck des Originaltextes aus dem Jahre 1974.

In einer knappen Vorbemerkung skizziert Wolfgang Jantzen zunächst die Entstehungsgeschichte seines Textes.

Die anschließende Einleitung verdeutlicht die Zielperspektiven des Buch / Forschungsprojektes; vor allen Dingen soll es – so der Autor darum gehen, eine weitgehend fehlende sozialwissenschaftliche Fundierung im Umgang mit dem Phänomen Behinderung auszugleichen und aufzuzeigen, inwieweit gesellschaftliche Verhältnisse eine Behinderung konstituieren, sie behandelbar oder aufhebbar machen; kurz begründet wird auch die Wahl des im Weiteren präferierten Begriffs der Behindertenpädagogik anstelle von Heilpädagogik oder Sonderpädagogik.

Das 2. Kapitel ist der Begriffsklärung gewidmet; im Kontext des – zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung – fachlichen Diskurses wird z.B. Sozialisation als ständig sich erneuernder Wiederspruch zwischen biologischer Ausstattung und gesellschaftlichen Verhältnissen beschrieben (S. 11); Behinderung kann dementsprechend nicht als naturwüchsig verstandenes Phänomen betrachtet werden; vielmehr wird Behinderung erst existent, wenn Merkmale und Merkmalskomplexe eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und Kommunikation in Bezug und Wechselwirkung gesetzt werden (S. 21); über den Exkurs von als Stigmatisierung zu wertenden »Behinderungsformen« wie »Lernbehinderung« oder »Verhaltensstörung« entwickelt / ergänzt Wolfgang Jantzen eine Idee des biopsychosozialen Zusammenwirkens von Einflussfaktoren wie Schaden, Mangel und Defekt, Schädigung oder Beeinträchtigung und typisiert schließlich Behinderung als primär soziale Variable (S. 28).

Das anschließende 3. Kapitel beinhaltet Fragmente zu einer Sozialgeschichte der Behinderung; es wird thematisiert, was in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung aus Sicht der Sozialwissenschaft historisch betrachtet gefordert, errichtet oder bekämpft wurde; es soll aber gleichermaßen hinterfragt werden, wer dies getan hat und für wen, in welchem Zeitraum, in welchem Umfang und mit welcher Begründung das jeweils erfolgt ist; die historische Betrachtung des Umgangs mit Behinderung umspannt – verständlicherweise in Form kurzer Skizzen – unterschiedlichste Perspektiven und Epochen, der Bogen spannt sich von der der Urgesellschaft über die Seßhaftwerdung der Menschen bis hin zu den Feudalgesellschaft des Mittelalters; Ereignisse wie die Industrielle Revolution oder Stichworte wie Kapitalismus werden ebenso aufgegriffen, wie der ausgrenzende, vernichtende Umgang mit Menschen mit Behinderung im so genannten Dritten Reich (um nur einige Schlagworte zu nennen); insbesondere die Betrachtung der Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland verknüpft der Autor wiederholt mit ökonomischen Fragestellungen, wie den Diskussionen um den Erhalt der Arbeitskraft von Menschen mit Behinderung und der entsprechenden Funktion der Sozialgesetzgebung; eingebundene statistische Daten, wie z.B. zur Entwicklung der Hilfsschulen sind hier verständlicherweise in ihrer Aktualität überholt; sie dokumentieren aber durchaus das geltende Grundverständnis zu dieser Zeit.

Im 4. Kapitel stehen Der Behinderte in der Sozialstruktur der BRD: Herkunft und soziale Lage im Fokus; zentral betrachtet werden der Zusammenhang zwischen der ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik und der sozialen wie wirtschaftlichen Lage der Menschen mit Behinderung; die zeigt sich z.B. im Diskurs von Begriffen wie »Arbeitskraft minderer Güte« oder »Reparatur der Arbeitskraft«; im Kontext des vorhandenen Qualifikationsgrades von Menschen mit Behinderung arbeitet der Autor heraus, dass Bildungs und Ausbildungsmöglichkeiten von der sozialen Schicht der Individuen abhängig sind; Thesen, wie die Tatsache, dass mit sinkender sozialer Schicht der relative Anteil von Menschen mit Behinderung in dieser sozialen Gruppe steigt oder dass mit dem Eintritt einer Behinderung die Veränderung der individuellen Position innerhalb der Sozialstruktur beginnt sind bedauerlicherweise unverändert zeitgemäße Phänomene; auch, dass unterschiedliche gesellschaftliche Klassen existieren, die entsprechend unterschiedlich, ungleich und ungerecht an Entwicklungsperspektiven partizipieren, erscheint wenig verändert; erschreckend – für eine reiche Gesellschaft, wie die der Bundesrepublik – ist die Erkenntnis, »dass behindert vor allem der wird, der arm ist, und dass der, der behindert ist, arm wird« (S. 127).

Das abschließende 5. Kapitel skizziert Das Bild vom Behinderten in der BRD; Wolfgang Jantzen verfolgt – anhand der schon aufgezeigten Zusammenhänge von ökonomischen Verhältnissen und gesellschaftlichen Bewusstseinsformen – die Entstehung von Vorurteilen und Stigmatisierungsprozessen gegenüber Menschen mit Behinderung; Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist eine an Karl Marx orientierten Kritik an der Ökonomie, am Rechts, der Moral usw.; Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung »sind somit aus der Gesamtheit des Menschenbildes in der kapitalistischen Gesellschaft begreifbar. Sie sind Ausdruck der Entfremdungs und Verdinglichungsprozesse innerhalb der Gesellschaft, wobei Teile des Menschenbildes vergangener Epochen erhalten bleiben, soweit sich diese in das herrschende falsche Bewusstsein eingliedern« (S. 149).

Die abschließende Schilderung von – wieder im Zeitkontext zu verstehenden – empirischen Untersuchungen verdeutlicht z.B. anhand einer »Rangordnung des Krankheitsprestiges aus den Angaben westdeutscher Nervenärzte« (S. 153) oder über die »Rangreihe von Behinderten nach der Größe der ihnen gegenüber empfundenen sozialen Distanz« (S. 160) die teilweise tief sitzenden Vorbehalte gegenüber Menschen mit Behinderung; auch, wenn Begrifflichkeiten und Datenmaterial nach heutigen Maßstäben z.T. doch deutlich überholt erscheinen, wird klar, wie problematisch das Bild von Menschen mit Behinderung war und ist und »wie schwer es ist, ein solches Menschenbild als Teil eines falschen Bewusstseins zu verändern« (S. 179).

Diskussion
Die unveränderte Wiederauflage des vorliegenden und in jedem Fall wegweisenden Buches von Wolfgang Jantzen aus dem Jahre 1974 hinterlässt bei interessieren Lesern und Leserinnen vermutlich vielfach ein ambivalentes Gefühl.

Einerseits ist es spannend, einen Einblick in den fachlichen Diskurs der Behindertenpädagogik in den 1970er Jahren zu gewinnen; es ist erstaunlich, wie aktuell viele Gedanken und Erkenntnisse des Autors auch in Zeiten von gelegentlich ein wenig zu schlagwortartig genutzten Begriffen wie Empowerment, Normalisierung, Partizipation, Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderung sind; an manchen Stellen erscheint es so, als ob sich die Rahmenbedingungen der pädagogischen Betreuung und Begleitung von Menschen mit Behinderung kaum verändert hätten und viele gesellschaftliche Vorurteile gegen Menschen mit Behinderung unverändert nicht überwunden sind; denkbar ist gar, dass bestimmte Vorbehalte gegenüber den betroffenen Menschen in Zeiten unruhiger gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen wieder zunehmen.

Andererseits wird – unter Berücksichtigung der oben genannten pädagogischen Grundprinzipien und gerade auch im Hinblick auf die sozial-historischen Betrachtungen im vorliegenden Text (Kapitel 3) – deutlich, dass es an vielen Stellen doch deutliche Forstschritte in sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik zu verzeichnen gibt; so ist es doch beachtlich, dass im Text genutzte Begrifflichkeiten wie »geisteskrank«, »idiotisch«, »schwachsinnig« etc. im fachlichen Diskurs keine Bedeutung mehr besitzen und das biopsychosoziale Verständnis von Behinderung auch Eingang in die deutsche Sozialgesetzgebung gefunden hat.

Was der Neuauflage eines solchen – und unbestritten bedeutenden Buches zu wünschen wäre, dies ist dann aber doch eine – zumindest in Form eines Nachwortes / einer Nachbetrachtung – erfolgte Aktualisierung der empirischen Grundlagen und Erkenntnisse, verbunden mit einer entsprechende Neubewertung des geschilderten Bildes von Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik.

Fazit
Wolfgang Jantzens Beiträge zu einem Paradigmenwechsel in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung ist unbestritten; die Wiederauflage von »Sozialisation und Behinderung« hilft in der Tat dabei, sich dem Themenspektrum noch einmal neu anzunähern und weitere, vertiefende und aktualisierte Fragestellungen zu entwickeln.

Insofern erscheint das besprochene Buch vor allen Dingen Leserinnen und Lesern empfohlen, die – z.B. in Lehre und Forschung – (noch einmal) grundlegend über aktuelle Fragestellungen der Behindertenpädagogik nachdenken.

Literatur
www.basaglia.de/Vita/vita.html (Datum des Zugriffs: 23.09.2018)
www.socialnet.de/rezensionen/4778.php) (Datum des Zugriffs: 23.09.2018)
www.socialnet.de/rezensionen/21491.php (Datum des Zugriffs: 23.09.2018)

Rezensent
Dipl. Soz.-Päd. Mathias Stübinger
Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Hochschule Coburg, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, u.a. in tätig in den Lehrgebieten: Sozialmanagement / Organisationslehre / Praxisanleitung und Soziale Arbeit für Menschen mit Behinderung

Zitiervorschlag
Mathias Stübinger. Rezension vom 02.10.2018 zu: Wolfgang Jantzen: Sozialisation und Behinderung. Studien zu sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN 978-3-8379-2790-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24205.php, Datum des Zugriffs 17.10.2018.

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