Rezension zu Vaterbilder im Wandel

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Rezension von Wolfgang Jergas

Thema
Was ist ein Vater? Was soll, was muss er können? Wie darf er sein, was ist ihm verboten – und worauf gründet seine Rolle, wer führt sie fort, wer sorgt für den Wandel. Und: ist da eigentlich auch was angeboren?

Autor
Luigi Zoja, Jahrgang 1943, ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Mailand, Lehranalytiker und Dozent am C.G.Jung-Institut in Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen.

Entstehungshintergrund
Ausgangspunkt ist für Zoja der Moynihan-Report von 1965, wiederveröffentlicht 1981, zur Lage der afroamerikanischen Familien in den USA, für die in Nordamerika die Ein-Eltern-Familie für 70 % das praktizierte Familienmodell ist und keine Abkehr davon zu erwarten ist, und dass die traditionelle Vater-Mutter-Kind(er)-Familie ebenfalls in Auflösung begriffen ist, die Zahl geschiedener Ehen mit Kind sei gestiegen und eine Umkehr nicht in Sicht.

Zwei Gründe, dieses Thema zu wählen: der erste ist die Säkularisierung in deren Folge kein Gott im Himmel und kein Stellvertreter mehr auf Erden und der zweite: zwar steigt das Bewusstsein, dass Väter eine wichtige Rolle bei der Menschwerdung des Nachwuchses spielen, zwar bleiben mehr Väter als vor 30/40 Jahren auch zu Hause zwecks Kindererziehung und Arbeitsübernahme, aber immer noch bleibt nach der Scheidung die überwiegende Anzahl der Kinder bei der Mutter. Also mehr Väter aber weniger Familie?

Als Psychoanalytiker ist Zoja an den psychischen Strukturen, die sich aus solchem gesellschaftlichen Wandel ergeben, professionell interessiert, als Jungianer bezieht er neben der individuellen Entwicklung der Einzelpsyche (Vater-Mutter-Kind) in großem Umfang auch die kollektiven psychischen Strukturen mit ein: hierzu gehören die überlieferten Mythen über die Weltentstehung, die Epen der Ägypter, der Griechen und Römer, die Religionen und Stammesmythen u.a.m. (vgl. z.B. Norbert Bischof: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. München, Zürich 1996)

Aufbau
Nach den Präliminarien (Vorwort zur deutschen Ausgabe, Vorwort, Dank, Einleitung) rollt er in vier Kapiteln seine Überlegungen auf:

Zu 1.Prähistorie
Eine Position ist zu besetzen: die des Vaters. Nach jahrtausendealter Tätigkeit hat sich herausgestellt, dass er in seiner Position nicht mehr befriedigend funktioniert, ja vielmehr, dass inzwischen andere seine Position aufgeteilt haben und die Teilfunktionen besser erfüllen, sodass die Stelle notfalls wegfallen kann, wenn nicht neue Aufgabenstellungen gefunden werden. Wie konnte es dazu kommen?

Der Vater als psychisches Konstrukt ist in der Menschheitsgeschichte relativ neu, entstand erst, als der Mensch (homo sapiens sapiens) sich vom Affen zu lösen begann und die Nahrung und die Suche danach nicht mehr der alleinige Zweck der Horde war. Der Übergang von der allzeitmöglichen Kopulation zur Zyklusgebundenen und die für die Nachkommen notwendigen Brutpflege innerhalb einer monogamen Triade erzwangen eine Loslösung vom instinktgebundenen zum kulturvermittelten Zusammenleben. Der Nahrungserwerb musste sich längerfristiger Planung unterwerfen, eine bewußtseinslose Jagd nach Beute, oft über weite Strecken und Zeiträume hinweg, hätte letztendlich nur zum Untergang der Horde geführt, erst die geplante lebende Rückkehr mit Beute gab dem Unternehmen einen Sinn. Dies musste nun auch bewußtseinsmäßig nachgebildet werden, Arbeitsteilung, Rollenverteilung, Zuordnung bestimmter Fähigkeiten zum Geschlecht nahmen von hier aus ihren Anfang, für die Instinkte entsteht nun ein Steuerungsorgan, die Psyche.

Die Männchen werden nicht mehr nach ihrer Zeugungsfähigkeit sondern nach ihrer »sozialen Orientiertheit« ausgesucht, ihre Mitarbeitsfähigkeit und empathische Orientierung werden zum Selektionsvorteil.

Zu 2. Mythos und klassische Antike
Was war zuerst – Matriarchat oder Patriarchat? Eine unendliche Geschichte, je nachdem, ob wir über die soziale historische Wirklichkeit streiten oder uns die Mythen, in denen ja solche Verhältnisse sich auch niederschlagen, vornehmen. Die »materiellen« Beweise, die vorgebracht werden (Sprachliche Ausdrücke für väterliches und mütterliches, Bilder in Höhlen, Grabbeilagen) stuft Zoja als eher willkürlich ein: demgemäß könnte man eine Herrschaft der Tiere postulieren, anhand der vielen Tierbilder in den Höhlen, oder unsere Gesellschaft als weiblich-matriarchalisch, begründet durch die vielfältig produzierten Bilder von Frauen in Zeitschriften und Filmen. Da unsere Gesellschaft auf der griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Tradition aufbaut, wendet Zoja sich überwiegend deren mythischen Belegen zu, da unsere Bezüge zur ägyptischen und indischen oder chinesischen Kultur eher weniger stark seien.

Hier sei noch einmal hervorgehoben, dass der Autor sowohl aus historischen Quellen schöpft als auch den Epen, künstlerischen Darstellungen in Wort, Bild und Schrift, auch der Alltagskultur eine Abbild- und Geschichtsschreibungsfunktion zugesteht.

Aus drei Personen der griechischen und römischen Sagenwelt entwickelt Zoja das Bild des Mannes und Vaters, das sich über die Jahrhunderte erst durchsetzte und dann kritisiert und de-konstruiert wurde: Hektor, Odysseus und Aeneas.

Anhand einer Szene aus der Ilias beschreibt Zoja die männliche Doppelfunktion: Hektor kommt vom Schlachtfeld zu Frau und Sohn zurück, im Verlaufe des Gesprächs wendet er sich dem Sohn zu, der aber erschrickt, da Hektor noch seinen Helm trägt. Erst als er ihn absetzt, erkennt der Knabe ihn. Hektor ist in der Ilias beides, im Unterschied zu beispielsweise Achilles: »Er ist Krieger und er ist Familienvater. Zwar haben auch andere Heroen des Epos Kinder, aber zwischen ihrer Rolle als Kämpfer und ihrer Rolle als Vater besteht kein Zusammenhang. Hektor dagegen ist das eine in Bezug auf das andere: Er ist Krieger, weil er Vater ist.« (S. 79)

In dieser Szene aus der llias wird auch die Funktion der Rüstung des Vaters sichtbar. Die Rüstung schützt vor dem Aussen, vor dem Angriff des Feindes, aber es braucht auch den Schutz nach innen: »Da die Milde imstande ist, Ordnung und Plan zu untergraben, muss ihr entschiedene Härte entgegengesetzt werden, die kalt ist wie eine Rüstung. Das Patriarchat hat uns an diese Rüstung gewöhnt und uns vergessen gemacht, dass der Sinn und Zweck dieser Rüstung darin besteht, das darunter Liegende zu schützen: Der Etymologie zufolge ist die Rüstung (‚corazza‘) das, was das Herz (‚cor‘) schützt.« (S. 81) Wird sie im Inneren des Hauses nicht rechtzeitig abgelegt, kommen keine echten Kontakte zustande.

In Odysseus finden wir zum ersten Male in der abendländischen Mannesdarstellung die innere Ambivalenz ausgebildet und die Reflexion an die Stelle sofortiger Triebbefriedigung. Odysseus kann warten: auf die günstige Gelegenheit im zweiten Falle, auf die Reifung des Gedankens im ersten. Vor dem Losstürmen innehalten, erst dann losstürmen, wenn alle Eventualitäten berücksichtigt sind – so arbeitet sich Odysseus durch den Fluch der Götter durch zurück zu seiner Familie.

Dass die Verpflichtung des Vaters nicht nur dem Sohn, sondern auch den Vätern gilt, zeigt die Darstellung des Äneas aus der Aenaeis, der, seinen Vater auf der Schulter und seinen Sohn an der Hand, aus Troja flieht. Ist bei Homer die Differenzierung der männlichen Rolle in der Gesellschaft und die Differenzierung der männlichen Psyche zugunsten der Familie der Kern der Geschichte, so bei Vergil die Konstitution einer überdauernden Form sozialen Lebens, in der nicht mehr das instinktgesteuerte Männchen die Gruppendynamik bestimmt sondern die bewußt herbeigeführte und aufrechterhaltene Ordnung. Äneas kämpft gegen den Instinkt an, der wie auch in späteren Jahrhunderten bei jungen Männern letztendlich zum Tod auf dem Schlachtfeld führt, zugunsten einer gezielten Operation, aus der der Geist, der den Plan ersinnt, Befriedigung schöpft. Aneas, der seinen Vater auf die Schulter nimmt, den Sohn an der Hand aus Troja flieht, um woanders eine neue Gesellschaft zu schaffen, entscheidet sich für eine vertikale Ordnung, gegen eine horizontale, die doch nur dem Kampf der Horde gegen die andere Horde das Wort spricht. Gleichzeitig bleibt aber der Konflikt unentschieden zwischen »zwei psychischen Strukturen: dem Mann der Horde und dem Mann der individuellen Verantwortung, den (z.B., W.J.) die römische Gesellschaft in den Vätern verkörpert sah.« (S. 133)

Zu 3. Die Neuzeit und der Niedergang des Vaters
Im frühen römischen Recht wurden die Söhne erst dann zu Mitgliedern in der Familie des Vaters, wenn dieser sie durch Aufheben bzw. Hochheben als sein Kind anerkannte, ansonsten nicht. Sie waren dann eventuell Mitglieder im Haus, genossen aber keine Privilegien. Für die Töchter galt nur eine Unterhaltsverpflichtung. Erst später in der römischen Geschichte wurde der Vater dazu verpflichtet, als Ernährer Verantwortung zu übernehmen, als »pater (familias«“ bestimmte er, zu wem er Vaterschaft einging und zu wem nicht. (S. 147) Psychologisch lehnt sich das an die prähistorischen Beziehungen an, in denen der Mann seine Familie und seine Kinder gegenüber den anderen Weibchen bevorzugte (wenngleich man sich dieses für die Vorzeit nicht als reflektierten Vorgang vorstellen sollte, vielmehr sprachen die Fakten). Rechtlich konstituierte im alten Rom der Mann die Vaterschaft durch das Ritual. Psychologisch ist das nach Zoja stimmiger als die biologische Orientierung der Herkunft, braucht doch das Kind erst und ausschließlich die Mutter, erst später tritt der Vater hinzu um weitere Aufgaben der Sozialisation und Enkulturation zu übernehmen. Vaterschaft ist also ein soziales Konstrukt.

Die neue Religion, das Christientum, verwies den Vater in den Himmel, gleichzeitig setzte sich der Sohn als Erdenmensch in die Gottesrolle – der Vater im Himmel wurde auf seinen Platz verwiesen, wer zu ihm wollte, musste sich mit dem Sohn gut stellen, der wiederum als Mensch und Gott durchaus Vorwürfe gegen den Vater erhob, zum Beispiel, dass er ihn verlassen habe.

Indem die katholische Kirche später als Kind nur die in der Ehe entstandenen Kinder legitimierte, verweigerte sie den Vätern das Ritual der Kindesadoption, die Mütter haben immerhin die Taufe als Ritual. Der Vatertag am Tag des heiligen Josef feiert eigentlich den Tag, an dem Joseph seinen Jesus adoptierte. So vermischen sich die Bedeutungen.

Kritisch merkt Luigi Zoja an, dass die heutigen neuen Vaterschaftsregelungen und Unterhaltsregelungen, die auf den Zeugungsakt rekurrieren, eine Rückkehr zur Physiologie bedeuten und aus dem Mann wieder das Hordentier machen, das im Wettlauf um die größtmögliche Streuung seiner Gene gewonnen hat. Wer als Mann mehr von seiner Vaterschaft möchte, vor allem nach Scheidung oder bei Trennung von unverheirateten Paaren, der muss heutzutage schon starke Geschütze auffahren, wenn die Mutter ihm diese Rolle verweigert.

Die patriarchalische Familie bleibt vorherrschende Struktur bis weit ins 20. Jahrhundert, nach Ansicht einiger Forscher die Autorität des Vaters immerhin noch bis zur Französischen Revolution ungebrochen. Das ist die soziologische Perspektive.

Betrachtet man jedoch die Wandlungen des Vaterbildes, des »Urmusters aller irdischen Institutionen« (S. 153), dann erreicht diese psychische Konstellation seinen Höhepunkt schon in der Antike und nimmt ab da in der Bedeutung kontinuierlich ab. Dem Paterfamilias als erste und letzte Instanz wird allmählich der Boden unter den Füßen weggezogen: erstens durch die Tatsache, dass er in religiösen Belangen immer nur Sohn ist, der sich an Gottvater orientieren muss, also nie die letzte Instanz ist, und zweitens: durch die Klöster, in denen Bruderschaften und Schwesterschaften organisiert sind, durch Universitäten, massiv durch die Reformation.

Zwar ist die protestantische Religion auf den ersten Blick maskulin, setzt den Vater auch als geistliches Oberhaupt in die Familie, aber obwohl sie das paternale Prinzip betont, schafft sie sich ab, indem sie den Blick auf die eigene Vernunft und das eigenverantwortete Handeln setzt: die Gottwohlgefälligkeit wird nicht nur durch die Annahme des Opfertodes Christi sondern vor allem durch die Vollbringung irdischer, säkularer Leistung erbracht, am stärksten beim Reformator Zwingli.

Auch die englische Revolution (Cromwell) entdeckt die Leistung als Lebensprinzip, jedoch auch: homo homini lupus, der Kampf aller gegen alle, das Prinzip der Horde gewinnt allmählich wieder die Oberhand. Auch Frankreich untergräbt die Autorität: Voltaire beharrt auf der Gleichheit von Vater und Sohn: wenn der Sohn erst durch die Anerkennung des Vaters zum Sohn wird (s.o.), warum dann nicht der Vater erst durch die Anerkennung durch den Sohn?

Rousseau, dessen Mutter früh starb, erhielt vom Vater die väterliche Liebe und von ihm die Liebe zu den Büchern. Da der Sohn sich außerstande sah, beides in sein Leben zu integrieren, entschied er sich für die Bücher, gab konsequenterweise alle seine Kinder ins Findelhaus und sprach sich für eine Erziehung außerhalb der Familie aus. Damit kehrte er, nach Zoja, zur griechischen Familie zurück, in der der Vater bei der Erziehung »außen vor blieb«, im Gegensatz zur römischen, die in allem dem Paterfamilias unterstand. Die Einrichtung eines Schulsystems außerhalb der Familie entzog dem Vater ebenso Autorität wie die Einrichtung des Parlaments dem König die seine. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Achse der Autorität verlief nicht mehr senkrecht, wer führt die Horde oder wählt sie sich den Oberaffen.

Schließlich macht die industrielle Revolution dem patrizentrischen Leben ein Ende. Die Änderung der Produktionsweise, die den bäuerlichen Stand – und auch die anderen – drastisch reduzierte, bedeutete auch den Verlust eines Lebensentwurfes, der auf Tradition und generationenüberdauernder Übergabe der Lerninhalte und Lebensweisen beruhte, die überlieferten Werte verloren an Wert (soziologisch am prägnantesten: Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei, 1848/1974 Dietz-Verlag, Bonn, MEW Band 4)

Der Erste und der Zweite Weltkrieg trugen ein übriges dazu bei, die Funktion des Vaters und die Beziehung zur Familie, die Stellung in der Familie und die Verhältnisse der Söhne zum Vater zur heutigen Situation hin zu beschleunigen. Am Beispiel des faschistischen Italien erläutert Zoja den Zerfall der väterlichen Autorität bis hin zur »Endabrechnung mit dem Vater« (S. 191).

Zu 4. Der Vater heute
Was wäre denn seine Rolle weiterhin gewesen? Die Kinder (und die Familie) nach außen hin schützen, gegen widrige Umstände und Zeitgenossen gerüstet sein, nach innen aber ungerüstet sein Herz zeigen. Er sollte seine Gefühle wahrnehmen, Triebe und Instinkte einem Ziel unterordnen können, die Tradition schultern (das Feuer weitertragen, nicht die Asche bewachen) und an die Kinder das weitergeben, was ihnen zuträglich ist und sie an die Gemeinschaft heranführt.

Warum verschwindet der Vater in den westlichen Gesellschaften? Stammt er aus der Arbeiterschicht, dann gelingt es ihm, infolge der gesunkenen Arbeitszeit, heutzutage mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen (durchschnittlich betrachtet). Gehört er hingegen der oberen Mittelschicht oder der besitzenden Klasse an, dann liegt seine »berufliche Zeitplanung…außerhalb seiner Kontrolle. Er arbeitet nicht mehr zu festen Arbeitsstunden, die sozialen Verpflichtungen seiner beruflichen Tätigkeit beanspruchen auch seine Freizeit. Er ist häufig auf Reisen und folglich von zu Hause abwesend. Seine Kommunikation mit den Kindern wird zunehmend auch in kultureller Hinsicht schwierig, weil sich in diesen sozialen Schichten der Wandel am schnellsten vollzieht. Der Vater kann seinen Kindern nicht mehr seinen Beruf nahebringen, weil sich die Berufsbilder von einer Generation zur nächsten tiefgreifender verändern als bei einfacheren Tätigkeiten. Er kann seine Kinder nicht in eine soziale Gruppe einführen, weil sich diese Gruppen im Zuge der Globalisierungen aufzulösen beginnen und die Familie häufig den Wohnort wechselt. Er kann ihnen auch keine Werte vermitteln, weil diese Werte einem zu schnellen Wandel unterliegen.« (S. 210)

Zwar mischt sich in diese Zuspitzung eine gute Portion großbürgerlicher Kulturkritik, die jeglichen Wandel bedauert, aber dass sich die jungen ihren eigenen Weg erst suchen müssen, bevor sie sich entscheiden, ob sie ihn gehen wollen, wird herausgearbeitet.

Zoja macht noch auf weitere Trends aufmerksam: Machte vormals die Schwangerschaft der Ehefrau dem Manne den Weg frei, sich sexuelle Bestätigung anderswo zu suchen, so doch auf der Basis der gemeinsamen Verantwortung, dass der Seitensprung von einem Familienvater, der seine Vaterrolle nicht in Frage stellte, ausging. Sofern dieses Verhalten in einer heute verbreitet vaterlosen Gesellschaft gezeigt wird, sieht Zoja darin eher den Rückfall des Mannes in das hordenmäßige Verhalten, sich die Weibchen nach Lust und Laune auszusuchen (wohlgemerkt reden wir von der kollektiven Psyche, von der der Einzelne beeinflusst wird). In der Studentenbewegung sieht Zoja weniger den Wunsch nach Abschaffung der Väter als vielmehr die Forderung, eine neue und wertvollere Hierarchie anstelle der alten, die sich blamiert hat bzw. deren ethische Legitimation durch Kriege und Genozide verschwunden war, zu etablieren. Sozialpsychologisch hat sich – in die Ideologie des Neoliberalismus gekleidet – die Horde wieder durchgesetzt, die dem Sieger zujubelt und sich dem »Stärksten« (The winner takes it all) unterwirft. Müssen wir deshalb verzweifeln?

Zoja sieht den Untergang der alten Vater-Strukturen, aber er setzt darauf, dass ebenso, wie nach den Zeiten der Götter- und Gottesanbetungen sich das Prinzip als Metapher gehalten hat, auch der archetypische Vater »als Inspiration, als psychisches Ordnungsprinzip, als Projekt« (S. 266) fortbestehen wird. In der Sorge um die Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftens, am Festhalten der Kontinuität unserer Geschichte sieht er ebenso paternale Elemente wie in der Sorge um die Erde, um Ureinwohner und unzivilisierte Völker, Klimakatastrophe etc. Schließlich gehöre Kontinuität und Orientierung an der Zukunft zum Vaterkonstrukt.

Diskussion
Woher stammen eigentlich unsere Vorstellungen, wie Mann, wie Frau zu sein haben, wie sie miteinander umzugehen haben – anfangs des 21. Jahrhunderts? Da haben wir die Märchen, in denen sich entwicklungspsychologische Konflikte bildhaft darstellen, die alten Benimmbücher geben auch gute Ratschläge, dann sind da noch die Mythen, Homer, Vergil.

Vater, Mutter und die Großfamilie, sofern sie die Kriege überlebt haben, sind auch manchmal Vorbilder – aber von wem haben die es, wer waren deren Vorbilder, und wer deren…? Gibt es so etwas wie einen Kanon der Weiblichkeit/Männlichkeit? Alles »Gesellschaftlich bedingt«, hören wir, oder in der Gegenwart, sind es mal wieder hauptsächlich die Gene. Luigi Zoja macht den ausführlichen Versuch, uns zu erklären, wo wir herkommen und was mit uns heute los sein könnte. Sicher haben wir das Herdenleben noch nicht überwunden, manches von damals ist immer noch nützlich, an manches, wie z.B. »Bewegung, um gesund zu bleiben«, müssen wir erinnert werden.

Neben den ausführlichen Auslegungen der Ilias, was Hektor und Odysseus betrifft, führt der Autor auch zeitgenössische Statistiken zur Existenz der Familie, Scheidungsraten, Verhalten geschiedener Väter und Mütter an, die er kritischer Prüfung unterzieht und referiert vergleichende Statistiken für Nord- und Südamerika um zu belegen, dass wirtschaftlicher Erfolg eines Landes stark an die Verbreitung familialer Strukturen gebunden ist.

Trotz Pille und Gender-Main-Stream – die Gesellschaft will sich reproduzieren und tut das auch, zu nehmen wieder die Geburtenziffern. Und wer macht dann was? Väter, die Babys wickeln, Mütter, die oben im Baukran sitzen – alles neue Natürlichkeit? Nein, sagt der Autor, sondern Folge einer jahrhunderte dauernden Veränderung der kollektiven Psyche, in der sie die alten Rollenvorbilder abgebaut, zum Teil über Bord geworfen hat. Einige Rollen noch nicht ersetzt wurden, ganz will man nicht darauf verzichten. Nur der Wandel, der Übergang ist schwer, Rückfälle in die Barbarei nicht ausgeschlossen (siehe Kosovo, Irak, ISIS) aber der Autor ist zuversichtlich, dass sich die guten Prinzipien in neuen Bildern und Verhaltensweisen wieder finden lassen.

Das liest sich nicht immer leicht und die scheinbaren Widersprüche in der psycho-logischen Argumentation lösen sich manchmal erst auf der übernächsten Seite auf, aber dafür bekommen wir einen erweiternden Blick und neuen Zugang zu den »alten Geschichten« und lesen auch selber bei Homer nach.

Fazit
Auf der Grundlage der Jung/'schen Psychologie, die außer der individuellen auch die kollektiven-geteilten Inhalte (kollektives Unbewußtes) bei der Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens heranzieht, untersucht der Autor die Veränderung der Rolle des Vaters in den letzten Jahrhunderten. Da Vaterschaft als soziales Konstrukt und nicht als genetische Grundausstattung anzusehen ist, beschreibt er anhand der Vaterbilder bei Homer, Vergil und im Christentum deren Einflüsse und deren Wandlungen durch historische Veränderungen wie Reformation, Französische und industrielle Revolution, wie es zu den Veränderungen im Vaterbild bis hin zu den heutigen Einschränkungen und Auflösungen der Vaterrolle und den neuen Ansprüchen an diese Rolle kam.

Rezensent
Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas
Jahrgang 1951, Psychologischer Psychotherapeut, bis 2006 auf einer offenen gerontopsychiatrischen Station, 2007-2015 Gedächtnissprechstunde in der Gerontopsychiatrischen Institutsambulanz der CHRISTOPHSBAD GmbH Fachkliniken

Zitiervorschlag
Wolfgang Jergas. Rezension vom 11.10.2018 zu: Luigi Zoja: Vaterbilder im Wandel. Sozialpsychologische Überlegungen. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN 978-3-8379-2787-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/24477.php, Datum des Zugriffs 19.10.2018.


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