Rezension zu Vaterbilder im Wandel
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Rezension von Wolfgang Jergas
Thema
Was ist ein Vater? Was soll, was muss er können? Wie darf er sein,
was ist ihm verboten – und worauf gründet seine Rolle, wer führt
sie fort, wer sorgt für den Wandel. Und: ist da eigentlich auch was
angeboren?
Autor
Luigi Zoja, Jahrgang 1943, ist Psychoanalytiker in eigener Praxis
in Mailand, Lehranalytiker und Dozent am C.G.Jung-Institut in
Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Entstehungshintergrund
Ausgangspunkt ist für Zoja der Moynihan-Report von 1965,
wiederveröffentlicht 1981, zur Lage der afroamerikanischen Familien
in den USA, für die in Nordamerika die Ein-Eltern-Familie für 70 %
das praktizierte Familienmodell ist und keine Abkehr davon zu
erwarten ist, und dass die traditionelle
Vater-Mutter-Kind(er)-Familie ebenfalls in Auflösung begriffen ist,
die Zahl geschiedener Ehen mit Kind sei gestiegen und eine Umkehr
nicht in Sicht.
Zwei Gründe, dieses Thema zu wählen: der erste ist die
Säkularisierung in deren Folge kein Gott im Himmel und kein
Stellvertreter mehr auf Erden und der zweite: zwar steigt das
Bewusstsein, dass Väter eine wichtige Rolle bei der Menschwerdung
des Nachwuchses spielen, zwar bleiben mehr Väter als vor 30/40
Jahren auch zu Hause zwecks Kindererziehung und Arbeitsübernahme,
aber immer noch bleibt nach der Scheidung die überwiegende Anzahl
der Kinder bei der Mutter. Also mehr Väter aber weniger
Familie?
Als Psychoanalytiker ist Zoja an den psychischen Strukturen, die
sich aus solchem gesellschaftlichen Wandel ergeben, professionell
interessiert, als Jungianer bezieht er neben der individuellen
Entwicklung der Einzelpsyche (Vater-Mutter-Kind) in großem Umfang
auch die kollektiven psychischen Strukturen mit ein: hierzu gehören
die überlieferten Mythen über die Weltentstehung, die Epen der
Ägypter, der Griechen und Römer, die Religionen und Stammesmythen
u.a.m. (vgl. z.B. Norbert Bischof: Das Kraftfeld der Mythen.
Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben.
München, Zürich 1996)
Aufbau
Nach den Präliminarien (Vorwort zur deutschen Ausgabe, Vorwort,
Dank, Einleitung) rollt er in vier Kapiteln seine Überlegungen
auf:
Zu 1.Prähistorie
Eine Position ist zu besetzen: die des Vaters. Nach
jahrtausendealter Tätigkeit hat sich herausgestellt, dass er in
seiner Position nicht mehr befriedigend funktioniert, ja vielmehr,
dass inzwischen andere seine Position aufgeteilt haben und die
Teilfunktionen besser erfüllen, sodass die Stelle notfalls
wegfallen kann, wenn nicht neue Aufgabenstellungen gefunden werden.
Wie konnte es dazu kommen?
Der Vater als psychisches Konstrukt ist in der
Menschheitsgeschichte relativ neu, entstand erst, als der Mensch
(homo sapiens sapiens) sich vom Affen zu lösen begann und die
Nahrung und die Suche danach nicht mehr der alleinige Zweck der
Horde war. Der Übergang von der allzeitmöglichen Kopulation zur
Zyklusgebundenen und die für die Nachkommen notwendigen Brutpflege
innerhalb einer monogamen Triade erzwangen eine Loslösung vom
instinktgebundenen zum kulturvermittelten Zusammenleben. Der
Nahrungserwerb musste sich längerfristiger Planung unterwerfen,
eine bewußtseinslose Jagd nach Beute, oft über weite Strecken und
Zeiträume hinweg, hätte letztendlich nur zum Untergang der Horde
geführt, erst die geplante lebende Rückkehr mit Beute gab dem
Unternehmen einen Sinn. Dies musste nun auch bewußtseinsmäßig
nachgebildet werden, Arbeitsteilung, Rollenverteilung, Zuordnung
bestimmter Fähigkeiten zum Geschlecht nahmen von hier aus ihren
Anfang, für die Instinkte entsteht nun ein Steuerungsorgan, die
Psyche.
Die Männchen werden nicht mehr nach ihrer Zeugungsfähigkeit sondern
nach ihrer »sozialen Orientiertheit« ausgesucht, ihre
Mitarbeitsfähigkeit und empathische Orientierung werden zum
Selektionsvorteil.
Zu 2. Mythos und klassische Antike
Was war zuerst – Matriarchat oder Patriarchat? Eine unendliche
Geschichte, je nachdem, ob wir über die soziale historische
Wirklichkeit streiten oder uns die Mythen, in denen ja solche
Verhältnisse sich auch niederschlagen, vornehmen. Die »materiellen«
Beweise, die vorgebracht werden (Sprachliche Ausdrücke für
väterliches und mütterliches, Bilder in Höhlen, Grabbeilagen) stuft
Zoja als eher willkürlich ein: demgemäß könnte man eine Herrschaft
der Tiere postulieren, anhand der vielen Tierbilder in den Höhlen,
oder unsere Gesellschaft als weiblich-matriarchalisch, begründet
durch die vielfältig produzierten Bilder von Frauen in
Zeitschriften und Filmen. Da unsere Gesellschaft auf der
griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Tradition aufbaut,
wendet Zoja sich überwiegend deren mythischen Belegen zu, da unsere
Bezüge zur ägyptischen und indischen oder chinesischen Kultur eher
weniger stark seien.
Hier sei noch einmal hervorgehoben, dass der Autor sowohl aus
historischen Quellen schöpft als auch den Epen, künstlerischen
Darstellungen in Wort, Bild und Schrift, auch der Alltagskultur
eine Abbild- und Geschichtsschreibungsfunktion zugesteht.
Aus drei Personen der griechischen und römischen Sagenwelt
entwickelt Zoja das Bild des Mannes und Vaters, das sich über die
Jahrhunderte erst durchsetzte und dann kritisiert und
de-konstruiert wurde: Hektor, Odysseus und Aeneas.
Anhand einer Szene aus der Ilias beschreibt Zoja die männliche
Doppelfunktion: Hektor kommt vom Schlachtfeld zu Frau und Sohn
zurück, im Verlaufe des Gesprächs wendet er sich dem Sohn zu, der
aber erschrickt, da Hektor noch seinen Helm trägt. Erst als er ihn
absetzt, erkennt der Knabe ihn. Hektor ist in der Ilias beides, im
Unterschied zu beispielsweise Achilles: »Er ist Krieger und er ist
Familienvater. Zwar haben auch andere Heroen des Epos Kinder, aber
zwischen ihrer Rolle als Kämpfer und ihrer Rolle als Vater besteht
kein Zusammenhang. Hektor dagegen ist das eine in Bezug auf das
andere: Er ist Krieger, weil er Vater ist.« (S. 79)
In dieser Szene aus der llias wird auch die Funktion der Rüstung
des Vaters sichtbar. Die Rüstung schützt vor dem Aussen, vor dem
Angriff des Feindes, aber es braucht auch den Schutz nach innen:
»Da die Milde imstande ist, Ordnung und Plan zu untergraben, muss
ihr entschiedene Härte entgegengesetzt werden, die kalt ist wie
eine Rüstung. Das Patriarchat hat uns an diese Rüstung gewöhnt und
uns vergessen gemacht, dass der Sinn und Zweck dieser Rüstung darin
besteht, das darunter Liegende zu schützen: Der Etymologie zufolge
ist die Rüstung (‚corazza‘) das, was das Herz (‚cor‘) schützt.«
(S. 81) Wird sie im Inneren des Hauses nicht rechtzeitig abgelegt,
kommen keine echten Kontakte zustande.
In Odysseus finden wir zum ersten Male in der abendländischen
Mannesdarstellung die innere Ambivalenz ausgebildet und die
Reflexion an die Stelle sofortiger Triebbefriedigung. Odysseus kann
warten: auf die günstige Gelegenheit im zweiten Falle, auf die
Reifung des Gedankens im ersten. Vor dem Losstürmen innehalten,
erst dann losstürmen, wenn alle Eventualitäten berücksichtigt sind
– so arbeitet sich Odysseus durch den Fluch der Götter durch zurück
zu seiner Familie.
Dass die Verpflichtung des Vaters nicht nur dem Sohn, sondern auch
den Vätern gilt, zeigt die Darstellung des Äneas aus der Aenaeis,
der, seinen Vater auf der Schulter und seinen Sohn an der Hand, aus
Troja flieht. Ist bei Homer die Differenzierung der männlichen
Rolle in der Gesellschaft und die Differenzierung der männlichen
Psyche zugunsten der Familie der Kern der Geschichte, so bei Vergil
die Konstitution einer überdauernden Form sozialen Lebens, in der
nicht mehr das instinktgesteuerte Männchen die Gruppendynamik
bestimmt sondern die bewußt herbeigeführte und aufrechterhaltene
Ordnung. Äneas kämpft gegen den Instinkt an, der wie auch in
späteren Jahrhunderten bei jungen Männern letztendlich zum Tod auf
dem Schlachtfeld führt, zugunsten einer gezielten Operation, aus
der der Geist, der den Plan ersinnt, Befriedigung schöpft. Aneas,
der seinen Vater auf die Schulter nimmt, den Sohn an der Hand aus
Troja flieht, um woanders eine neue Gesellschaft zu schaffen,
entscheidet sich für eine vertikale Ordnung, gegen eine
horizontale, die doch nur dem Kampf der Horde gegen die andere
Horde das Wort spricht. Gleichzeitig bleibt aber der Konflikt
unentschieden zwischen »zwei psychischen Strukturen: dem Mann der
Horde und dem Mann der individuellen Verantwortung, den (z.B.,
W.J.) die römische Gesellschaft in den Vätern verkörpert sah.«
(S. 133)
Zu 3. Die Neuzeit und der Niedergang des Vaters
Im frühen römischen Recht wurden die Söhne erst dann zu Mitgliedern
in der Familie des Vaters, wenn dieser sie durch Aufheben bzw.
Hochheben als sein Kind anerkannte, ansonsten nicht. Sie waren dann
eventuell Mitglieder im Haus, genossen aber keine Privilegien. Für
die Töchter galt nur eine Unterhaltsverpflichtung. Erst später in
der römischen Geschichte wurde der Vater dazu verpflichtet, als
Ernährer Verantwortung zu übernehmen, als »pater (familias«“
bestimmte er, zu wem er Vaterschaft einging und zu wem nicht.
(S. 147) Psychologisch lehnt sich das an die prähistorischen
Beziehungen an, in denen der Mann seine Familie und seine Kinder
gegenüber den anderen Weibchen bevorzugte (wenngleich man sich
dieses für die Vorzeit nicht als reflektierten Vorgang vorstellen
sollte, vielmehr sprachen die Fakten). Rechtlich konstituierte im
alten Rom der Mann die Vaterschaft durch das Ritual. Psychologisch
ist das nach Zoja stimmiger als die biologische Orientierung der
Herkunft, braucht doch das Kind erst und ausschließlich die Mutter,
erst später tritt der Vater hinzu um weitere Aufgaben der
Sozialisation und Enkulturation zu übernehmen. Vaterschaft ist also
ein soziales Konstrukt.
Die neue Religion, das Christientum, verwies den Vater in den
Himmel, gleichzeitig setzte sich der Sohn als Erdenmensch in die
Gottesrolle – der Vater im Himmel wurde auf seinen Platz verwiesen,
wer zu ihm wollte, musste sich mit dem Sohn gut stellen, der
wiederum als Mensch und Gott durchaus Vorwürfe gegen den Vater
erhob, zum Beispiel, dass er ihn verlassen habe.
Indem die katholische Kirche später als Kind nur die in der Ehe
entstandenen Kinder legitimierte, verweigerte sie den Vätern das
Ritual der Kindesadoption, die Mütter haben immerhin die Taufe als
Ritual. Der Vatertag am Tag des heiligen Josef feiert eigentlich
den Tag, an dem Joseph seinen Jesus adoptierte. So vermischen sich
die Bedeutungen.
Kritisch merkt Luigi Zoja an, dass die heutigen neuen
Vaterschaftsregelungen und Unterhaltsregelungen, die auf den
Zeugungsakt rekurrieren, eine Rückkehr zur Physiologie bedeuten und
aus dem Mann wieder das Hordentier machen, das im Wettlauf um die
größtmögliche Streuung seiner Gene gewonnen hat. Wer als Mann mehr
von seiner Vaterschaft möchte, vor allem nach Scheidung oder bei
Trennung von unverheirateten Paaren, der muss heutzutage schon
starke Geschütze auffahren, wenn die Mutter ihm diese Rolle
verweigert.
Die patriarchalische Familie bleibt vorherrschende Struktur bis
weit ins 20. Jahrhundert, nach Ansicht einiger Forscher die
Autorität des Vaters immerhin noch bis zur Französischen Revolution
ungebrochen. Das ist die soziologische Perspektive.
Betrachtet man jedoch die Wandlungen des Vaterbildes, des
»Urmusters aller irdischen Institutionen« (S. 153), dann erreicht
diese psychische Konstellation seinen Höhepunkt schon in der Antike
und nimmt ab da in der Bedeutung kontinuierlich ab. Dem
Paterfamilias als erste und letzte Instanz wird allmählich der
Boden unter den Füßen weggezogen: erstens durch die Tatsache, dass
er in religiösen Belangen immer nur Sohn ist, der sich an Gottvater
orientieren muss, also nie die letzte Instanz ist, und zweitens:
durch die Klöster, in denen Bruderschaften und Schwesterschaften
organisiert sind, durch Universitäten, massiv durch die
Reformation.
Zwar ist die protestantische Religion auf den ersten Blick
maskulin, setzt den Vater auch als geistliches Oberhaupt in die
Familie, aber obwohl sie das paternale Prinzip betont, schafft sie
sich ab, indem sie den Blick auf die eigene Vernunft und das
eigenverantwortete Handeln setzt: die Gottwohlgefälligkeit wird
nicht nur durch die Annahme des Opfertodes Christi sondern vor
allem durch die Vollbringung irdischer, säkularer Leistung
erbracht, am stärksten beim Reformator Zwingli.
Auch die englische Revolution (Cromwell) entdeckt die Leistung als
Lebensprinzip, jedoch auch: homo homini lupus, der Kampf aller
gegen alle, das Prinzip der Horde gewinnt allmählich wieder die
Oberhand. Auch Frankreich untergräbt die Autorität: Voltaire
beharrt auf der Gleichheit von Vater und Sohn: wenn der Sohn erst
durch die Anerkennung des Vaters zum Sohn wird (s.o.), warum dann
nicht der Vater erst durch die Anerkennung durch den Sohn?
Rousseau, dessen Mutter früh starb, erhielt vom Vater die
väterliche Liebe und von ihm die Liebe zu den Büchern. Da der Sohn
sich außerstande sah, beides in sein Leben zu integrieren,
entschied er sich für die Bücher, gab konsequenterweise alle seine
Kinder ins Findelhaus und sprach sich für eine Erziehung außerhalb
der Familie aus. Damit kehrte er, nach Zoja, zur griechischen
Familie zurück, in der der Vater bei der Erziehung »außen vor
blieb«, im Gegensatz zur römischen, die in allem dem Paterfamilias
unterstand. Die Einrichtung eines Schulsystems außerhalb der
Familie entzog dem Vater ebenso Autorität wie die Einrichtung des
Parlaments dem König die seine. Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit – die Achse der Autorität verlief nicht mehr
senkrecht, wer führt die Horde oder wählt sie sich den
Oberaffen.
Schließlich macht die industrielle Revolution dem patrizentrischen
Leben ein Ende. Die Änderung der Produktionsweise, die den
bäuerlichen Stand – und auch die anderen – drastisch reduzierte,
bedeutete auch den Verlust eines Lebensentwurfes, der auf Tradition
und generationenüberdauernder Übergabe der Lerninhalte und
Lebensweisen beruhte, die überlieferten Werte verloren an Wert
(soziologisch am prägnantesten: Karl Marx/Friedrich Engels:
Manifest der kommunistischen Partei, 1848/1974 Dietz-Verlag, Bonn,
MEW Band 4)
Der Erste und der Zweite Weltkrieg trugen ein übriges dazu bei, die
Funktion des Vaters und die Beziehung zur Familie, die Stellung in
der Familie und die Verhältnisse der Söhne zum Vater zur heutigen
Situation hin zu beschleunigen. Am Beispiel des faschistischen
Italien erläutert Zoja den Zerfall der väterlichen Autorität bis
hin zur »Endabrechnung mit dem Vater« (S. 191).
Zu 4. Der Vater heute
Was wäre denn seine Rolle weiterhin gewesen? Die Kinder (und die
Familie) nach außen hin schützen, gegen widrige Umstände und
Zeitgenossen gerüstet sein, nach innen aber ungerüstet sein Herz
zeigen. Er sollte seine Gefühle wahrnehmen, Triebe und Instinkte
einem Ziel unterordnen können, die Tradition schultern (das Feuer
weitertragen, nicht die Asche bewachen) und an die Kinder das
weitergeben, was ihnen zuträglich ist und sie an die Gemeinschaft
heranführt.
Warum verschwindet der Vater in den westlichen Gesellschaften?
Stammt er aus der Arbeiterschicht, dann gelingt es ihm, infolge der
gesunkenen Arbeitszeit, heutzutage mehr Zeit mit seinen Kindern zu
verbringen (durchschnittlich betrachtet). Gehört er hingegen der
oberen Mittelschicht oder der besitzenden Klasse an, dann liegt
seine »berufliche Zeitplanung…außerhalb seiner Kontrolle. Er
arbeitet nicht mehr zu festen Arbeitsstunden, die sozialen
Verpflichtungen seiner beruflichen Tätigkeit beanspruchen auch
seine Freizeit. Er ist häufig auf Reisen und folglich von zu Hause
abwesend. Seine Kommunikation mit den Kindern wird zunehmend auch
in kultureller Hinsicht schwierig, weil sich in diesen sozialen
Schichten der Wandel am schnellsten vollzieht. Der Vater kann
seinen Kindern nicht mehr seinen Beruf nahebringen, weil sich die
Berufsbilder von einer Generation zur nächsten tiefgreifender
verändern als bei einfacheren Tätigkeiten. Er kann seine Kinder
nicht in eine soziale Gruppe einführen, weil sich diese Gruppen im
Zuge der Globalisierungen aufzulösen beginnen und die Familie
häufig den Wohnort wechselt. Er kann ihnen auch keine Werte
vermitteln, weil diese Werte einem zu schnellen Wandel
unterliegen.« (S. 210)
Zwar mischt sich in diese Zuspitzung eine gute Portion
großbürgerlicher Kulturkritik, die jeglichen Wandel bedauert, aber
dass sich die jungen ihren eigenen Weg erst suchen müssen, bevor
sie sich entscheiden, ob sie ihn gehen wollen, wird
herausgearbeitet.
Zoja macht noch auf weitere Trends aufmerksam: Machte vormals die
Schwangerschaft der Ehefrau dem Manne den Weg frei, sich sexuelle
Bestätigung anderswo zu suchen, so doch auf der Basis der
gemeinsamen Verantwortung, dass der Seitensprung von einem
Familienvater, der seine Vaterrolle nicht in Frage stellte,
ausging. Sofern dieses Verhalten in einer heute verbreitet
vaterlosen Gesellschaft gezeigt wird, sieht Zoja darin eher den
Rückfall des Mannes in das hordenmäßige Verhalten, sich die
Weibchen nach Lust und Laune auszusuchen (wohlgemerkt reden wir von
der kollektiven Psyche, von der der Einzelne beeinflusst wird). In
der Studentenbewegung sieht Zoja weniger den Wunsch nach
Abschaffung der Väter als vielmehr die Forderung, eine neue und
wertvollere Hierarchie anstelle der alten, die sich blamiert hat
bzw. deren ethische Legitimation durch Kriege und Genozide
verschwunden war, zu etablieren. Sozialpsychologisch hat sich – in
die Ideologie des Neoliberalismus gekleidet – die Horde wieder
durchgesetzt, die dem Sieger zujubelt und sich dem »Stärksten« (The
winner takes it all) unterwirft. Müssen wir deshalb
verzweifeln?
Zoja sieht den Untergang der alten Vater-Strukturen, aber er setzt
darauf, dass ebenso, wie nach den Zeiten der Götter- und
Gottesanbetungen sich das Prinzip als Metapher gehalten hat, auch
der archetypische Vater »als Inspiration, als psychisches
Ordnungsprinzip, als Projekt« (S. 266) fortbestehen wird. In der
Sorge um die Nachhaltigkeit unseres Wirtschaftens, am Festhalten
der Kontinuität unserer Geschichte sieht er ebenso paternale
Elemente wie in der Sorge um die Erde, um Ureinwohner und
unzivilisierte Völker, Klimakatastrophe etc. Schließlich gehöre
Kontinuität und Orientierung an der Zukunft zum Vaterkonstrukt.
Diskussion
Woher stammen eigentlich unsere Vorstellungen, wie Mann, wie Frau
zu sein haben, wie sie miteinander umzugehen haben – anfangs des
21. Jahrhunderts? Da haben wir die Märchen, in denen sich
entwicklungspsychologische Konflikte bildhaft darstellen, die alten
Benimmbücher geben auch gute Ratschläge, dann sind da noch die
Mythen, Homer, Vergil.
Vater, Mutter und die Großfamilie, sofern sie die Kriege überlebt
haben, sind auch manchmal Vorbilder – aber von wem haben die es,
wer waren deren Vorbilder, und wer deren…? Gibt es so etwas wie
einen Kanon der Weiblichkeit/Männlichkeit? Alles »Gesellschaftlich
bedingt«, hören wir, oder in der Gegenwart, sind es mal wieder
hauptsächlich die Gene. Luigi Zoja macht den ausführlichen Versuch,
uns zu erklären, wo wir herkommen und was mit uns heute los sein
könnte. Sicher haben wir das Herdenleben noch nicht überwunden,
manches von damals ist immer noch nützlich, an manches, wie z.B.
»Bewegung, um gesund zu bleiben«, müssen wir erinnert werden.
Neben den ausführlichen Auslegungen der Ilias, was Hektor und
Odysseus betrifft, führt der Autor auch zeitgenössische Statistiken
zur Existenz der Familie, Scheidungsraten, Verhalten geschiedener
Väter und Mütter an, die er kritischer Prüfung unterzieht und
referiert vergleichende Statistiken für Nord- und Südamerika um zu
belegen, dass wirtschaftlicher Erfolg eines Landes stark an die
Verbreitung familialer Strukturen gebunden ist.
Trotz Pille und Gender-Main-Stream – die Gesellschaft will sich
reproduzieren und tut das auch, zu nehmen wieder die
Geburtenziffern. Und wer macht dann was? Väter, die Babys wickeln,
Mütter, die oben im Baukran sitzen – alles neue Natürlichkeit?
Nein, sagt der Autor, sondern Folge einer jahrhunderte dauernden
Veränderung der kollektiven Psyche, in der sie die alten
Rollenvorbilder abgebaut, zum Teil über Bord geworfen hat. Einige
Rollen noch nicht ersetzt wurden, ganz will man nicht darauf
verzichten. Nur der Wandel, der Übergang ist schwer, Rückfälle in
die Barbarei nicht ausgeschlossen (siehe Kosovo, Irak, ISIS) aber
der Autor ist zuversichtlich, dass sich die guten Prinzipien in
neuen Bildern und Verhaltensweisen wieder finden lassen.
Das liest sich nicht immer leicht und die scheinbaren Widersprüche
in der psycho-logischen Argumentation lösen sich manchmal erst auf
der übernächsten Seite auf, aber dafür bekommen wir einen
erweiternden Blick und neuen Zugang zu den »alten Geschichten« und
lesen auch selber bei Homer nach.
Fazit
Auf der Grundlage der Jung/'schen Psychologie, die außer der
individuellen auch die kollektiven-geteilten Inhalte (kollektives
Unbewußtes) bei der Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens
heranzieht, untersucht der Autor die Veränderung der Rolle des
Vaters in den letzten Jahrhunderten. Da Vaterschaft als soziales
Konstrukt und nicht als genetische Grundausstattung anzusehen ist,
beschreibt er anhand der Vaterbilder bei Homer, Vergil und im
Christentum deren Einflüsse und deren Wandlungen durch historische
Veränderungen wie Reformation, Französische und industrielle
Revolution, wie es zu den Veränderungen im Vaterbild bis hin zu den
heutigen Einschränkungen und Auflösungen der Vaterrolle und den
neuen Ansprüchen an diese Rolle kam.
Rezensent
Dipl.-Psychol. Wolfgang Jergas
Jahrgang 1951, Psychologischer Psychotherapeut, bis 2006 auf einer
offenen gerontopsychiatrischen Station, 2007-2015
Gedächtnissprechstunde in der Gerontopsychiatrischen
Institutsambulanz der CHRISTOPHSBAD GmbH Fachkliniken
Zitiervorschlag
Wolfgang Jergas. Rezension vom 11.10.2018 zu: Luigi Zoja:
Vaterbilder im Wandel. Sozialpsychologische Überlegungen.
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2018. ISBN 978-3-8379-2787-0. In:
socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
https://www.socialnet.de/rezensionen/24477.php, Datum des Zugriffs
19.10.2018.
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