Rezension zu Trauma der Psychoanalyse?
Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy (SANP) Nr. 7/2018
Rezension von Thomas von Salis
Es ist nun achtzig Jahre her, dass infolge des Anschlusses von
Österreich an das faschistische Deutschland das Institut der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) geschlossen wurde. Wegen der
Nürnberger Rassengesetze mussten die jüdischen Mitglieder und
Ausbildungskandidaten ins Ausland fliehen. Es waren geschätzt 68
ordentliche und ausserordentliche Mitglieder und 38 Kandidaten.
Dazu kamen etwa 90 Teilnehmer des von der WPV 1933 eingerichteten
»Ausbildungsgangs für die Pädagogen« (Aichhorn T. S. 32 im
besprochenen Buch).
Auf den letzten Seiten sind die Mitglieder namentlich aufgeführt:
Es liest sich wie ein »Who is who« der Psychoanalyse, angefangen
mit Annie Angel Katan über Erik Erikson, Ruth Eissler, Anna und
Siegmund Freud, Heinz Hartmann, Marianne Kris, Margarete Mahler bis
zu den in Wien verbliebenen drei Analytikern Aichhorn, Nepallek
(1940 verstorben) und Winterstein.
Das Buch enthält die überarbeiteten Beiträge eines Symposiums an
der Universität Wien, das 2003 stattgefunden hat und ein neues
Vorwort von Sammy Teicher. Er skizziert die Vorgeschichte, die auf
ein Entschädigungsverfahren für geraubtes jüdisches Vermögen der
österreichischen Bundesregierung zurückgeht. Innerhalb der WPV
stritt man darüber, ob man die an sich legitimen Ansprüche anmelden
solle, da, wie die Mehrheit argumentierte, die WPV zwar die
Rechtsnachfolgerin der alten WPV sei, aber die Mitglieder heute
nicht »in der Mehrheit aus Nachkommen von Verfolgten, sondern zum
allergrössten Teil (aus) Nachkommen von Mitläufern oder vielleicht
sogar Profiteuren des Nationalsozialismus« bestünden (S. I).
Elke Mühlleitners Beitrag (S. 13–28) »Das Ende der
psychoanalytischen Bewegung in Wien und die Auflösung der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung« unterstreicht die Bedeutung Wiens
als Entstehungsort der Psychoanalyse und der erzwungenen Emigration
fast aller Analytiker wegen der Judenverfolgung. Sie verwendet
dabei die Rundbriefe Fenichels, die sie mit Johannes Reichmayr 1998
herausgegeben hat [1] und ihr »Biographisches Lexikon der
Psychoanalyse: Die Mitglieder der Psychologischen
Mittwoch-Gesellschaft und Wiener Psychoanalytischen Vereinigung
1902–1938« [2]. Ihr Beitrag befasst sich mit der Zeit bis zur
Vertreibung 1938, während Thomas Aichhorn die Zeit danach
behandelt. Mühlleitner schreibt:
»In Österreich beginnt das Ende der psychoanalytischen Bewegung
lange vor 1938. Mit der Errichtung des katholisch-autoritären
Dollfuss-Regimes im Jahr 1934 und der Auflösung, Demontage und
Illegalisierung wichtiger bildungs- und kulturpolitischer
Einrichtungen des ›Roten Wien‹ (…) wurde die Psychoanalyse eines
wesentlichen Teils ihres Publikums beraubt und war von ihrem ganzen
kulturellen und intellektuellen Wirkungs- und Einflussbereich
isoliert.« (S. 15 f.)
Nach dem Krieg, 1946, wurde die WPV wieder eröffnet. Die
pädagogische (und sozialpädagogische) Anwendung der Psychoanalyse,
so Thomas Aichhorn, die in Wien vor dem Krieg etabliert gewesen
war, wurde von den nordamerikanischen und englischen Analytikern
abgelehnt. Weder die »erfolgreiche Bemühung nach 1945« von August
Aichhorn, die Tradition der pädagogischen Anwendung wieder
aufzunehmen, noch die Ausbildung, die Anna Freud in London
aufgebaut hatte, wurden von der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung anerkannt.
Die Frage des Traumas, auf die der Buchtitel anspielt, ist sehr
vielschichtig. Die österreichischen Autoren fassen es so auf, dass
nicht nur an individuelle Traumatisierung, sondern auch an
kollektive Traumata und ihre Folgen gedacht werden muss. Sie
sprechen sich gegen den Rückzug ins Private aus, da eine
Einschränkung auf Therapie die Psychoanalyse insgesamt entwerten
würde.
In John Kafkas und Marion Oliners brillanten Beiträgen wird näher
auf den Traumabegriff und die Transmission über die Generationen
eingegangen.
Oliner (S. 155–172) betont eingangs, dass die zweite Generation
nicht am Trauma der Elterngeneration direkt leidet, sondern sich
relativ spät im Leben ein eigenes Verhältnis zum Trauma der Eltern
einrichtet. Die Opfer eines Traumas organisieren unbewusst ihr
Denken »so, dass die Kenntnis ihrer eigenen Geschichte nur noch am
Rande von Bedeutung ist«. Da sie davon ausgehen, sie könnten das
Geschehene ungeschehen machen und als die Opfer müssten sie den
Schaden, den sie verursacht hätten, reparieren, ist ihr Verhalten
den eigenen Kindern gegenüber verwirrend. Sie verwickeln ihre
Kinder in den »Versuch, das Geschehene ungeschehen zu machen«, so
Oliner. Und weiter: Das Trauma wird »zu einer Deckerinnerung oder
zu einem Mythos, die die Funktion haben, Selbstvorwürfe nach aussen
zu wenden.« Oliner kritisiert eine unanalytische Verwendung des
Traumabegriffs und fordert präzise Unterscheidungen, wo es darum
geht, die äusseren geschichtlichen Ereignisse und das
innerpsychische Geschehen in Beziehung zu setzen.
In Thomas Aichhorns und John Kafkas Beiträgen geht es ebenfalls um
die psychoanalytische Auffassung von der Bedeutung der Erinnerung.
Anhand der Geschichte der WPV kann eine Vertiefung und Reflexion
der Arbeit an der Vergangenheit erfolgen. Das ist für heutige
Analytiker und Psychotherapeuten von grosser Wichtigkeit, aber auch
die anderen Wissensgebiete, wie zum Beispiel Geschichte, Soziologie
und Politikwissenschaft, kommen ohne die Kenntnis und Weiterarbeit
an solchen Konzepten nicht weiter. – Man weiss, wie sehr
ahistorische Denkweisen katastrophale Folgen für die Gesellschaft,
ja für den ganzen Planeten haben.
John Kafkas »persönliche Erinnerungen« (Teicher, S.IV) sind eine
raffinierte theoretische Abhandlung über die Psychoanalyse und die
Verständigungsprobleme zwischen denen, die das historische
Geschehen als Prozess erlebten, und denen, die es so sehen, dass
sie sich im Sinne der Praxis daran beteiligt hatten. Er verwendet
das Sartre’sche Konzept der Praxis versus Prozess (Sartre 1964).
»Wie ändert sich in der Psychoanalyse das Verstehen und die
Bedeutung einer Serie von Ereignissen oder von einem singulären
Ereignis? Wie erkennt der Patient, dass sein Todeswunsch nicht die
Ursache der Krankheit seines Bruders ist?« (S. 149) – »Was der
Patient als Praxis betrachtete wird zum Prozess.« (ibid.) Auch das
Umgekehrte kommt vor: »Das scheinbar Zufällige kann als Resultat
einer unbewussten intentionalen Handlung erkannt werden.«
(ibid.)
Die Erinnerung wird je nach politischen Umständen direkt verboten
oder entstellt. Kafka zitiert Rouart [3]: »une mémoire est une
amnésie organisée«.
Die wertvollen Beiträge von Zwettler-Otte, Diem-Wille, Riccardo
Steiner, Elisabeth Brainin/Sami Teicher, und Ilany Kogan konnten
aus Platzmangel hier nicht besprochen werden.
Literatur
1. Fenichel O. 119 Rundbriefe. 2 Bde. hg. von Mühlleitner E,
Reichmayr J, Basel, Frankfurt: Stroemfeld, 1998.
2. Mühlleitner E. Biographisches Lexikon der Psychoanalyse: Die
Mitglieder der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft und Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung 1902–1938, Tübingen: Edition
diskord; 1992.
3. Rouart J, Devoir de Mémoire, Entre Passion et Oubli. Revue
Française de Psychanalyse . 2000;1.
4. Sartre JP. Marxismus und Existentialismus. Versuch einer
Methodik, Reinbeck: Rowohlt; 1964.
DOI: https://doi.org/10.4414/sanp.2018.00617
www.sanp.ch