Rezension zu Keine Angst vor Babytränen (PDF-E-Book)
WEGE 3/2018 »Aller Anfang«
Rezension von Eva Schreuer
Es schreit!
WEGE-Interview mit dem Bremer Körperpsychotherapeuten Thomas Harms
von Eva Schreuer
Säuglinge haben noch keine Worte. Sie
kommunizieren über Mimik, Gestik, Körperhaltung – und wenn ihnen
etwas nicht passt, beginnen sie zu quengeln, zu weinen, zu
schreien. So weit, so gut. Problematisch kann es werden, wenn sich
Babys scheinbar grundlos die Seele aus dem Leib schreien,
stundenlang und ohne Pause. Ihre verzweifelten Mütter und Väter
finden neuerdings Hilfe in sogenannten »Schrei-Ambulanzen«. Ein
Pionier und maßgeblicher Ideengeber für solche
Krisenberatungsstellen ist Thomas Harms. Der Begründer der
»Emotionellen Ersten Hilfe« unterstützt seit über 25 Jahren junge
Eltern dabei, wieder eine stabile emotionale Verbindung zu ihrem
Baby aufzubauen.
WEGE: Thomas, ich freue mich wirklich, dich auch mal
persönlich kennenzulernen. Als gelernte Hebamme und 5-fache Mama
bin ich nämlich von Anfang an ein großer Fan deiner Arbeit! Was war
eigentlich damals in den 90er-Jahren der Anstoß für deine intensive
Beschäftigung mit »Schreibabys«?
Thomas Harms:
Während meiner Studienzeit in Berlin machten wir im Rahmen eines
Uni-Projekts eine Interviewserie mit Müttern und Vätern, deren
Kinder per Kaiserschnitt zur Welt gekommen waren. Dabei zeigte
sich, dass viele dieser Eltern mit dem exzessiven, untröstlichen
Schreien ihrer Säuglinge nicht umgehen konnten. Diese Eltern
verstanden die Ausdruckssprache ihrer Babys nicht. Sie waren
ratlos, entmutigt und mit den Kräften oft völlig am Ende. Aber
selbst in so einer Millionenstadt wie Berlin gab es damals keine
passende Anlaufstelle für ihr Problem. Das passte für mich
überhaupt nicht zu der Dringlichkeit ihrer Not. Viele standen unter
extremem Stress, machten sich große Sorgen, und manche äußerten
sogar die Angst, ihrem Kind aus der hohen Belastung heraus was
anzutun!
Diese ersten Erfahrungen haben mich also dazu bewogen, mir das
genauer anzuschauen. Ich befasste mich intensiv mit der
Körperpsychotherapie nach Wilhelm Reich sowie mit der Bindungs- und
Säuglingsforschung – und dann ging ich mit der Idee ans Werk, die
erlernten Werkzeuge im Bereich der frühen Bindung und Elternhilfe
einzusetzen und entsprechende Anlaufstellen zu gründen.
Es ist doch ganz normal, dass Babys hin und wieder
schreien... Wo liegt denn die Grenze zum
»Schreibaby«?
Babygeschrei ist immer auch ein
Versuch, eine Spannung wieder aufzulösen. Zu »Schreibabys«, also
untröstlich schreienden Babys, werden sie dann, wenn es ihnen nicht
mehr gelingt aus einem Spannungszustand herauszukommen.
Normalerweise beruhigen und entspannen sich Babys, wenn die Eltern
reagieren, das Kind hochnehmen und seine Bedürfnisse befriedigen.
Schreibabys können sich dann trotzdem nicht mehr beruhigen. Wir
nennen das »disregulierte« Säuglinge – das heißt, das Schreien ist
nicht mehr unmittelbar gekoppelt an bestimmte äußere Anlässe. Eine
kleine Irritation löst bei Schreibabys einen regelrechten
Erregungssturm aus. Ein extremes Schreien. Und aus dem kommen sie
dann alleine, und auch mit Hilfe von Körperberührung, nicht mehr
raus.
Kein Wunder, dass Eltern in so einer Situation
verzweifeln.
Wenn sie zu uns kommen, stehen sie
meist schon mit dem Rücken zu Wand. Sie wissen nicht mehr, wie sie
sich verhalten sollen und sind komplett überfordert mit der
Heftigkeit der kindlichen, aber auch der eigenen Gefühle. Es ist
also tatsächlich »Notfall-Hilfe«, was wir da leisten: eine akute
Erstversorgung, um die elterliche Beziehungsintelligenz und
Bindungsfähigkeit wieder herzustellen.
Soviel ich weiß, wird doch das mütterliche
Bindungsverhalten nach der Geburt automatisch
aktiviert...
Du meinst »automatisch« durch die
hormonelle Überflutung? Dieses sogenannte »Bonding« funktioniert
leider nur bedingt. Wir erleben immer wieder Fälle, wo der
Bindungsfaden kurzfristig geknüpft wurde, dann aber wieder
abgerissen ist. Die uns allen innewohnende natürliche, intuitive
Bereitschaft zur elterlichen Bindungsbeziehung wurde bei ihnen
anfangs zwar ins Klingen gebracht, aber dann durch äußere
Stressfaktoren wieder außer Kraft gesetzt. Starke emotionelle,
familiäre oder finanzielle Belastungen lassen diese Eltern in eine
immer größere Spannungs-Spirale schlittern, wodurch der
Bindungsfaden zum Kind immer dünner wird.
Eine andere, weitaus seltenere Gruppe sind jene Eltern, denen die
grundsätzliche Beziehungsfähigkeit fehlt. Solchen Müttern und
Vätern ist gesundes Bonding von vornherein gar nicht möglich, weil
sie selbst gar nicht in der Lage sind, eine derartig nahe, enge
Liebesbeziehung zum Kind aufzubauen.
Beziehung und Bindung gehen demnach nicht immer Hand in
Hand?
Nein, da gibt’s einen Unterschied. Bindung
ist zwar immer auch Beziehung – aber Beziehung ist nicht immer
Bindung. Wenn ein Säugling eine verlässliche Bindungsperson um sich
hat, gibt ihm das den nötigen Halt zum Entspannen. Dann kann sich
der kleine Mensch sozusagen »herunterfahren« und ist nicht ständig
gezwungen, sich selbst und seine Umwelt im Auge zu behalten und zu
kontrollieren. Das gilt übrigens auch für Kinder, Jugendliche und
Erwachsene: Bindung bedeutet auch Sicherheit und Vertrauen!
Beziehungen hingegen haben wir mit vielen Menschen, z.B. mit
Arbeitskolleginnen, mit Nachbarn oder dem Verkäufer im Supermarkt.
Das sind deshalb keine Bindungsbeziehungen, weil wir diese Menschen
auch nicht kontaktieren, wenn es uns schlecht geht ... Und so
empfinden auch Säuglinge! Im Stress brauchen sie starke und
feinfühlige Bindungspersonen, bei denen sie sich sicher fühlen und
ganz ICH sein können. Erst dann sind sie in der Lage, sich ihrem
inneren Selbst zuzuwenden und sich gleichzeitig neugierig der Welt
zu öffnen.
Und wie reagieren jene Kinder, denen diese Basis nicht
zur Verfügung steht?
Die ziehen sich zurück. Ein
Kind, das den sicheren Hafen eines Bindungserlebens nicht genügend
erfahren hat, wertet das Leben als massives Gefahrenmoment und
reagiert mit Isolation. Dieser Stress ist evolutionsbiologisch
nicht vorgesehen, denn unser genetisches Programm als Säugetiere
basiert auf der Fähigkeit und Bereitschaft zur Bindung. Das heißt
aber nicht, dass sie immer funktioniert.
Was kann Eltern derart aus dem Lot bringen, dass sie
nicht mehr schaffen, ihrem Kind die emotionale Grundversorgung zu
geben?
Auslöser sind oft bestimmte
Beziehungserfahrungen bzw. Prägungen aus der eigenen Zeit als Fötus
oder Kleinkind. In unserer Praxis erleben wir das recht häufig. Da
kommen Mütter, die bereits massiv erschüttert und mit den Nerven am
Ende sind – und dann zeigt sich relativ rasch, dass das ständige
Schreien des Kindes unbewusste Erinnerungen an gewisse Irritationen
und Verletzungen aus ihrer eigenen Vergangenheit an die Oberfläche
gebracht hat. Der intensive Körperkontakt mit dem Baby
»verflüssigt« sozusagen den verdrängten inneren Stress und setzt
ihn wieder frei. Der Schutzpanzer, den sich die Mutter in ihrer
Kindheit angeeignet hat, wird regelrecht »aufgeweicht« ...
... und ihr Körper erinnert
sich?
Genau das. Weil Babys so plastische,
lebendige und berührbare Wesen sind, können sie die neurotischen
Schutzstrukturen bei Erwachsenen durchdringen. Sie sind in der
Lage, unser Herz so tief zu berühren, wie wir es vielleicht noch
nie zuvor erfahren haben. Dadurch reaktivieren sie aber auch mit
ziemlicher Sicherheit die verletzten Selbstanteile in uns. Das ist
auch der Grund, warum manche Menschen Babygeschrei fast nicht
aushalten – selbst wenn es nur ein fremdes Kind ist, das sie
irgendwo beim Einkaufen oder im Restaurant schreien hören. Man
könnte es so beschreiben, dass man mit einem Baby, ob man will oder
nicht, außer Rand und Band geraten kann. Man verliert sozusagen die
»Form«, die Fassung ...
... weil das weinende Baby die eigenen frühen Wunden
berührt.
Und auch die eigenen, ungeweinten Tränen,
die dann sehr oft hervorbrechen. Im Prinzip werden durch das Kind
unbewusste, unverarbeitete Teile der eigenen Vergangenheit neu
belebt. Dann können plötzlich starke Gefühle von Verzweiflung und
Ohnmacht auftauchen – ja manche bekommen sogar richtiggehend Angst
vor ihrem Baby: »Ich halte das Weinen nicht mehr aus! Ich weiß
nicht mehr, was ich tun soll!« usw... Das kann sogar bis zu
Gewaltfantasien gehen. Derart heftige Gefühle lassen sich in der
therapeutischen Arbeit meist auf eigene, sehr frühe
Trennungserfahrungen und Traumatisierungen zurückverfolgen.
Deshalb beginnt im Prinzip auch jede unserer Therapien damit, die
Eltern über ihren Körper behutsam in Verbindung zu bringen mit
diesem nicht erinnerten Anteil.
Die Mutter wird quasi durch die Nähe zum Kind selbst
wieder zum Kind?
Exakt. Und dieser verletzte
Babyanteil in ihr ist selber noch total bedürftig. Es »schreit«
sozusagen auch ihr inneres Baby, und dann kommt sie in ein Dilemma:
Soll ich mich jetzt um mein »äußeres« oder mein »inneres« Baby
kümmern?... Väter können übrigens genau so empfinden. Die meisten
Eltern reißen sich dann zusammen, reagieren rational und wenden
sich erst mal ihrem äußeren Kind zu – allerdings oft in einer eher
defensiven Haltung: Ich muss das Kind zum Schweigen bringen, um
mein »inneres« schreiendes Baby zu schützen. Weil es einen Schmerz
in mir auslöst, den ich damals schon nicht ertragen konnte und der
auch jetzt unerträglich ist.
Und das erzeugt Hilflosigkeit...
...
und Gefühle von Versagen, Traurigkeit und Angst. Wir erleben immer
wieder Mütter, die sich regelrecht das Herz aus dem Leib reißen und
total aufopfern für ihr Baby. Tag und Nacht konzentrieren sie alle
ihre Sinne auf das Kind. Sie beobachten und scannen es permanent,
um nur ja allen schwierigen Situationen zuvor zu kommen: Könnte das
Versteifen der Beinchen ein Hinweis auf eine sich anbahnende
Schreiattacke sein? Ist das Schmatzen ein Zeichen, dass es gleich
zu quengeln beginnt? ...nd schnell nehmen sie das Kind hoch,
schaukeln es, tragen es herum, geben ihm den Schnuller oder die
Brust – nur, um ja nicht wieder in diese Hilflosigkeit zu
kommen.
Diese Art von aufmerksamer Zuwendung hat allerdings nichts mit
wirklicher Bindung zu tun. Es fehlt die Herzverbundenheit. Die
Mutter oder der Vater sind in solchen Situationen nicht mit der
Tiefe ihres Wesens und mit ihrem Körper verbunden. Ganz im
Gegenteil: Sie sind massiv gestresst, so als würden sie sich
bedroht fühlen. Diese Haltung von Gefahrenabwehr – wie wenn ein
Raubtier vor ihnen stehen würde – ist wohl die schlechteste
Bedingung für eine echte Nahbeziehung.
Das läuft freilich alles unbewusst
ab...
Klar, es beschäftigen sich ja die wenigsten
Eltern schon vor der Geburt eines Kindes mit ihrer
Bindungsfähigkeit oder den eigenen, frühen Prägungen. Meist sind
sie völlig überrumpelt von der Heftigkeit dieser Gefühle –
geschweige denn, dass sie wissen, woher sie überhaupt kommen. Sie
haben sich davon abgespalten und ihre Wahrnehmung komplett nach
Außen orientiert. Sie erleben sich gar nicht in ihrem Körper.
Und können dadurch auch nicht spüren, was ihr Kind tatsächlich
braucht?
Zwischen Mutter und Kind läuft eine
feinfühlige Abstimmung der Affekte, des Verhaltens, der Motorik...
und wenn diese Abstimmung nicht funktioniert, dann haben wir
sozusagen einen schlechten Tanz, bei dem sich die beiden ständig
auf die Füße treten. Dieses »Missverständnis« können wir immer
wieder beobachten.
Dass sozusagen die Empfindungen von Mutter und Kind
völlig auseinander gehen?
Natürlich empfindet ein
Säugling oder Kleinkind ganz anders als ein Erwachsener. Ein Baby
denkt sich ja nicht: »Wie schön, meine Mama gibt sich wirklich viel
Mühe!« Oder: »Die ist ganz toll, weil sie sich den ganzen Tag
Gedanken macht, wie sie mir helfen kann.« Nein, Babys sind in ihrer
Wahrnehmung total einfach gestrickt.
Echte Bindung funktioniert so: die Mutter ist eine Art WLAN-
Station und das Baby loggt sich darin ein. Oder eine andere
Metapher: Die Mama ist wie ein Sendeturm, zu dem ich eine ganz
bestimmte Frequenz finden muss, um einen sensorischen und
emotionalen Informationsfluss zu ermöglichen. Wenn diese Art des
»Einloggens« gelingt, dann laufen alle möglichen Programme, sowohl
bei der Mutter als auch beim Kind, relativ automatisch ab. Das sind
sehr körperintelligente Systeme.
Aber Stress und Angst bewirken das
Gegenteil.
Genau. Dann ist diese Art von
Sendbereitschaft schlicht unmöglich. Stark gestresste Mütter sind
mit ihrem Organismus bzw. mit dem Baby nur noch sehr unzureichend
verbunden. In der Wahrnehmung des Babys ist der »Sendeturm Mama«
dann nicht mehr anwesend, und es reagiert mit Trennungsangst.
Für die meisten Eltern ist das schwer verständlich: Sie geben dem
Kind alles, was es scheinbar braucht, sie schenken im viel
Körperkontakt, die Mama ist immer da, es wird gestillt, im
Tragetuch herumgetragen... und trotzdem findet das Kind keine Ruhe
und schreit sich die Seele aus dem Leib? ... Ja, weil die feinen
Antennen des Babys Stress, Beschleunigung und Anspannung als
Zeichen von »Bedrohung« orten – und dann springt sofort sein
inneres Alarmsystem an, weil in unserem evolutionären Empfinden
jede Erregung »Gefahr für meine Gruppe« bedeutet. In der
Wahrnehmung des Babys sind also seine wichtigsten Bezugspersonen in
Gefahr, und deswegen reagiert es nicht auf gute Vorsätze und
Bemühungen, sondern auf die Physiologie. Das Kind gibt zwar Signale
– aber wenn es darauf keine Resonanz bekommt, reagiert es mit
Trennungsangst.
Wow, das war aber jetzt eine wirklich super Erklärung
für die viel zitierte Mutter-Kind-Symbiose! Wie sehen denn solche
Baby-Signale aus?
Nehmen wir ein Beispiel, das
vermutlich schon viele von uns beobachtet oder selbst erlebt haben:
Eine Mutter ist kurz vor Weihnachten im Einkaufscenter unterwegs –
mit einer langen Geschenke-Liste im Kopf und einem zwei Monate
alten Baby im Tragesack. Nach drei Stunden ist sie schon ziemlich
erledigt und unter Druck: Sie hat noch nicht alles besorgt und
weiß, dass es sich heute nicht mehr ausgehen wird, weil es draußen
schon dunkel wird und ihr Mann zu Hause wartet. Das Kind an ihrem
Körper nimmt den mütterlichen Stress sofort wahr. Es wird unruhig,
beginnt zu quengeln oder zu weinen. Könnte es schon sprechen, würde
es sagen: »Mama, wo bist du? Du überschreitest gerade meinen
Toleranzkorridor. Bitte reagiere auf meine Signale und mach mal
Pause!« Eine innerlich ausgeglichene Mutter nimmt solche Signale
relativ schnell wahr und handelt entsprechend. Im Stress kann sie
jedoch nicht mehr spüren, dass das Weinen eine Überforderung
bedeutet und reagiert defensiv, genervt, ablehnend oder gar
unterdrückend – was die Situation logischerweise verschlimmert: das
Kind wird immer lauter, beginnt zu schreien, zu brüllen ...
Das System ist im Prinzip ein Hinweis zum Lösungsbild. Das Beste,
was das Kind uns bietet, nämlich sein Weinen und Schreien, ist
nicht das Problem, sondern das Symptom für eine »Nichtpassung«.
Wenn ich das unterdrücke, dann habe ich die nächsten Probleme am
Hals.
So eine »Nichtpassung« bewirkt also
Kontaktabbruch?
Genau. Und in unseren Therapien
und Beratungen mit Eltern und Säuglingen erleben wir, dass das sehr
oft schon während der Schwangerschaft und Geburt ihren Anfang
genommen hat. Die erste Lebensumwelt des Embryos ist ganz
entscheidend für ein gutes Gedeihen. Die denkbar schlechteste
Voraussetzung dafür ist eine dauerhafte Stress- und
Angstbelastung.
Welcher Stress, welche Ängste?
Etwa
wenn die Mutter aufgrund einer vorangegangen Fehlgeburt monatelang
Angst hat, ob ihr Baby überhaupt gesund zur Welt kommen wird. Oder
wenn ein unerwünschtes Kind über mehrere Schwangerschaftsmonate
Ablehnung spürt – nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Vater,
oder von Oma und Opa, die das kommende Kind oder die Paarbeziehung
vielleicht nicht gutheißen. Die prägendsten Erfahrungen sind
natürlich Schrecken, Angst und Verzweiflung, etwa bei Frauen, die
Gewalt oder Krieg erleben ...
Jedenfalls wissen wir heute, dass solche vorgeburtlichen Erlebnisse
tatsächlich körperlich gespeichert werden und die kindliche
Beziehungsbereitschaft massiv einengen. In der Pränatalzeit
gestresste Babys gehen viel zu früh in eine Außenorientierung – die
sollte erst nach der Geburt stattfinden.
Was wären die besten Voraussetzungen für das
Ungeborene?
Das Wichtigste für das Baby im Bauch
ist, dass es »eingefaltet« sein kann, dass es seine Energie ganz
auf seine inneren Empfindungen konzentrieren kann. Es will
sozusagen einfach nur »da sein«, sich in Ruhe entwickeln können.
Und dafür braucht es von Außen ein gewisses Maß an Gelassenheit und
Sicherheit. Zu sehr verunsicherte, gestresste oder ängstliche
Eltern können so ein Umfeld nur schwer bieten.
Sind es nicht oft auch die Ärzte, die werdenden Eltern
Stress machen?
Das stimmt, leider. Es beginnt
schon bei den vielen Ultraschalluntersuchungen, wo die Mütter ihre
ungeborenen Kinder ständig auf großen Bildschirmen sehen. Man
könnte das freilich auch als ganz neue Möglichkeit sehen, die
Bindung zum Ungeborenen zu fördern – aber tatsächlich bewirkt es
eher das Gegenteil: Die Aufmerksamkeit der Mutter richtet sich
durch diese Bilder viel zu früh nach außen. Sie braucht jetzt vor
allem eine starke Introzeption, und ganz viel Schutz und Sicherheit
im eigenen Umfeld, um sich nach innen wenden zu können. Dort wird
echte Bindung aufgebaut!
Wenn dann beim Ultraschall auch noch Bemerkungen
fallen, wie »Schon ziemlich klein, das Kind« oder »Es hat einen
großen Kopf« ...
... kann das fatale Folgen haben!
Solche Informationen aktivieren das mütterliche Stresssystem und
erzeugen nicht selten eine Erwartungsangst, die sich durch die
ganze Schwangerschaft zieht. Sie bewirken Unsicherheit, Stress und
Ängste, die sich unweigerlich aufs Baby übertragen ...
... das sich dann nach der Geburt die Seele aus dem
Leib schreit und mit seinen überforderten Eltern in der
»Emotionalen Ersten Hilfe« landet. Was geschieht
dann?
Unser körpertherapeutischer Ansatz richtet
sich an alle drei: die Mutter, den Vater (sofern er mitkommt) und
das Baby. Meistens beginnen wir damit, die Eltern zu stabilisieren.
Sie müssen wieder »zu sich kommen«, sich selbst wahrnehmen und
festen Boden unter den Füßen spüren.
Mithilfe welcher Methoden werden die Eltern
»stabilisiert«?
Zuallererst schenken wir ihnen
einmal unser Ohr. Das Dauergeschrei ihres Babys hat enorm intensive
und bedrängende Gefühle in ihnen ausgelöst, und viele Mütter und
Väter sind mit ihren Nerven schon ziemlich am Ende. Also geben wir
ihnen genug Raum, über ihre Not mit dem Kind zu berichten. Und dann
hilft meist eine einfache Atemtechnik: Die Eltern werden von uns
angeleitet, ihre Aufmerksamkeit für einige Atemzüge auf den
Bauchbereich zu lenken. Das bewirkt nicht nur, dass die Eltern sich
entspannen – es hilft ihnen auch dabei, mehr innere Sicherheit und
ein Gefühl der Abgrenzung zu entwickeln.
Klingt wie eine Lektion in
Achtsamkeitsschulung.
Genau das ist es auch. Die
Eltern lernen, mehr in ihrer Mitte zu bleiben und ihren Körper zu
beobachten – auch wenn sie mit ihrem schreienden Baby zusammen
sind. So entwickeln sie auch schnell den Mut, das Weinen des Babys
nicht mehr unterdrücken zu wollen, sondern es mehr auszuhalten und
zu begleiten.
Erst wenn die Eltern das können, wenden wir uns vermehrt dem Baby
zu. Sobald das Kind spürt, dass seine Begleiter nicht mehr
gestresst und verängstigt, sondern wieder verfügbar sind, fängt es
damit an, uns seine Geschichte zu erzählen.
Die Babys erzählen euch
Geschichten?
Tatsächlich laden wir sie dazu ein,
uns doch zu erzählen, was sie bewegt und ihnen am Herzen liegt.
Babys verfügen über eine ganz eigene Körpersprache, mit der sie uns
dann darauf hinweisen, was sie belastet und bedroht. Jene Babys zum
Beispiel, die eine lange, schwierige Geburt hatten, zeigen uns über
Gesten, Körperhaltungen und ihr Schreien sehr direkt, was sie
während ihrer Geburtsreise erfahren haben.
Das können sehr erschreckende Erlebnisse gewesen sein. Manche Babys
berühren dabei sogar immer wieder jene Körperstellen, wo es unter
der Geburt am meisten weh getan hat. Oft sind das ganz kurze,
spontane Berührungen, die man schnell übersehen könnte. Dann bitten
wir die Babys, es uns nochmal zu zeigen – und das Verblüffende ist:
sie tun es tatsächlich!
Der nächste Schritt ist dann die sanfte Körperarbeit mit den Babys:
durch zarte, schmetterlingsleichte Berührungen und spezifische
Positionierungen des Körpers wird eine allgemeine Entspannung des
Babys gefördert. Die ersten Anregungen für diese Arbeit bekam ich
von Eva Reich, der Tochter von Wilhelm Reich, welcher die
Körperpsychotherapie sozusagen »erfunden« hat. Unsere erste
Begegnung bei einem Workshop 1987 in Berlin war für mich ein
regelrechtes Erweckungserlebnis und ein großes Geschenk. Bei Eva
sah ich zum ersten Mal, wie man körpertherapeutisch mit Babys
arbeiten kann, sodass diese ihren emotionalen und körperlichen
Rückzug wieder aufgeben. Ihre Arbeitsweise war so ganz anders, als
das, was ich bislang kannte. Die Babys schmolzen förmlich unter den
ultrazarten Berührungen dahin. Diese minimal stimulierende
Qualität, dieser Respekt vor den Abwehrgrenzen des Säuglings, hat
meine therapeutische Arbeit mit Babys und Erwachsenen bis heute
tief geprägt.
Aus meinen Erfahrungen als Hebamme, Mama und Oma weiß
ich, dass viele Babys intensivere Schreiphasen haben – kurzzeitig,
tageweise, sehr oft in den ersten Wochen nach der Geburt. Ab
welchem Punkt rätst du jungen Eltern eine Schreibaby-Ambulanz
aufsuchen?
Das sollten sie dann machen, wenn sie sich trotz
Selbsthilfemaßnahmen und Unterstützung durch Familie und Freunde
dauerhaft überfordert fühlen. Verzweiflung, Ratlosigkeit oder
totale Erschöpfung müssen von den Eltern nicht hingenommen und
»ausgehalten« werden. Schon wenige Sitzungen mit einer/m
ausgebildeten EEH-BeraterIn können sehr viel zur Entlastung der
gesamten Familie beitragen.
Der Neubeginn mit so einem kleinen Menschlein ist ja
immer aufregend. Hättest du zum Schluss noch einen allgemeinen Rat
für frischgebackene Eltern?
Erstens: Ein Baby
braucht gar keine großen Sperenzien. Es braucht keine
Dauerbeobachtung und auch keine ständigen Kümmereien. Was Babys
wirklich brauchen, sind einerseits Bezugspersonen, die Lust auf ihr
eigenes Leben haben, die sich spüren, die lebendig sind, die auch
Konflikte haben ... das normale Leben eben – und anderseits dass
sie in einem solchen Umfeld ihren Vollplatz einnehmen dürfen.
Und zweitens ist mir noch etwas ganz wichtig zu betonen: Es stimmt
zwar, dass das Umfeld Babys prägt und sie sehr abhängig von der
zentralen Bindungsperson sind – aber nichtsdestotrotz ist jedes
Baby vom ersten Moment an eine eigene Persönlichkeit mit sehr
individuellen Kompetenzen! Bei unserer Arbeit erlebe ich immer
wieder Kinder, die sich trotz eines multitraumatisierenden
Umfeldes, trotz ihrer extremen Frühchengeschichte, trotz ihrer
langen Klinikaufenthalte usw. ein inneres Feuer, ein Strahlen, eine
Stärke, eine Lebenszuversicht erhalten haben, die mich total
verblüffen. Warum das so ist? Das ist der Teil, der unbeantwortet
bleibt – ein bleibender Zauber, wenn man so will. Gott sei
Dank!
Erschienen in WEGE 3/2018 »Aller Anfang«:
www.wege.at