Rezension zu Begegnungen im Reich der Mitte

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Rezension von Jens Tasche

Keine Frage, Ulrich Sollmann hat sich in das Land China verliebt. Versehen mit einem durchaus kritischen, psychologischen Blick und seiner Kompetenz als Körperpsychotherapeut möchte er mit diesem Buch Verständnis für das Land und dessen Bewohner wecken. Nach Aussage eines mit ihm befreundeten chinesischen Personalberaters sind 80 Prozent der in China arbeitenden Deutschen am Ende ihres Aufenthaltes froh, das Land endlich verlassen zu können. Während der chinesische Freund möchte, »dass nur solche Menschen kommen mögen, die das Land lieben«, will Sollmann durch sein Buch dazu beitragen, dass eine solche Liebe – getragen durch einfühlendes kulturelles Verstehen – gelingen kann.

Ulrich Sollmann ist seit längerer Zeit mit China vertraut. Als Mitglied der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie (DCAP) – einem Zusammenschluss von ärztlichen und psychotherapeutischen Kollegen aus China und Deutschland – führt er dort unter anderem Weiterbildungen durch. Seit 2013 besucht er das Land regelmäßig für sechs Wochen im Jahr, hält Vorträge, leitet Workshops und produziert Lehrvideos. Sein Buch »Einführung in die Körpersprache und nonverbale Kommunikation« wurde ins Chinesische übersetzt.

Das hier besprochene Buch handelt von den Erfahrungen, die Sollmann in China machen durfte. Er will – und das gelingt ihm hervorragend – dem Leser einen Einblick in die Lebenswirklichkeit des Landes vermitteln. Dabei versteht er sich als ethnologischer Wanderer, als Flaneur, der die Menschen und ihren Alltag erforscht und erlebt. Sollmann beobachtet und begegnet Menschen, um seine Erlebnisse dann auf der Basis seiner psychologischen und körperpsychotherapeutischen Erfahrungen zu reflektieren. So ist er stets gleichzeitig Handelnder und Erkennender. Sollmanns privater Forschungsansatz ist wohl irgendwo zwischen Margaret Mead und der Ethnopsychoanalyse zu verorten und stark von einem hermeneutischen Wissenschaftsverständnis geprägt.

Leider ist etwas mühsam, sich in das Buch hineinzulesen. Auf den ersten 60 Seiten unternimmt Sollmann den ambitionierten Versuch, gleichzeitig seine Annäherung an China und das Instrumentarium, das er für diese Annäherung nutzt, zu beschreiben. Bei diesem Wechsel zwischen Selbst- und Objektreflexion und den dazugehörigen wissenschaftlichen Begründungen fühlt sich der Leser manchmal nicht ausreichend an die Hand genommen. Dies ändert sich aber immer dann, wenn Sollmann über seine konkreten Erfahrungen schreibt. So vermitteln die Probleme, die sich bei seiner allerersten Ankunft in China bereits auf dem Pekinger Flughafen einstellen, einen lebhaften Eindruck, welche Herausforderungen zu bewältigen sind, wenn man nicht nur in China arbeiten, sondern mit den Menschen sein will. Sollmann will mit den Menschen sein. Und er erzählt davon bildhaft, selbstkritisch und immer mit großem Einfühlungsvermögen. Sein umfangreiches China-Bild ist aus einer Vielzahl von Miniaturen zusammengesetzt, die nicht selten auf sich einander widersprechenden Erfahrungen basieren.

Das Nebeneinander von Gegensätzen zieht sich in vielfältiger Form durch das Buch. So begegnet Sollmann dem (damals) unter strengem Hausarrest stehenden chinesischen Künstler Ai Weiwei auf offener Straße und erhält sogar die Gelegenheit, einige Worte mit ihm zu wechseln. Auch von geduldeten Demonstrationen und lautstark in der Öffentlichkeit ausgetragenen politischen Diskussionen bei gleichzeitiger Allgegenwart der Partei kann er berichten. Doch Sollmann bleibt immer Psychologe. Es sind weniger die großen Aktionen, die ihn beschäftigen. Ein großer Reiz des Buches liegt in der präzisen Beschreibung des Alltäglichen. So sprechen Chinesen offenbar immer dann lauter, wenn sie sich in einem intimen Raum meinen – selbst wenn diese Intimität nur virtuell mithilfe eines Handy-Kontaktes zu einem Freund oder einer Freundin hergestellt wird, der Sprecher sich aber tatsächlich auf einer belebten Straße mit vielen Zuhörern befindet. Und die kulturell bedingte hohe Schamschwelle sowie ein generell sehr distanziertes Verhältnis zum eigenen Körper hindern einzelne WorkshopteilnehmerInnen keineswegs daran, Sollmann mit Fragen zu konfrontieren, die ihn an Dr. Sommer aus der Jugendzeitschrift Bravo denken lassen.

Der chinesische Alltag wird von Sollmann kurzweilig und originell geschildert. So erläutert ihm ein Taxisfahrer, dass sich der chaotische, aber funktionierende Individualverkehr in Peking mit Hilfe von »subrules« organisiere, die der Fahrer auf Sollmanns Nachfrage allerdings auch nicht näher erläutern kann. Juxtaposition nennt Sollmann diese Nebeneinanderstellungen, die für ihn ein Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Kultur sind. Dazu gehört auch die vermutlich auf die »Ein-Kind-Politik« zurückzuführende Überbehütung des eigenen Nachwuchses, die aber einen extrem hohen Leistungsanspruch nicht ausschließt und die elterliche Zuwendung an das Erreichen der absoluten Leistungsspitze koppelt.

Das Buch informiert aber auch konkret und gibt praktische Erläuterungen für Leser, die sich aus beruflichen Gründen mit China befassen möchten. So enthält es eine anschauliche Erläuterung der chinesischen Fehler- und Konfliktkultur, die teils stark vom europäischen Verständnis abweicht. Auch wirbt es um Verständnis für das für Westler eher befremdliche chinesische Kommunikationsverhalten, wonach menschliche Verbindungen immer auch als Geschäftsverbindungen und Kontaktabbrüche nicht oder nicht zwangsläufig als Beziehungsabbrüche angesehen werden.

Doch Sollmann bleibt immer Körperpsychotherapeut: Seine Wahrnehmungen des Körpers und der »Körper-zu-Körper-Kommunikation« sind der zentrale Ausgangspunkt seiner Beobachtungen. Diese besondere Alltagsperspektive sowie die Darstellungen von Fallvignetten aus diversen Workshops werden insbesondere körperpsychotherapeutisch vorgebildete Leser sehr spannend finden. So beschreibt Sollmann die in China weit verbreiteten körperlichen Ventile wie Augenzucken, Wackeln mit dem Bein, Klopfen mit dem Fuß oder überraschende, ruckartige Bewegungen des gesamten Körpers. Er versteht dies als Folge eines sehr rigiden Erziehungssystems. Aufgrund einer kulturellen Normierung, die nur absolute Höchstleistungen gelten lässt, werden eine Reihe von Gefühlen so stark unterdrückt, dass die unwillkürliche Spannungsabfuhr einen deutlich größeren Raum einnimmt, als dies in westlichen Gesellschaften der Fall ist. Gleichzeitig berichtet Sollmann aber auch von berührenden, ungelenken Wünschen seiner Workshop-TeilnehmerInnen in Bezug auf Umarmungen und Gehaltenwerden.

Ein spannendes Buch, das dem interessierten Leser eine wenig beachtete Seite der chinesischen Gesellschaft nahebringt. Menschen, die sich beruflich oder privat für China interessieren, werden dieses Buch mit ebenso großem Interesse lesen wie Körperpsychotherapeuten, die mehr über den Umgang mit dem Körper in der chinesischen Gesellschaft erfahren möchten.

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