Rezension zu Begegnungen im Reich der Mitte (PDF-E-Book)
Psychotherapie-Wissenschaft Band 8 / Heft 2 / 2018
Rezension von Peter Schulthess
Um gleich vorweg auf die vom Autor im Epilog geäusserte Hoffnung zu
antworten: Ja, meine Neugierde und Lust auf weitere eigene
ethnologische Wanderungen in China wurden im Laufe der Lektüre
dieses Buches belebt.
Als einer, der selbst seit einigen Jahren nach China reist und dort
lehrt, war ich sehr gespannt auf dieses Buch eines Fachkollegen und
habe vieles gefunden, was mir von meinen eigenen Eindrücken und
Erlebnissen her bekannt vorkam, manches aber auch, wo ich dachte:
So habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht oder es so
betrachtet. Und natürlich auch manches, das mich eher irritierte.
Doch der Reihe nach.
Ulrich Sollmann ist Körpertherapeut und über die
»Deutsch-Chinesische Akademie für Psychotherapie« erstmals 2013 aus
beruflichen Gründen nach China gereist. Seither besucht er das Land
regelmässig und verbindet seine beruflichen Tätigkeiten mit
privaten Erkundigungen über das Leben in China.
In diesem Buch schildert er, wie er sich in dieser ihm fremden
Kultur bewegt und zurechtzufinden versucht. Er sucht dabei nach
einer ethnologischen Haltung, aus der er möglichst vorurteilsfrei
phänomenologisch beobachtet und das, was er sieht und erlebt, auf
sich wirken lässt, um erst dann nach Erklärungen und
Interpretationen zu suchen, um zu verstehen. Er versteht das als
eine Grundhaltung, die er auch als professionelle Naivität
bezeichnet, die erst entwickelt werden will und Grundvoraussetzung
ist, einer fremden Kultur begegnen zu können. Er sieht seine
«ethnologischen Wanderungen» als Aktionsforschung. Im Sinne dieser
Forschungstradition wird er natürlich auch als Beobachtender ein
Teilnehmer der beobachteten Situationen und Teil des Feldes. Das
beeinflusst ihn und die übrigen an der Situation Beteiligten. Um
nicht draussen zu bleiben, aber auch nicht vereinnahmt zu werden,
spricht er von einer Juxtaposition, die einzunehmen ist, um
einerseits mit dem Eigenen in Verbindung zu bleiben und
andererseits sich auf das Fremde einlassen zu können. Die
Juxtaposition ist eine dritte Position, aus der man mit etwas
Distanz beides im Auge halten kann: das Eigene und das Fremde. Im
Eintauchen in eine fremde Zivilisation entsteht erst einmal ein
Orientierungsvakuum. Die mitgebrachten Verhaltensweisen der eigenen
Kultur greifen nicht und die fremden Regeln kennt man noch
nicht.
Sollmann berichtet über seine Erlebnisse in einem narrativen Stil,
dem man gut folgen kann, und offenbart dabei auch viel
Persönliches. Sein Buch erlaubt es, ihm als Mensch und als
Psychotherapeut, Kursleiter oder Berater in Firmen über die
Schulter zu sehen und teilzuhaben an seinen Erlebnissen in
unterschiedlichsten Begegnungssituationen. Als Körpertherapeut gibt
er der Beobachtung des körperlichen und nonverbalen Ausdrucks viel
Aufmerksamkeit. In seiner Art, Erlebtes zu reflektieren und dabei
auf seine Gegenübertragungsreaktionen zu achten, glaubt man, einem
Psychoanalytiker zu folgen. In der Betonung auf das Erleben im Hier
und Jetzt erkennt man einen humanistischen Psychologen.
Das Buch ist in mehrere Kapitel eingeteilt, die einen Aufbau vom
sich Herantasten in ersten Begegnungen und Erlebnissen hin zur
Beschreibung der aktuellen Lebenswelt in China, Beschreibungen, wie
sich die Gesellschaft organisiert und funktioniert, haben. Er
beschreibt unterschiedliche soziale Räume und die Funktion von
Mauern, die schützen und zugleich ein unterschiedliches
Sozialverhalten ermöglichen. Drei typische Begegnungsräume mit
ihrer jeweils eigenen charakteristischen Art der Selbstregulation
werden beschrieben: der Individualraum, der Situationsraum und der
Übergangsraum als Spannungsfeld zwischen zwei Räumen. Dem
Individualraum ordnet er ein Verhalten zu, wo man ganz auf sich
selbst ausgerichtet ist, sei es, indem man alleine ist oder mit
sich selbst verbunden in der Öffentlichkeit (oft in Pärken) tanzt
oder sich in Gesellschaft so verhält, als wäre man allein.
Situationsräume sieht er in Gebäuden, Siedlungen, oft von Mauern
umgeben, oder in sozialen kollektiven Räumen, die durch ethnische
Zugehörigkeit entstehen, oder in Situationen wie Meetings, zum
Beispiel in Restaurants, in denen ein jeweils unterschiedliches
Verhalten derselben Person zu beobachten ist. Situationsräume
führen zu Rollenverteilungen, die das Verhalten beeinflussen. Die
Wechsel zwischen den Situationsräumen können abrupt und
überraschend erfolgen, auch solche zwischen Individual- und
Situationsräumen, was besondere Fähigkeiten für den Umgang mit
diesen Wechseln erfordert. In den Übergangsräumen befindet man sich
in einem Spannungsfeld bei Wechseln zwischen verschiedenen
Situationsräumen oder dem Individualraum. Der Autor schildert diese
Räume anhand anschaulicher Beispiele aus seinen Begegnungen.
Ein grösseres Kapitel widmet er der Beschreibung einer besonderen
kulturellen Kompetenz, die er den Chinesen attestiert: Die
sogenannte Brückenkompetenz. Sie ist mit der Ambiguitätstoleranz
vergleichbar, mit der Fähigkeit, Spannungen in der Schwebe zu
halten und mit widersprüchlichen Rollenerwartungen in
unterschiedlichen Situationsräumen umzugehen. Auf dem Hintergrund
traditioneller chinesischer Werte, speziell von Konfuzianismus und
Legalismus, versteht er die Brückenkompetenz als Fertigkeit, die
tief in der Geschichte Chinas und der darin vereinigten
verschiedenen Kulturen verankert ist. Die Brückenkompetenz erlaubt
die Entwicklung eines Sensoriums, wann und wo man etwa kritische
Diskussionen zur chinesischen Politik führen kann und darf und wo
und wann welche Grenzen zu respektieren sind.
In einem kurzen historischen Abriss erinnert er an den ersten
Kaiser Chinas, Qin Shi Huang, der vor 2000 Jahren die sieben
chinesischen Reiche zu einem geformt und geeint hat. Dieser nutzte
drei strategische Massnahmen, die die chinesische Gesellschaft,
Kultur und Politik bis heute prägen: Er schuf ganz unterschiedliche
gesellschaftliche und organisationale Räume, die mit klaren
Vorgaben oder auch durch Mauern begrenzt wurden. Innerhalb dieser
Räume erlaubte er zweitens, dass man sich so verhalten konnte, wie
man wollte. Ausser: Die Erhebung der Stimme gegen den Kaiser oder
das politische System – das wurde mit der Todesstrafe geahndet. Er
verband das Land durch den Bau eines landesweiten Verkehrsnetzes
von Strassen und Kanälen und vereinheitlichte die Währung und die
Gewichte. Dritte Massnahme war die Philosophie des Legalismus, ein
bereits bestehendes, breites Gesetzessystem, das das Kollektiv über
den Einzelnen stellte. Durchgesetzt wurde die Macht mittels
Belohnung und Bestrafung. Der Einfluss dieses Systems wirkt in der
Tat bis heute nach und hat in der ereignisreichen Geschichte Chinas
keine wirkliche Veränderung erfahren. Umso mehr interkulturelle
Reibungsfläche entsteht mit der Öffnung zu westlichen
Gesellschaftssystemen, wo mit der Verankerung in der Philosophie
des Liberalismus der Einzelne über das Kollektiv gestellt wird.
Um damit umgehen zu können, ist die in der chinesischen Kultur
entwickelte Brückenkompetenz sehr wertvoll, für Westler aber oft
verwirrend und nicht leicht verstehbar.
Das Buch gibt einen eindrucksvollen Einblick in viele Aspekte der
chinesischen Gesellschaft. Es beschreibt auch die Problematik, dass
viele Westler ihr Interesse an China darin sehen, die Chinesen
anders zu sozialisieren, sie als noch etwas im Rückstand
befindliche Kultur zu sehen, die man nach westlichem Bild
emanzipieren müsste. Sie sehen sich als Helfer oder Erlöser und die
Chinesen als Hilfsbedürftige und schaffen so eine asymmetrische
Beziehungshierarchie, auf die Chinesen mit Recht aversiv reagieren.
Dieser Falle versucht der Autor mit seiner ethnologischen
Grundhaltung zu entkommen. Doch da und dort holt sie ihn selbst
ein. Manche Stellen und Interpretationen sind nicht frei von
deutschen Wertungen, etwa wenn er wiederholt chinesische
Verhaltensweisen als kindlich bezeichnet, als zu wenig entwickelt.
So sehr der Autor in den Schilderungen Chinas und des Verhaltens
der Chinesen sorgfältig die kulturellen Hintergründe in ihrer
geschichtlichen und philosophischen Dimension zu beachten versucht,
so deutlicher wird, dass das Gegenstück, die Selbstreflexion
darüber, fehlt, wie sich Begegnungen mit ihm als Deutschem mit der
eigenen biografischen und kollektiven Geschichte und
philosophischen Verankerung auf das Erleben und Erkennen des
Fremden auswirken und die Situationen mitprägen. Ich weiss – ein
hoher Anspruch, den der Autor aber mit seinem Bezug zur Ethnologie
selbst an sich stellt. Keine moderne ethnologische Forschung darf
diese Selbstreflexion der eigenen kulturellen Prägung des Forschers
und dessen Impact auf das Forschungsprojekt vernachlässigen. In
Ansätzen berücksichtigt Sollmann dies durchaus, aber leider nicht
konsequent genug.
Der Autor versteht seine geschilderten Eindrücke über die Chinesen
als seine subjektiven Eindrücke, die keine Objektivität
beanspruchen. Er schildert gar eine Sequenz, wo ein Chinese zu ihm
sagt, er solle den Anspruch, über »die Chinesen« schreiben zu
wollen, aufgeben, denn »die Chinesen« gäbe es nicht. Dennoch
tendiert er immer wieder sehr zu verallgemeinernden Aussagen über
»die Chinesen«, gar auf derselben Buchseite. Die Legitimation, von
subjektiven (von der eigenen Biografie und Kultur geprägten)
Eindrücken zu objektivierenden verallgemeinernden Aussagen zu
kommen, wird nicht erläutert. Schade. Da hätte ein inhaltlich
strengeres Lektorat wohl helfen können, Widersprüche zwischen dem
eigenen Anspruch und wie dieser eingelöst wird, zu bereinigen.
An manchen Stellen ist auch zu fragen, ob solche
Verallgemeinerungen wirklich typisch für »die Chinesen« sind oder
ob man nicht zu ähnlichen Aussagen kommen würde, wenn man »die
Europäer«, »die Schweizer« oder »die Deutschen« einfügen würde. Das
ist übrigens eine gute Übung, um selbstreflexiv Vorurteile,
Projektionen und Gegenübertragungsphänomene zu erkennen. Fachliche
Streitdiskussionen könnten sich auch im Umgang mit
Begrifflichkeiten ergeben, etwa wenn er den ganzen Körper als ein
Sinnesorgan bezeichnet. Oder wenn er von einem »ethnologischen
Welpenschutz« spricht.
Dennoch: Ich finde dieses Buch sehr lesenswert, reich, vielfältig
und anregend für Menschen und PsychotherapeutInnen, die privat oder
beruflich mit Menschen aus anderen Kulturen zu tun haben,
insbesondere mit Menschen aus China.
Die Aufgabe einer Selbstreflexion über die Werte-Prägungen aus der
eigenen Kultur und wie sich diese in der Begegnung mit Angehörigen
aus einer fremden Kultur treffen oder in Konflikt geraten, gehört
eh zur fortlaufenden Aufgabe eines jeden Lesenden und/oder
Schreibenden sowie aller EthnologInnen und PsychotherapeutInnen,
die sich auf die »Anderen« einlassen.
Peter Schulthess
https://doi.org/10.30820/8243.18
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