Rezension zu Gesamtausgabe (SFG), Band 10
Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy (SANP), Ausgabe 6/2018
Rezension von Joachim Küchenhoff
Sigmund Freud Gesamtausgabe (SFG), Band 8 - 10
Mit dem Erscheinen der nächsten drei Bände der Sigmund
Freud-Gesamtausgabe (SFG) im letzten und in diesem Jahr geht die
Reise durch die Werkbiographie und alle publizierten Texte Freuds
weiter; wir befinden uns in den Jahren 1901 bis 1906.
Eminente Werke werden in dieser Zeit veröffentlicht. Da ist zum
einen »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«. Freud untersucht
die bislang wissenschaftlich unbeachteten Phänomene, die jeder
kennt, die Fehlhandlungen, wie Versprecher, Verschreiber oder
Lesefehler, und Fehlleistungen, wie das Vergessen. Allein das
gesammelte Material macht aus dem Text eine Fundgrube zur Kultur-
und Alltagsgeschichte der Psychopathologie. Revolutionär aber ist
das Studienergebnis: die kleinen Fehler des täglichen Lebens
verdanken sich den nämlichen seelischen Mechanismen und Kräften,
die auch den Traum gestalten und die seelischen Belastungen und
Krankheiten, die damals sogenannten Psychoneurosen. Damit aber ist
eine Brücke geschlagen zwischen Krankheit und Normalität, das
scheinbar Abwegige oder Anormale lässt sich nicht ausgrenzen, es
wird von den seelischen Kräften gestaltet, die jeder Mensch bei
sich beherbergt.
In bewundernswerter Konsequenz verfolgt Freud diesen Pfad weiter.
Er widmet sich nun dem Witz: »Der Witz und seine Beziehungen zum
Unbewußten« – auch das Lachen und der Effekt eines Witzes lassen
sich durch die unbewussten Prozesse erläutern. Hinzu kommt: Wenn
wir einen Witz erzählen, dann nutzen wir ganz selbstverständlich
die Sprache, der Witz wird erzählt. Daher bietet es sich für Freud
an, die Zusammenhänge zwischen unbewusster Dynamik und Sprache zu
erforschen, ein Thema, das im Übrigen ja schon überall in der
»Traumdeutung« einige Jahre früher bei der Untersuchung der
Traumerzählungen relevant war. Wie das Unbewusste mit der Sprache
arbeitet und spielt, wie umgekehrt das Unbewusste eine Funktion der
Sprache ist, diese Fragestellung wird im Verlauf des letzten
Jahrhunderts von Jacques Lacan bis Julia Kristeva und darüber
hinaus aufgegriffen. Die Psychoanalyse wird bereits früh für
Linguistik und Semiotik wichtig, wie auch umgekehrt.
Freud ist in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bereits eine
berühmte Persönlichkeit. Für seine These von der sexuellen
Ätiologie der seelischen Krankheiten wird er aber auch angegriffen.
Einige kleinere Texte widmen sich der Aufgabe, geduldig zu
erläutern, wie diese These zu verstehen ist. Aber das reicht nicht;
es wird Zeit für eine systematische Darstellung der eigenen
Sexualtheorie im Kontext des Forschungsstandes seiner Zeit, und die
liefert Freud in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« in
grosser Klarheit. Da auch die empirische Basis seiner oft als
Spekulation abgetanen Befunde angezweifelt wird, entschliesst sich
Freud nach langer Vorbereitungszeit, einen detaillierten Einblick
in die eigene Arbeit zu geben, um auf diese Weise Zeugnis abzulegen
von dem Ursprung hysterischer Phänomene in der psychosexuellen
Traumatisierung und in darauf aufbauenden unbewussten Konflikten,
aber auch um zu zeigen, wie er arbeitet, wie die analytische
Methode es erlaubt, anders nicht fassbare Erlebnisformen sehen,
verstehen und bearbeiten zu können. »Bruchstück einer
Hysterie-Analyse« heisst der Text, in dem der
wissenschaftshistorisch berühmte Fall »Dora« niedergelegt ist und
der seither niemals aufgehört hat diskutiert zu werden.
Wie bereits in den früheren Bänden freue ich mich besonders über
die bislang kaum oder gar nicht zugänglichen kleinen
Text-Miniaturen; ich beschränke mich auf einige Beispiele: In ganz
kurzen Worten bespricht Freud einen – damals freilich noch nicht so
genannten – Ratgeber zu »Lebensregeln für Neurastheniker« (Band 10,
S. 207). Das lapidare Fazit: Für den Kranken sei das Buch völlig
unzureichend, und der Gesunde lese derlei Bücher ohnehin nicht. Was
würde Freud zur unübersehbaren Flut der Ratgeberliteratur heute
sagen, sie vielleicht als Ausdruck einer persönlichen
Orientierungslosigkeit werten?
In einem Gutachten äussert sich Freud zum Entwurf eines neuen
Eherechts (Band 10, S. 201–206). Ohne Wenn und Aber plädiert er für
die »Legalisierung andrer als der ehelichen Beziehungen zwischen
den Geschlechtern«, auf die Frage hin, wie die Sittlichkeit in der
Gesellschaft zu fördern sei. Ebenso bestimmt und mutig fällt die
Stellungnahme zu einem Fall eines bekannten Akademikers aus, der
wegen Homosexualität verurteilt worden war (Band 10, S. 209–212,
»Stellungnahme zum Fall Prof. Dr. Beer«). Freud macht klar, dass
der Homosexuelle »nicht vor das Forum eines Gerichtshofes gehört«,
und weiter: »Homosexuelle Personen sind nicht krankhaft«. Zugleich
aber grenzt Freud davon ab, dass »ein Mensch, der Knaben
missbraucht hat, die noch nicht das gesetzliche Alter erreicht
haben«, verurteilt werden sollte.
In der Rezension früherer Bände habe ich die editorische
Entscheidung, alle Texte chronologisch zu veröffentlichen, in ihren
Stärken und Schwächen bereits dargestellt. Der nun vorliegende Band
8 dürfte für den an der fachlichen Auseinandersetzung mit der
Psychoanalyse interessierten Leser entbehrlich sein. Die Abhandlung
zur Psychopathologie des Alltagslebens wird in Band 8 in der Form
abgedruckt, wie sie als Beitrag zu einer Zeitschrift
erstveröffentlicht wurde. Den Band 9 füllt die Buchversion, die mit
der Zeitschriften-Publikation textidentisch ist. Band 8 enthält
zudem den kleinen Text »Ueber den Traum« (S. 11–60), der offenbar
ein Exzerpt der »Traumdeutung« darstellt. Hier nun macht sich die
Kargheit der editorischen Bemerkungen recht störend bemerkbar.
Dringend wäre eine Leserführung durch die Herausgeber, Christfried
Tögel und Urban Zerfass, an dieser und an vergleichbaren Stellen:
ist es wirklich ein »Auszug«, wie es in der Vorbemerkung heisst,
oder doch eine spannende Zusammenfassung? Wird in dem Text etwas
Neues entwickelt, das über die »Traumdeutung« hinausgeht? Der
besorgte und mit der SFG ansonsten so zufriedene Leser fragt sich,
ob im Kontext dieses verdienstvollen Pionierwerkes an der falschen
Stelle gespart wird. Diese kritische Anmerkung schmälert die
Anerkennung nicht, die Dankbarkeit für den großen Gewinn, der mit
der schrittweisen Neu-Edition der Werke Freuds verbunden ist. Wir
können uns auf die nächsten Bände freuen.
DOI : https://doi.org/10.4414/sanp.2018.00582