Rezension zu Kultur- und gesellschaftssensible Beratung von Migrantinnen und Migranten (PDF-E-Book)
Blickpunkt EFL-Beratung Oktober 2018
Rezension von Maria Dietzfelbinger
Literatur zur beraterisch-therapeutischen Arbeit mit Migrantinnen
und Migranten boomt derzeit. Seit vielen Jahren schon macht der
Psychosozial-Verlag sich ausgesprochen verdient um entsprechende
Veröffentlichungen. So ist es kein Wunder, dass auch das Buch von
Norbert Kunze hier erscheint. Zugleich ist es nicht eines unter
vielen, sondern einzigartig und wirklich besonders.
Vorab ist es wichtig zu wissen, dass der Autor jahrzehntelang eine
konfessionell getragene psychologische Beratungsstelle geleitet und
spezifisch – gegen nicht geringe Widerstände – profiliert hat. Er
schaffte es, sein Team multilingual und kulturell gemischt zu
besetzen, als dies noch keineswegs erstrebenswert schien oder gar
geläufig war, schon gar nicht bei konfessionellen Trägern.
Zusammen mit seinem Team entwickelte er über Jahre hinweg ein
Konzept migrationssensibler psychologischer Beratung, das sich in
dem eindrucksvollen und reichhaltigen Sammelband »Interkulturelle
psychologische Beratung.Entwicklung und Praxis eines
migrantensensiblen Konzeptes« (hsg von Renate Oetker-Funk und
Alfons Maurer, 2009, Books on Demand GmbH) lesenswert aufgefächert
findet.
Warum also dieses schmale Bändchen, könnte man fragen!
In der Tat ist es nichts für Leute, die einmal hineinschnuppern
wollen in dieses Feld, die an ausgeführten Fallgeschichten lernen
wollen oder gar Handlungsanweisungen suchen. Diese 161 Seiten sind
in einem Maße verdichtet und konzentriert, dass die Rezensentin
sich schwer tut mit der Darstellung oder auch nur Zusammenfassung
des Inhalts: diese würde zwangsläufig redundanter als der Text
selbst! Dennoch leidet die Lesbarkeit in keiner Weise unter dieser
Verdichtung, vielmehr wird das eigene Denken dazu verführt, die
zur Verarbeitung erforderliche Redundanz zu schaffen.
Damit ist klar: Dieser Band ist unverzichtbar für Teams, Leitungen
und Träger, die sich bewusst und durchaus bereits mit einiger
Erfahrung im Feld der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten auf den
Weg einer entsprechenden Konzeptualisierung ihrer Arbeit machen
wollen oder sich dort schon befinden. Und das steht eigentlich
jeder kirchlich getragenen Beratungsstelle gut zu Gesicht.
Trotz der bereits geschilderten Schwierigkeiten bei der
inhaltlichen Darstellung ein kleiner diesbezüglicher Versuch: In
der Einleitung weist Kunze auf die Gefahr hin, »die interkulturelle
Arbeitsbeziehung auf die kulturelle Besonderheit zu reduzieren«(13)
und man darf seine gesamte Schrift getrost auch als ein energisches
Gegensteuern gegen diese vereinfachende und durchaus gefährliche
Tendenz lesen.
Kapitel 2 »Die Einwanderungsgesellschaft als Kontext der
psychologischen Beratungsarbeit« entfaltet nicht nur sehr prägnant
und übersichtlich die entsprechenden Parameter. Vielmehr scheint
mir hier am Anfang gleich die zentrale These sichtbar zu werden,
die als roter Faden die weiteren Kapitel durchzieht:
Der Begriff »interkulturell« ist über- und unterkomplex zugleich,
er fördert Ungenauigkeiten, vermeidet notwendige Differenzierungen
und verschleiert nicht nur die individualpsychologische, sondern
insbesondere die Bedeutung der gesellschaftlichen und sozialen
Bedeutungsfolie – um es platt zu sagen: für eine Beraterin aus
bildungsbürgerlichem Milieu ist es vermutlich erheblich einfacher,
mit einem geflüchteten Zahnarzt zu arbeiten als mit einem
nichtmigrantischen Haftentlassenen ohne abgeschlossene
Schulausbildung. Oder andersherum: Der nicht gelungene Kontakt mit
einem Geflohenen hat möglicherweise weniger »kulturelle« Gründe
als dass es eben einfach schwer ist, mit einem vorbestraften Dealer
zu arbeiten – ob der nun aus Afrika kommt oder aus der eigenen
Stadt.
Die zunächst etwas trocken anmutenden erkenntnistheoretischen
Darstellungen zum Verstehen des Fremden (S.30ff) –
Gleichheitsmodell, Alteritätsmodell und Komplementaritätsmodell –
erweisen spätestens bei der zweiten Lektüre ihre enorme
praktische Bedeutung.
In Kapitel 3 »Die Konzeption einer migranten- und kultursensiblen
psychologischen Beratungsarbeit« enthält das Konzept der
Verständnisfolien, das Kunze bereits zahlreichen Kolleginnen und
Kollegen bekannt gemacht hat: die
psychologisch-lebensgeschichtliche Folie – die gesellschaftliche
Folie – die kulturelle Folie – die in der Beziehung Beratende –
Ratsuchende wirksam sind, sich gegenseitig beeinflussen und
gleichwertig Aufmerksamkeit verdienen.
Diese drei Folien werden in Kap. 4 »Sprache und Sprachlosigkeit in
der migranten- und kultursensiblen psychologischen Beratungsarbeit«
auf das zentrale beraterische Medium, die Sprache nämlich bezogen,
inklusive der Bedeutung, die Dolmetschern in diesem Kontext
zukommt.
Kapitel 5 würdigt und fordert die Arbeit des Teams einer
Beratungsstelle insbesondere bei der Arbeit mit Migranten. Hier wie
in Kap. 6, wo es um die spezifische beraterische Kompetenz in
diesem Feld geht, wird noch einmal die Fülle der reflektierten
Erfahrung von Kunze und seinen Teammitgliedern greifbar und
fruchtbar.
Kap. 7 widmet sich fallbezogen den entsprechenden Praxisfeldern,
und zum Schluss wendet sich Kunze knapp und klar an die
Einrichtungen und ihre Träger, für die m.E. im Grunde genommen
das ganze Buch geschrieben ist. Es ist ihm eine weite Verbreitung
und große Wirksamkeit zu wünschen – gegen einen wachsenden
migrationsfeindlichen Trend.