Rezension zu Briefe an Jeanne Lampl-de Groot 1921-1939
Jüdische Allgemeine
Rezension von Roland Kaufhold
Psychoanalyse
»Ein Stück kleines Emigrantenelend«
Vor und während der Nazizeit unterhielten Sigmund Freud und seine
niederländische Kollegin Jeanne Lampl-de Groot einen
Briefwechsel
Jeanne Lampl-de Groot, 1895 im niederländischen Schiedam geboren,
war eine niederländische Psychoanalytikerin. Bekannt wurde sie als
Analysandin und spätere Weggefährtin von Sigmund Freud. Im Sommer
1921, nach dem Abschluss ihres Medizinstudiums, schreibt Jeanne
ihren ersten Brief an Freud, um wegen einer Analyse anzufragen. Die
von Gertie F. Bögels herausgegebene Briefkorrespondenz dauerte 18
Jahre an, bis zu Freuds Tod. 76 Briefe Freuds sind erhalten
geblieben.
1922 geht Jeanne nach Wien, um ihre Analyse zu beginnen. Dort
freundet sie sich mit dem jüdischen Psychoanalytiker Hans Lampl
an, der zu diesem Zeitpunkt am Berliner Institut arbeitet. Drei
Jahre später heiraten die beiden. Im Februar 1925 geht sie nach
Berlin und setzt dort ihre psychoanalytische Ausbildung fort. 1933
fliehen die Lampls vor der faschistischen Gefahr nach Wien.
Auch Freud hatte ihnen hierzu geraten. Dort können sie nur knapp
fünf Jahre bleiben: Parallel zur Flucht Freuds nach England
fliehen sie im März 1938, »unter Zurücklassung ihres gesamten
Wiener Besitzes«, vor den deutschen Nationalsozialisten weiter nach
Den Haag.
Die Situation der Psychoanalyse in den demokratischen Niederlanden
unterschied sich sehr von der durch »Selbstanpassung«
gekennzeichneten Situation in Deutschland und Österreich. Mit der
Besetzung der Niederlande durch Deutschland im Mai 1940 verstärkt
sich der Druck auf die jüdischen Analytiker. Als diese
behördlicherseits aus der Vereinigung ausgeschlossen werden,
»kündigten die Mitglieder kollektiv ihre Mitgliedschaft«. Die
niederländische psychoanalytische Vereinigung löst sich auf, die
Ausbildung findet nun im Untergrund statt. Der Analytiker Karl
Landauer wird in das Durchgangslager Westerborg, dann nach
Bergen-Belsen deportiert, wo er Anfang 1945 stirbt.
Freud nimmt von Anfang an in direkter Weise Kontakt mit Jeanne
Lampl- de Groot auf. Gleich im ersten Brief vom 11. September 1921
gibt er ihr konkrete, ermutigende Empfehlungen. Als er der
Freundschaft zwischen Jeanne und Hans Lampl gewiss ist, geht Freud
1925 zum Du über und wünscht »Euch beiden die Fortdauer alles
Guten!«.
Als sich andeutet, dass sie Eltern werden, versichert er ihr, dass
»Sie beide sehr glückliche und närrische Eltern sein« werden:
»Ihr Töchterchen ist eine kleine beauty und hat mir gerade mit
ihrem ernsthaften Ausdruck besonders gut gefallen. Eine Schönheit
braucht nicht zu lachen.«
In den Jahren der rassistischen Bedrohung bricht Freuds Zorn gegen
die politisch »linken« Psychoanalytiker und Weggefährten durch:
»Gleichzeitig habe ich den Kampf gegen die bolschewistischen
Angreifer, Reich, Fenichel, begonnen. Meine nächste Absicht ist,
die Redaktion zu wechseln und nach Wien zu verlegen.« Keine drei
Wochen später tobt er über seine linken Kollegen: »Überall
Umsturz und Unordnung.«
Am 2. März 1932 schreibt er offenherzig: »Gegen Fenichel habe ich
eine schwer zu beschwichtigende Abneigung, auch wenn er sich von
Reich abgewandt hat.« Zwei Wochen später gibt es Erfreulicheres zu
berichten: Besuch von Thomas Mann. »Er ist ein reizender Mensch,
nach ersten fünf Minuten konnte man mit ihm intim sein.«
Freuds Sorgen nehmen zu. Ende April schreibt er: »Die Zeiten sind
eigentlich fürchterlich schlecht und ganz ohne Garantie einer
erträglicheren Zukunft.« Am 1. Februar 1933 eine Bemerkung zu
Hitler: »Wir sind alle gespannt darauf, was aus dem Programme des
Reichskanzlers Hitler werden wird, dessen einziger positiver Punkt
ja die Judenhetze ist.«
Im März 1933 bricht Freuds Erschütterung über die politischen
Veränderungen durch: »Man kann nichts anderes tun, als abwarten
und sich freuen, wenn wieder ein Tag ohne Schreckensnachricht
vorbei ist. Mit unserem Kleinstaat Österreich ist irgendetwas
Unheimliches los.«
Im April 1933 rät Freud Jeanne, »nach Berlin zurückzukommen, da
Ihnen doch als Nichtdeutschen nichts droht«. In der »gegenwärtigen
Ungeklärtheit« könne man »nichts entscheiden«. Dann bekommt Freud
doch Zweifel: »Hält sich die Hitlerei und Sie haben doch einmal
Ihr Los mit den Juden geworfen, so sollen Sie mit den Kindern
freilich nicht in D. bleiben.«
Freud vertraut weiter auf den Status Österreichs als unabhängigem
Staat – eine Fehleinschätzung, die sich wenig später als
tödlicher Irrtum erweisen sollte: »Wir halten an zwei Punkten
fest, am Entschluß uns nicht wegzurühren und an der Erwartung, daß
es bei uns nicht entfernt so werden kann wie in D. Wir sind auf dem
Weg zu einer Diktatur der Rechtsparteien, die sich mit den Nazi
verbünden werden. (...) Ausnahmegesetze gegen eine Minorität sind
Österreich durch den Friedensvertrag ausdrücklich verboten, den
Anschluß an Deutschland werden die Siegerstaaten nie zulassen und
unser Pöbel ist ein Stück weniger brutal als der stammverwandte
deutsche.«
Am 12. März 1938 der »Anschluss« Österreichs, am 4. Juni 1938
dann die international wahrgenommene Emigration des 82-jährigen
Freud nach London. Neun Tage später ein Brief Freuds aus London an
die nach Den Haag geflohene Jeanne: »Wir sind jetzt also wirklich
in England angekommen, es ist sehr schön und die Öffentlichkeit,
Freunde wie Fremde, bereitete uns einen warmen Empfang. (...) Man
vermißt noch zu viel. So ist es auch sonderbar, daß Sie am letzten
Samstagvormittag nicht da waren, um mich in einer Verhandlung mit
dem kleinen Antiquariat zu stören.«
Am 8. Oktober 1938 erwähnt der schwer krebskranke Freud eine
erneute Operation, »die die ärgste war seit 1923«. Für seinen
privilegierten Zustand als betagter jüdischer Flüchtling findet
er eine literarische Formulierung: »Kurz, es ist ein Stück kleines
Emigrantenelend neben dem großen. England ist bei all seiner
Herrlichkeit ein Land für reiche und gesunde Leute. Auch sollen
sie nicht zu alt sein.« Elf Monate später stirbt der große weise,
sich politisch irrende Begründer der Psychoanalyse im Londoner
Exil.
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