Rezension zu Die Idee der Homosexualität musikalisieren (PDF-E-Book)
Siegessäule – August 2018
Normalität versus Perversion:
Am 28. August jährt sich zum 30. Mal der Todestag des französischen
Autors und Philosophen Guy Hocquenghem, »Die Idee der
Homosexualität musikalisieren«, gewährt einen kurzen Einblick in
das Wirken dieses fast vergessenen Vordenkers der Queer-Theorie
Frei zu sein ist keine Frage günstiger Umstände. Gerade dort, wo
eine Gesellschaft sich »liberal« gibt, kann Freiheit sich
verflüchtigen, können eigene Bedürfnisse aus dem Blick geraten und
mit dem verwechselt werden, was Gesellschaft und Wirtschaft im
Angebot haben. Im Handumdrehen wird die erkämpfte »sexuelle
Identität« zum Konsumprofil, das befreite Leben zum
Lifestyle-Projekt.
Guy Hocquenghem lebte anders – er nahm sich seine Freiheit einfach.
Gerade an dem Widerständen erprobte er sie: freundlich, aber
selbstbewusst und angstfrei – in Zeiten, als die rechtliche
Gleichstellung für »homosexuelle Akte« noch fern war. Als Student
der Philosophie und Soziologie beteiligte er sich an den Protesten
im Mai 1968in Paris, war Mitbegründer der linksradikalen
Zeitschrift ›Tout!‹ und engagierte sich in der FHAR (Front
homosexuel d’action révolutionnaire).
1972 schrieb er – als Erster in Frankreich! – im Nachrichtenmagazin
›Nouvel Observateur‹ offen über sein Schwulsein, sein Coming-out
und seine politischen Ideen. Das machte ihn über Nacht berühmt. Die
Reaktionen waren überwiegend freundlich, doch nun sollte er überall
als Spezialist für Homosexualität auftreten. Er erlebte am eigenen
Leib, dass es nichts mit Anerkennung zu tun hatte, öffentlich als
»Homosexueller« gehandelt zu werden. In einer solchen Kategorie
steckte auch immer die Festlegung auf das »Anderssein«.
In seinem berühmten Essay »Das homosexuelle Verlangen« (die
deutsche Übersetzung erschien 1974) dachte Guy ausführlich über die
Sache nach. Zuschreibungen wie »Homosexualität« und
»Heterosexualität« waren für ihn keineswegs neutrale Begriffe für
etwas natürlich Vorhandenes. Sie waren Konstruktionen,
Grenzziehungen zwischen »Normalität« und »Perversion«. In sie war
die Angst vor dem nicht Bezähmbaren der Lüste bereits
eingeschrieben; im Zwang zur Ordnung steckte die »homosexuelle
Paranoia« – die wir heute Homophobie nennen.
Mit der Realität hatten diese Begriffe ohnehin kaum etwas zu tun.
Sexuelles Verlangen war immer schon anarchischer, vielschichtiger,
uneindeutiger. Schon Sigmund Freud stellte bei allen Menschen
homosexuelle Fantasien fest, nicht nur bei der Gruppe der
»Homosexuellen«. Darum entwarf Guy das Verlagen neu als einen
niemals kanalisierbaren, breiten »Strom ohne Namen«. Er wollte
Freiheit, nicht Einordnung.
Weitere Essays, Artikel, Filme und Romane folgten. Seine Texte
gelten heute als Pionierarbeiten für spätere Queer-Theorie, für ein
Denken über alle Grenzen hinweg. In Frankreich und den USA wird
sein Werk gerade wiederentdeckt; in Deutschland bemüht sich aktuell
der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß mit Kollegen und
Freunden darum. Am 28. August 1988 starb Guy an den Folgen von
Aids.