Rezension zu Die Idee der Homosexualität musikalisieren (PDF-E-Book)
Sexuologie 1-2/2018
Rezension von Florian G. Mildenberger
Der erste Teil des Titels lässt zunächst eine Discografie der ›Pet
Shop Boys‹ vermuten, doch dieser Sammelband entpuppt sich bei
genauerer Lektüre als ein vorzüglicher Ansatz, um einen im
Windschatten Foucaults bereits vergessenen französischen Vordenker
einer kritischen Homoforschung interessierten Lesern in Erinnerung
zu rufen. Guy Hocquenhem (1946–1988) war zu seinen Lebzeiten
mindestens so bekannt wie Foucault, geriet aber im Gegensatz zu
diesem rasch in Vergessenheit. Während Foucault seine Überlegungen
zur Existenz des Homosexuellen aus der Geschichte schöpfte, war
Hocquenhem davon überzeugt, dass der Schlüssel zur Erklärung der
eigenen Sexualität in der gesellschaftlichen Gegenwart und der zu
gestaltenden Zukunft zu finden sei. Erst im Kontext der sich
entfaltenden Queer-Theory wurde er allmählich von
angloamerikanischen Forschern wieder entdeckt und als Präzeptor der
eigenen Arbeit begriffen. In diesem Rahmen verortet ihn auch der
Herausgeber Heinz-Jürgen Voß, der eine Einleitung und einen Aufsatz
beisteuert, während die übrigen Beiträge von Rüdiger Lautmann,
Norbert Reck sowie Hoquenhem (in der Übersetzung von Salih
Alexander Wolter) selbst stammen. Voß benennt einen wichtigen
Punkt, der in der zeitgenössischen französischen Diskussion der
1970er Jahre und nun auch in der deutschen Sexual- und
Genderdebatte der Gegenwart einen großen Stellenwert einnimmt: die
Positionierung gegenüber den »Arabern« (16–22). Störend wirkt Voß/'
ahistorisches Denken. Berliner Tunten der 1970er Jahre pauschal zu
»Personen der weißen Dominanzkultur« (21) zu machen, ist schlicht
lächerlich. Rüdiger Lautmann nimmt den Leser mit auf eine Reise in
die Vergangenheit, in ein Frankreich der späten 1960er und frühen
1970er Jahre, in dem eine ganz andere Streitkultur herrschte als
hierzulande und in welchem das Selbstverständnis des Philosophen
auf Fundamenten ruhte, die östlich des Rheins nicht geläufig waren.
Hocquenhem wollte sich nicht vereinnahmen lassen, von keiner der
zahlreichen linken Gruppen oder dominierenden Lehrmeinungen. Er
begriff sich als Häretiker und lebte diese Rolle lustvoll aus (34).
Gemeinsam mit seinen Verbündeten in der »Front Homosexuel d/'Action
Revolutionnaire« (FHAR) hinterfragte er dogmatische Vorstellungen
über die Bedingungen der Gesellschaft und orientierte sich am Buch
»Anti-Ödipus« von Gilles Deleuze und Felix Guattari. Für ihn war
die offen gelebte Homosexualität ein Anzeichen für einen
gesellschaftlichen Wandel, jedoch nicht revolutionär per se. Von
Anfang an verband Hoquenhem die Kritik an der homophoben
Gesellschaft mit einer Hinterfragung der Homosexualität und einer
Ablehnung der Heterosexualität als Definitionsmacht. Stets
hinterfragte er die eigene Position, setzte sich mit Foucault
auseinander, reflektierte über die Möglichkeiten einer Emanzipation
in einer ihm als falsch erscheinenden Gesellschaftsordnung.
Hier setzt der Aufsatz des Theologen Norbert Reck an, der
schildert, wie Hocquenhem die diskursive Verbindung von
»Veranlagung« und »Verlangen« als Hebel der Diskriminierung
erkannte und daraus den Schluss zog, dass bereits eine begriffliche
Zuordnung wie »Homosexualität« – und deren jeder Debatte enthobenes
Gegenstück der »Heterosexualität« – zu Vorurteilen und Problemen
bei den »Homosexuellen« selbst führen musste. Hocquenhem setzte
stattdessen auf ein allumfassendes und alle Spielarten des
Sexuellen betreffenden »Verlangen«, das der Autor gekonnt in den
Kontext einer sexualisierten Theologie setzt. Hierbei interpretiert
Reck die französischen Texte schöpfungstheologisch (95).
Dies mag aus heutiger Sicht sinnvoll klingen, doch es ist
zweifelhaft, ob dem linken Revolutionär Hocquenhem dies tatsächlich
am Herzen lag. Sein eigener Text liest sich wie eine grundsätzliche
Kritik des gesamten Werdegangs der deutschen und französischen
Schwulenbewegung nach seinem Tod: nichts lag ihm ferner als die
Integration der Homosexuellen in die bestehende Gesellschaft und
ihre Rechtsstrukturen (103).
Heinz Jürgen Voß führt die Gedanken Hocquenhems weiter und macht
deutlich, dass eine Partizipation an einem bestehenden System, das
nur noch teilweise unterdrückend wirkt, die »emanzipierten«
Homosexuellen zu Teilhabern des Unterdrückungsapparates werden
lässt (108). So möchte Voß heute Hocquenhem quasi als Ahnvater für
das eigene linke politische Engagement nutzen. Dafür eignet sich
dieser erheblich besser als all die anderen französischen
Philosophen, die von deutschen Genderforschern gemeinhin zitiert
werden. Diese haben jedoch den Vorteil, dass ihre Schlüsseltexte
übersetzt sind. Außerdem übersieht Voß in der Einleitung und seinem
eigenen Aufsatz das Kernproblem des Nutzens einer »queeren
Kapitalismuskritik« (14): Ist nicht die queere Emanzipation nur in
den Ländern erfolgt, in denen das kapitalistische Wirtschaftsmodell
vorhanden war und ist? Darüber hinaus ist nicht verständlich, warum
Voß »ausdrücklich« (8) auf das bei Hocquenhem nicht unwichtige
Thema der Pädosexualität verzichtet. Oder glaubt er, der
revolutionäre Streiter Hocquenhem würde heute bei dieser Frage
einknicken und das Weite suchen?