Rezension zu Die Idee der Homosexualität musikalisieren
Sexuologie 1-2/2018
Rezension von Kurt Starke
Wie kann man sich das vorstellen: eine Idee musikalisieren? Guy
Hocquenghem, der französische Autor, Philosoph,
Homosexuellenaktivist (1946–1988), um den es in diesem Buch geht,
dachte dabei an Rhythmus, Intervalle, Pausen, Unsichtbarkeit und
Sichtbarkeit, Erscheinen und Verschwinden (7). Der Soziologe und
Sexualwissenschaftler Rüdiger Lautmann sieht darin – nicht bloß in
der Musikalisierung der Idee der Homosexualität, sondern der
Homosexualität selber – das »Suchende und Quecksilbrige in Guys
Auseinandersetzung mit dem Schwulsein« (59). Inspiriert von dieser
geistreichen Schrift könnte man bei Musikalisieren und Musizieren
an das Eindeutige und das Vieldeutige der Musik denken, an das
Verbindende und das Trennende, an das Gedachte und Gefühlte, an die
Träumerei und die erfüllten Wünsche, an das unernste Vergnügen und
das vergnüglich Ernsthafte im Sinne eines ›Res severa verum
gaudium‹.
Das Buch enthält einen Text von Guy Hocquenghem aus dem Jahr 1977.
Darin heißt es: »Die Homosexualität ist – und wird es vielleicht
noch für eine kurze Zeit bleiben – zuallererst eine Kategorie der
Kriminalität. Persönlich bevorzuge ich diesen Zustand gegenüber
ihrer wahrscheinlichen Transformation in eine psychiatrische
Kategorie der Devianz« (102). Um diesen, zunächst stutzig machenden
Satz zu verstehen, muss man wissen, dass Hocquenghem in eine Zeit
hineingeboren wurde, in der in Frankreich zum ersten Male
Homosexualität kriminalisiert war. Von der Französischen Revolution
bis 1942 (Einmarsch der deutschen Faschisten, Vichy-Regime) gab es
in der französischen Strafgesetzgebung keine Unterscheidung Hetero
– Homo und keine Sonderbehandlung von Schwulen. Guy Hocquenghems
Ringen mit und in der veränderten Situation führte zu grundlegenden
Überlegungen, die weit über das Thema Homosexualität hinaus bis
weit in die aktuellen Queer-, Identitäts-, Diversitäts-,
Gentrifinzierungs-, Intersektions- und Genderdiskurse reichen –
teils als Nitroglycerin, häufiger als Blumenknospen.
Der erste Hauptbeitrag stammt von Rüdiger Lautmann, dessen Text der
längste im Buch (50 von 120 Seiten) ist und den schlichten Titel
»Guy Hoequenghem – wiedergelesen« trägt. Bald folgt der scharfe
Satz: »Hoequenghem nimmt eine heutige Position vorweg, wenn er
ausführt, nicht die Homosexuellen hätten die Homosexualität
erfunden, sondern die homophobe Gesellschaft« (35). So kommt sofort
die Gesellschaft ins Spiel, es wird »aus dem Persönlichen etwas
Politisches« (35). Gegen seinen Willen sei Hoequenghem »zum Gesicht
der Schwulenpolitik geworden« (37), zum »Vollzeitmilitanten« (69).
Auf das Gesellschaftliche und politische Veränderungen zielten auch
seine theoretischen Arbeiten, so Hoequenghems Buch ›Le Desir
homosexuel‹ (1972) (Das homosexuelle Verlangen, 1974), das Lautmann
als einen »Geniestreich« (37) betrachtet und das er »als einen
wahren Klassiker der queeren Wissenschaft« sichtbar machen will
(34). Es folgen Abschnitte wie »Phallus & Anus im (homo-) sexuellen
Begehren« (42 ff.), »Der sublimierte und vitalisierte Anus« (45
ff.), »Kritik der Heteronormativität« (47 ff.), »Republikanismus
und Anti-Identitarismus« (49 ff.) mit Sätzen wie »Nicht der Mensch
ist homosexuell, nur sein Begehren ist es. Der Mensch ist vielmehr
Individuum – unverwechselbar, eigenartig, mit Existenzrecht auf
dies alles« (50). Dann »Kampf gegen Pönalisierung und Homophonie«"
(53 ff.), »Produktivität der Dynamik Hass-Scham-Stolz« (55ff), »Das
Grandiose an der Homosexualität« (67 f.).
So geht es in ruhigen Duktus weiter und weiter. Das ist
atemberaubend. Und anspruchsvoll. Weil in verschiedenen Dimensionen
und Ebenen zu denken ist. Weil Lautmann zwar expressis verbis
soziologisch herangeht, aber den Blick auf andere Sichtweisen nicht
scheut, so auf die Psychoanalyse, die für ihn nicht sakrosankt ist.
Weil man mit gar nicht so viel Wohlvertrautem konfrontiert wird.
Weil man irgendwie klammoffen zu überraschenden Erkenntnissen
geführt wird.
Das bezieht sich auf die Einordnung von Hocquenghem in seine Zeit,
berührt die Ideengeschichte, betrifft einen
Frankreich-Deutschland-Vergleich einst und jetzt, trifft auf die
Verknüpfung von Werk, Agieren und Autor, also auf biografische
Determinanten zu und lässt die Rezeptionsgeschichte nicht aus.
Dabei, bei der Rezeptionsgeschichte, kommt Lautmann auf sich selbst
zu sprechen und zu dem Schluss: »Inzwischen möchte ich Hocquenghems
Werk mehr Bedeutsamkeit schenken. Die Neubegegnung beschert
Überraschungen; vieles war damals bereits gedacht und formuliert,
was uns heute (bloß in etwas anderen Worten) beschäftigt« (73). Als
Beispiel gibt Lautmann Hocquenghems Prägung der »homosexuellen
Paranoia« an, die jetzt als »Homophobie« in aller Munde sei (73).
Lautmanns erneute Beschäftigung mit Hocquenghem mündet in dem Satz
»Wir haben ihn ... als den Gründungsklassiker der queeren
Identitätskritik anzusehen« (51).
Ganz anders ist der zweite, von dem Theologen Norbert Reck
stammende Hauptbeitrag mit dem provokanten Titel »Befreiung von der
Homosexualität« beschaffen. Das ist nicht nur so, weil Reck sich
aus »queer-theologischer Perspektive« (77) mit Hocquenghem
auseinandersetzt, und auch nicht, weil der Text eine Rede und keine
Schreibe wie der von Lautmann ist, sondern weil er sich – obgleich
er gleiche Themen aufgreift – stringent auf zwei Pointen
konzentriert. Das ist zum einen die radikale Entzauberung der
ödipal konstruierten Homosexualität und zum anderen die Aufhebung
eines homosexuellen versus heterosexuellen Verlangens in einem
allgemeinen Verlangen als einem »breiten Strom ohne Namen« (91).
Das finale Meisterstück, das sich der gespannte Leser zunächst kaum
auszurechnen vermag, besteht dann darin, dieses Verlangen als
Geschenk Gottes »im Fluss der Schöpfung« (92) zu verorten. In
dieser Schöpfung gäbe es »keine Spaltung zwischen verschiedenen
Veranlagungen« sondern mit Hocquenghem »keinerlei Unterschied«:
»Gott hat nicht Homo- und Heterosexualität geschaffen (und ebenso
wenig den Ödipus-Komplex), Gott schuf vielmehr das polymorphe
Verlangen. Und es war sehr gut.« (94)
Norbert Reck leitet seinen Beitrag mit dem Kernsatz von Hocquenghem
ein: »Nicht das homosexuelle Verlangen ist problematisch, sondern
die Angst vor Homosexualität« (77). Gemeint habe Hocquenghem mit
»Homosexualität« nicht einfach das sexuelle Verhalten zwischen
Menschen des gleichen Geschlechts, sondern »ein Erzeugnis der
normalen Welt« (77), wie Hocquenghem formulierte. Dieses nun, meint
Reck, bedeute »die begriffliche Umwandlung eines menschlichen
Verhaltens, das per se immer von geschichtlichen und sozialen
Umständen geprägt ist, in eine zeitenthobene, unveränderliche
Naturgegebenheit, in eine biologische Disposition, der man sich nur
unterwerfen kann« (77). In solche Mythisierungen, betont Reck,
hätte Hocquenghem niemals eingewilligt, und deshalb lohnten seine
Argumente auch heute die Auseinandersetzung. »In Zeiten
grassierender völkisch-biologistischer Identitätskurse machen sie
gesellschaftliche Konstruktionen als Konstruktionen sichtbar und
können auf diese Weise befreiend wirken.« (Ebd.)
Mit diesem Ausgangspunkt wendet sich Reck seiner »Kritik der
›Homosexualität‹« (81) zu. Diese Anführungszeichen setzt Reck
bewusst, nämlich im Sinne von Hocquenghems Satz: »Die
Homosexualität existiert nicht und existiert doch.« Damit sei
gemeint, dass sie »gewiss nicht als besondere, empirisch
abgrenzbare Art der Sexualität existiert, jedoch als Begriff, der
Macht über die Selbst-Erfahrung der Menschen ausübt, sehr real ist«
(83). Freud erkenne zwar an, dass alle Menschen hetero- und
homosexuelle Gefühle haben und dass die »Homosexuellen« nicht als
eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen
seien, aber mit ihrer Einbindung ins ödipale System pathologisiere
er das aktiv gelebte homosexuelle Verlangen Erwachsener und
versichere »die heterosexuell lebenden Glieder der Gesellschaft nun
doch wieder ihrer ›Normalität‹« (87). Also hier die Richtigen, die
Guten, die Normalen, Gesunden und dort die Falschen, die Bösen, die
Anormalen, die Kranken in einer »sekundären, neurotischen und
perversen, ödipalisierten Homosexualität«, wie es Hocquenghem
formulierte. Innerhalb des ödipalen Systems, so interpretiert Reck
Hocquenghem, könne es keine sexuelle Befreiung geben (90).
Zugespitzt folgert Reck am Ende dieses Abschnitts: »Schwule oder
lesbische Befreiung muss auch die Befreiung von zweierlei
Homosexualitäten sein: Befreiung von der ›Homosexualität der
Veranlagung‹ und Befreiung von der ›ödipalisierten
Homosexualität‹.« (90, Hervorh: N.R.)
Im zweiten Abschnitt reflektiert Reck mit Hocquenghem über ein
Verlangen, das »ein universell verbreitetes Ganzes, eine Einheit
aus verschieden nicht-exklusiven Tendenzen« sei (95). Von den
verschiedensten und sich nicht ausschließenden Formen des Begehrens
kommt Reck auf das zu sprechen, was Menschen generell als Ganzes
empfinden können und zueinander finden lässt. Menschen – das steht
dahinter – haben die Fähigkeit sich in eine Person als Einheit
verlieben zu können, unzerlegt in Einzelstücke und Kategorien, die
fremddefiniert sind: »Freundschaft und Liebe zielen auf bestimmte
ganze Menschen« (91). Mehrfach spricht er vom Verlangen nach Nähe,
das nicht aus dem Defizit geboren sei, sondern »in sich seinen Sinn
hat und bis zum Sich-selbst-Verschenken gehen kann« (93), und
mehrfach hat er auch Liebe im Blick, als individuelle und
menschheitliche Großheit, im Einklang mit dem von ihm zitierten
nicaraguanischen Priester und Dichter Ernesto Cardenal: »Das
Universum ist Liebe« (96).
Die Einzelbeiträge des Buches sind von zwei kenntnisreichen Texten
des Herausgebers Heinz-Jürgen Voß gerahmt. Im einleitenden Beitrag
führt Voß behutsam an das zu erwartende Leseabenteuer heran. Im
Schlussbeitrag stellt er »Bezüge zu und Denkblockaden in deutschen
schwulen Debatten« her (112 ff.) und »Guy Hocquenghems Innovationen
für queere Perspektiven« vor (114 ff.). Es gelte, nicht bei der
(notwendigen!) Entkriminalisierung und Entdiskriminierung von
Homosexuellen stehen zu bleiben, und ganz und gar nicht »die
Homosexuellen« als Gruppe zu fixieren und in brave Normalitäten
einzubetten, sondern viel weiter zu denken und sich vorzustellen,
»wie wir denn unsere sexuellen Verhältnisse und insgesamt unsere
Miteinander zukünftig entwickeln möchten« (116).
Hans-Jürgen Voß ist Professor für Sexualwissenschaft und sexuelle
Bildung im Institut für Angewandte Sexualwissenschaft an der
Hochschule Merseburg. Das Buch ist Band 11 der Reihe »Angewandte
Sexualwissenschaft«. Hoffentlich folgen weitere Bände dieser
Qualität.