Rezension zu Die fremde Seele ist ein dunkler Wald

NDV-Nachrichtendienst 6/2018

Rezension von Ralf Mulot

Auch Menschen mit Migrationshintergrund werden in Deutschland immer älter. Sie sind oft nicht, wie von der Politik ursprünglich erwartet, mit dem Ende der Erwerbstätigkeit wieder zurück in die Heimat gezogen. Sie haben hier Wurzeln geschlagen, und ihre Angehörigen leben oft mehrheitlich auch in Deutschland. Demenz in Familien mit Migrationshintergrund wird zu einer großen sozialen Herausforderung, zumal die Beziehungen zwischen Angehörigen und deutschen Institutionen oft holprig und voller Missverständnisse sind. Gefördert durch die Robert-Bosch-Stiftung konnten die Autoren von der bundesweit tätigen Initiative Aktion Demenz e.V. mit Unterstützung des Instituts für Soziologie der Universität Gießen jetzt eine Studie zu diesem Thema vorlegen.

Zentrale Fragen waren: Wie leben Menschen mit Demenz und unterschiedlicher Nationalität in Migrationsfamilien? Wie wird das Phänomen Demenz dort verstanden? Welche Rolle spielen traditionelle Orientierungen? Werden Dienstleistungen in Anspruch genommen? Gibt es besondere Notlagen?

Um diese Fragen zu beantworten, wurde mit nahen Angehörigen von Menschen mit Demenz gesprochen. »Die Gespräche waren geprägt von Gastfreundlichkeit, von einer bemerkenswerten Nachdenklichkeit, von bewegender Sensibilität, aber auch von großem Schmerz und dem berührenden Leid der Betroffenen«, so die ForscherInnen.

Ältere Menschen, die zu einem frühen Zeitpunkt nach Deutschland eingewandert sind, leiden häufiger als die einheimische Bevölkerung an geriatrischen und chronischen Erkrankungen, sie altern früher und finden nur schwer einen Zugang zu medizinischen, pflegerischen und sozialen Leistungen. Mit einer Demenz geht oft schnell der Verlust der spät erlernten Kenntnisse in der deutschen Sprache einher. Da Diagnoseverfahren auf der deutschen Sprache basieren, liegt hier schon ein gravierendes Problem – denn ohne Diagnose keine Leistungen. Viele Familien wollen es erst einmal allein schaffen, die neue Situation zu bewältigen. Wie aber auch in der einheimischen Bevölkerung, stoßen die Angehörigen schnell physisch und psychisch an ihre Grenzen. Sich dann Hilfe zu holen, ist aber für sie sehr schwierig. Sich im mehrfach gegliederten Sozialsystem Deutschlands zurechtzufinden, zu erkennen, von welcher Institution welche Hilfen zu bekommen sind, stellt große Hürden dar. Pflegestützpunkte könnten eventuell Lotsen durch das System werden, sind aber personell dazu nicht aufgestellt. Auch die GutachterInnen des MDK beraten nicht über mögliche Leistungen und Ansprechpartner, sondern »fragen nur«, was für die Angehörigen von Menschen mit Demenz irritierend sein kann, mehr noch, wenn die Kenntnisse der deutschen Sprache nur mangelhaft sind (zumal es mehr um Fachbegriffe als um Umgangssprache geht). Mangelnde Sprachkenntnisse und mangelnde Kenntnisse der Angebote führen dazu, dass Migrantinnen und Migranten ihre Ansprüche oft nicht durchsetzen können.

Zum Abschluss der Publikation unterbreiten die Autoren der Studie vier Vorschläge:
1. Die Notlagen identifizieren. Forschung zur Praxis der Sorge in Migrantenfamilien intensivieren.
2. Kultursensibilität basisorientiert und interkulturell anstiften.
3. Die Angehörigen fragen: Identifikation von Dienstleistungslücken.
4. Dienstleistungen: Untersuchung bestehender Angebote.
Den besonderen Reiz und den Mehrwert der Publikation machen die umfänglich zitierten Aussagen der befragten Probanden aus. Geradezu bildhaft, aber auch voller Schmerz und Enttäuschung über das Abgewiesenwerden durch die deutschen Institutionen, das ratlose Suchen nach Hilfe und Unterstützung, zeigen uns die Befragten, wie groß der Bedarf an einer personenorientierten Weiterentwicklung der sozialen Systeme und der Angebote ist, nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund.

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