Rezension zu Hungern, um zu leben - die Paradoxie der Magersucht
Familiendynamik 3-2018
Rezension von Terje Neraal
Der Titel »Hungern, um zu leben« drückt das Dilemma der anorektisch
erkrankten Mädchen und Frauen aus: Einerseits kämpfen sie darum,
durch Abnehmen die Kontrolle über ihren Körper zu erlangen,
andererseits laufen sie Gefahr, durch Kontrollverlust in
lebensbedrohliche Gewichtsbereiche zu geraten. Und einerseits
kämpfen sie durch ihre Symptomatik um Unabhängigkeit und Abgrenzung
den Eltern (oder Partnern) gegenüber, andererseits zwingen sie die
Familienangehörigen geradezu dazu, die Verantwortung für ihr Leben
zu übernehmen. Die beiden Autoren dieses Buches sind
Psychoanalytiker und psychoanalytische Paar- und
Familientherapeuten. Beide arbeiten in der Ambulanz für
Familientherapie und Essstörungen der Universitätsmedizin
Göttingen. Für den Aufbau dieses in Deutschland einmaligen
Kompetenzzentrums ist Günter Reich seit Jahrzehnten verantwortlich.
Das Behandlungsteam verfügt über Erfahrungen mit mehreren hundert
essgestörten Patientinnen und Patienten.
Die Autoren stellen ein »Mehrebenen-Modell« vor. Dieses umfasst die
individuelle, intrapsychische Ebene, die beziehungs- oder
familiendynamische sowie die aktuelle gesellschaftliche Ebene.
Zunächst geben die Autoren einen sehr interessanten Überblick über
zeitaktuelle Entwicklungen des Frauenbildes, über
Perfektionsansprüche und Selbstoptimierung des weiblichen Körpers
sowie über eine Esskultur, die auf strikte Kontrolle der
eingenommenen Kalorienmengen achtet. Dabei wird deutlich:
Frauenkörper-Ideale der Mode- und Model-Welt können junge Mädchen
und Frauen zwar beeinflussen, doch die Identifizierung mit diesen
Idealen hat tiefergehende Motive, die mit der psychischen bzw.
konfliktdynamischen Situation der Betroffenen zusammenhängen.
Diese Motive werden in den folgenden Kapiteln genauer untersucht,
wobei herausgearbeitet wird, dass die Fähigkeiten, Konflikte
auszutragen, in Beziehungen eigene Grenzen zu errichten, eigene
Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, nur mangelhaft entwickelt
sind. Dialoge über die eigene Befindlichkeit, über Wünsche und
damit verbundene Ängste werden nicht verbal ausgetragen, sondern
eher über einen Handlungsdialog ausgedrückt. Durch den
Abwehrmechanismus der Vermeidung und die daraus resultierende
Essensverweigerung ringt die Anorektikerin mit sich selbst und
ihrer Umgebung um Kontrolle über das überlebenswichtige Thema der
Nahrungsaufnahme.
Wenn auch der Männer- bzw. Jungenanteil bei anorektischen
Essstörungen unter zehn Prozent liegt, wird in einem eigenen
Kapitel auf die Besonderheiten der Dynamik und Behandlung dieser
Patientengruppe eingegangen.
Der größte Teil des Buches beschäftigt sich mit Fragen der
Therapie. Weil die Patientinnen ja gerade einen verzweifelten Kampf
um Autonomie führen, fällt es ihnen naturgemäß nicht leicht, sich
in eine therapeutische Beziehung zu begeben, in der neue
Abhängigkeiten drohen. Es wird (auch) deshalb empfohlen, auf jeden
Fall die Familie oder evtl. den Partner von Anfang an in die
Therapie mit einzubeziehen. Diese Bezugspersonen stellen ein
bekanntes und vertrautes Terrain für die Patientinnen dar. Die
Frage nach wechselnden und kombinierten Therapie-Settings wird
ausführlich diskutiert. Dabei kommt auch eine Reflexion darüber
nicht zu kurz, wie sehr in Einzeltherapien die schon erwähnte
Gefahr droht, als Therapeutin in der Gegenübertragung in die Rolle
einer Macht ausübenden und kontrollierenden Elternfigur zu geraten,
gegen die sich die Patientin auflehnt bzw. auflehnen muss. Keine
leichte Situation angesichts der oft lebensbedrohenden
Gewichtsabnahmen.
Um sich von dem Druck dieses Dialogs auf der Handlungsebene – der
Essensverweigerung – etwas zu befreien, empfehlen die Autoren
dringend, sich Unterstützung durch Supervision zu holen. Die
Reflexion mit dem Supervisor kann helfen zu verstehen, wofür die
Verweigerung der Nahrungsaufnahme steht, und deutlich machen, wie
der Kampf um Kontrolle und Unabhängigkeit von Eltern(-figuren) zu
Kontrollverlust und noch mehr Abhängigkeit von den Erwachsenen
führen kann. Auch Sitzungen im Familien-Setting können hier
entlastend wirken, richten sich doch die »Botschaften«, die in der
therapeutischen Beziehung sicht- und spürbar werden, eigentlich an
die Eltern.
Das Buch zeichnet sich durch eine gut verständliche Sprache und
vielfältige interessante klinische Vignetten aus, die deutlich
machen, welche mitunter schwierigen Situationen entstehen können,
wenn die Patientinnen das Abnehmen »auf die Spitze treiben«. Wenn
solche krisenhaften Zuspitzungen jedoch ruhig begleitet werden
können, ergeben sich daraus Reifungs- und Genesungsschritte, die
für die psychotherapeutische Arbeit mit diesen Patienten Mut
machen.