Rezension zu Menschenbild und Lebensform

socialnet.de vom 3. August 2018

Rezension von Alexander N. Wendt

Thema
Die Menschheitsgeschichte ist als Geschichte der Menschen mithin Geschichte der Bilder, die sich dem Menschen von sich selbst ergeben. Sie ist also wesentlich mit dem Gegenstand der Psychologie verwoben, wobei damit im weitesten Sinne Alltags-, philosophische oder experimentelle Psychologie gemeint sein kann. Das Panoptikum der Menschenbilder, die sich in der Geistesgeschichte geformt haben, sucht Galliker im vorliegenden Band zu zeichnen. Es geht ihm dabei darum, nachzuvollziehen, wie sich durch die Entwicklung der Menschenbilder auch die Lebensformen verändert haben, wie also die implizite Psychologie eines Zeitgeistes das Handeln und Erleben seiner Zeitgenossen überformte.

Autor
Mark Galliker studierte Psychologie und Philosophie in Bern und promovierte dort 1975 zur Sprach- und Gedächtnispsychologie. Seine Habilitation schloss er nach Forschungsaufenthalten in Deutschland ebenfalls in Bern 1992 ab, woraufhin er dort 2002 auf eine Honorarprofessur am Institut für Psychologie berufen wurde. Seit 2010 leitet er die Module »Sprachpsychologie« und »Emotion und Motivation« bei den Universitären Fernstudien Schweiz. Zudem war er zwölf Jahre als Gesprächspsychotherapeut tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachpsychologie, Geschichte der Psychologie und Kulturpsychologie. Als eine Auswahl seiner jüngeren Publikationen veröffentlichte er 2006 »Psychologie der Verständigung: Eine Einführung in die kommunikative Praxis« und 2009 »Psychologie der Gefühle und Bedürfnisse: Theorien, Erfahrungen, Kompetenzen« bei Kohlhammer, 2013 »Sprachpsychologie« bei UTB sowie 2015 »Ist die Psychologie eine Wissenschaft?« bei Springer.

Entstehungshintergrund
Die Begriffe »Menschenbild« und »Lebensform« entlehnt Galliker dem Werke Sprangers und ordnet seine Arbeit damit in den geistesgeschichtlichen Radius der Lebensphilosophie Ditheys ein. Im weiteren Interessenfeld des Autors steht überdies insbesondere die Geschichte der Psychologie als akademischer Disziplin, mit der er sich in diversen vorherigen Publikationen auseinandergesetzt hat. Dabei ist hervorzuheben, dass der Ansatz vielschichtig ist. Der Untertitel einer »psychologiegeschichtlichen Betrachtung« ist nur eine vage Benennung seiner Methode. Vielmehr werden kulturgeschichtliche, philosophische, psychologische und wissenschaftstheoretische Argumente bedient. Somit ergibt sich für diese im Psychosozial-Verlag erschienene Monographie nur eine ungefähre Zugehörigkeit zum Themenfeld der Geschichte der Psychologie, denn der Rahmen ist weiter gesteckt.

Aufbau
Das Werk gliedert sich nach Einleitung und Vorwort in 18 Kapitel zuzüglich einiger Schlussbemerkungen:
1. Der intellektuelle Mensch
2. Der Sinnesmensch
3. Der religiöse Mensch
4. Der Machtmensch
5. Der Willensmensch
6. Der Maschinenmensch
7. Der Gewohnheitsmensch
8. Der souveräne Mensch
9. Der Ich-Mensch
10. Der ästhetische Mensch
11. Der intuitive Mensch
12. Der kommunikative Mensch
13. Der ökonomische Mensch
14. Der soziale Mensch
15. Der werktätige Mensch
16. Der selektive Mensch
17. Der Kulturmensch
18. Der neuronale Mensch

Die Kapitel sind als Fließtext verfasst, deuten jedoch eine Tiefenstruktur an: Galliker bespricht zunächst weltgeschichtliche Ereignisse, die den Hof der Geistesgeschichte bilden. Im Anschluss wählt er philosophie- oder wissenschaftsgeschichtliche Einzeltexte aus, welche die weltgeschichtliche Epoche auszeichnen. Aus diesen leitet er wiederum das Menschenbild ab, das er daraufhin im vierten Schritt kommentiert und in das Verhältnis zur Geschichte der Weltanschauungen einordnet. Zuletzt schließt er mit dem Verhältnis des Menschenbildes zur Lebensform ab.

Inhalt
Die für jedes Kapitel einleitende Betrachtung der Weltgeschichte orientiert sich an ausgewählten Ereignissen und umreißt den Zeitraum der vorchristlichen Antike über das Mittelalter bis zur Gegenwart. Im Vordergrund stehen dabei Ereignisse, die einen wesentlichen Wandel der Lebenswelt bedingt haben, wie etwa die gewaltsame Auslieferung der Menschen an fremde Mächte im Hellenismus (41), die »Wiederherstellung der Lebenswelt« (107) nach dem Dreißigjährigen Krieg oder die Transformation zur »Werkstatt der Welt« (261) durch die Industrialisierung. Im Vordergrund steht somit die Überleitung zur Geistes- und Kulturgeschichte, die durch diverse Kurzbiographien namhafter Persönlichkeiten erfolgt.

Mit den Bemerkungen zur Geistes- und Kulturgeschichte ist im engeren Sinne die Textstudie einflussreicher Klassiker gemeint. Galliker setzt sich mit den Schlüsselautoren der Epochen auseinander und versucht ihre Werke mit Blick auf Aspekte zu untersuchen, die Menschenbilder präfigurieren oder ausdrücken. Der resultierenden Verantwortung für eine ausreichende Repräsentation der Weltgeschichte entspricht der Autor, indem er sich auf kein Textgenre beschränkt. Er bespricht gleichermaßen Philosophie, Ökonomie, schöngeistige, theologische und politische Literatur, deren Zusammenhang im Menschenbild darzustellen die resultierende Herausforderung ist.

Im Herzen der Kapitel steht die Darstellung des jeweiligen Menschenbildes in seiner Besonderheit. Als hauptsächliche Gesichtspunkte, welche die Kapitel als Kriterien des Vergleiches einen, stechen dabei das Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft einerseits und Autonomie resp. Heteronomie des Menschen andererseits hervor. Galliker fokussiert die Frage nach der Kultur des Menschen stärker als diejenige nach dessen Natur, sodass die Eigenheiten der besprochenen Menschenbilder vor allem in den Bereich psychosozialer Differenzen fallen. Hierin besteht der wesentliche psychologiegeschichtliche Zug der Arbeit.

Ergänzt wird dieser Aspekt indes um einen Kommentar und eine Komparatistik der Menschenbilder. Mag Galliker in den Reflexion der Schlussbemerkungen seiner Bemühung um Neutralität auch Nachdruck verleihen, so enthält er sich innerhalb der jeweiligen Darstellungen nicht des Kommentars. Dabei handelt es sich oftmals um Spezifika des psychologischen Diskurses, welche die Kritik bestimmter wissenschaftsgeschichtlicher Positionen, wie des Behaviorismus oder des Kognitivismus, und die Auseinandersetzung mit therapietheoretischen Fragestellungen, insbesondere die Vorstellung des humanistischen bzw. personenzentrierten Ansatzes, umfassen.

Der Begriff der Lebensform ist gemeinhin der Abschluss des jeweiligen Kapitels. Galliker fragt danach, welchen Einfluss das Menschenbild auf das gesellschaftliche Leben hat. Es geht dabei weniger um die weltanschaulichen Revolutionen, welchen der Wandel der Menschenbilder Ausdruck verleiht, sondern soziale Schwerpunktsetzungen. Die »Lebensform des Ich-Menschen« (146) zeigt beispielsweise einen polaren Gegensatz zur »kommunikative[n] Lebensform« (196). Auf der Grundlage dieser Darstellung entsteht ein Panorama sozialer Verhaltensweisen und ihres Zusammenhangs mit verschwisterten Menschenbildern.

Diskussion
Der Begriff des Menschenbildes stellt den Rahmen der Untersuchungen: »Unter Menschenbild wird das Bild verstanden, das sich Menschen vom Menschen machen« (13). Allein, die Frage danach, wer der Mensch ist, der sich ein Bild von sich selbst macht, muss von der Frage nach diesem Bild getrennt werden. Der Unterschied findet seinen subtilen Ausdruck im Unterschied zwischen den »Menschen« und dem »Menschen«. Der Begriff des Menschen selbst, als Thema der Anthropologie im engeren Sinne, wird im vorliegenden Werk nicht in das Zentrum gestellt. Es handelt sich um eine kulturhistorische Betrachtung. Anstelle der Frage nach dem Menschen steht also die Geschichte dieser Frage – womit bereits ersichtlich wird, dass diese beiden Aspekte nicht voneinander getrennt werden können.

Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Galliker schreibt: »Bei einem partikularistischen Menschenbild […] wird selbst bei bestimmten Menschen […] das ›wahre‹, ›echte‹ oder ›richtige‹ Menschsein in Abrede gestellt« (29). Hier erhellt, dass eine anthropologische Totalität immer präsupponiert werden muss. In anderen Worten: Der Mensch, der sich ein Bild von sich macht, muss allererst Mensch sein. Somit wird das Verhältnis von Menschenbild und Anthropologie zirkulär und findet nur dank der historischen Methode im vorliegenden Werk einen Ausbruch – auf Kosten der Anthropologie. Eine Bestimmung vom Wesen des Menschen erfolgt also nicht und wird vom Verfasser auch nicht angestrebt.

Mag dieser Ansatz auch als kulturhistorischer genügen, so markiert er doch zugleich seine eigenen Grenzen, denn immer wieder zeigen sich Sollbruchstellen in der Geschichte auf, die eine übergeordnete Perspektive zulassen, so etwa bei der Frage nach dem »Ich-Menschen« (141). Einer philosophischen Darstellung läge es hier nahe, nach dem Bewusstsein und dem Selbst als menschlichen Strukturen zu fragen und somit ein Kriterium für den Vergleich von Menschenbildern zu gewinnen (ein anderes Beispiel ist die Frage nach dem Organismus [112]). Dieser Pfad wird nicht verfolgt, doch darin besteht keine Schwäche des Werkes, sondern das Resultat der Schwerpunktsetzung (»ausdrücklich nicht […] eine Untersuchung der sogenannten Psychogenese« [21]). Es handelt sich also um Kultur- und nicht Naturgeschichte (sie kommt selbst wiederum nur als Thema von kulturgeschichtlichen Menschenbildern zur Sprache, z.B. 281). Hierzu bekennt sich Galliker mit Klarheit in den Schlussbetrachtungen, indem er feststellt, dass zur Bestimmung des Agens in der menschlichen Entwicklung (auch »Menschwerdung«, »Homogenese« [279]) kein Beitrag geleistet werde resp. Skepsis gegenüber dessen Existenz vorherrsche (346 f.).

In Opposition zur phylogenetischen Anthropologie tritt der Begriff der Lebensform in den Mittelpunkt: »In der vorliegenden Arbeit wird ›Lebensform‹ pragmatisch verwendet. Rein analytisch betrachtet, bedeutet sie vorerst nur ›Form des Lebens‹, das heißt dasjenige, das dem Leben Form gibt. Dabei wird man sich an erster Stelle auf das unmittelbar zugängliche Verhalten beschränken. Es handelt sich um das Verhalten, das intersubjektiv erkennbar ist« (17). Eine genauere Bestimmung des Begriffes erfolgt im Laufe der verschiedenen Untersuchungen: Spranger unterscheide verschiedene Klassen von Lebensformen, so z.B. die ästhetischen (156) und sozialen (235). Die Lebensform lasse sich von Künsten (106) i.S.v. Techniken unterscheiden und »besteht aus zusammenhängenden Verhaltensweisen, die auf Gewohnheiten beruhen« (123). Und doch stellt Galliker zuletzt fest, dass »bei allen Unterschieden zwischen Menschenbild und Lebensform diese beiden Konzepte praktisch auch zusammenfallen [können]« (340). Es handelt sich vielmehr um eine systematische Unterscheidung zwischen theoretischen (Menschenbild) und praktischen (Lebensform) Aspekten der jeweiligen Weltanschauungen, welche sich erst in der Reflexion ergeben. Für das vorliegende Werk bedeutet dieser Umstand, dass der Vorrang den Menschenbildern gilt und Lebensformen eher ein Zusatz sind.

Dieser Vorrang resultiert aus dem Ansatz des Autors: »Meines Erachtens ist es wichtig, sich dieser Menschenbilder bewusst zu werden, um ihre Tragweite einzuschätzen und gegebenenfalls deren Einwirkungen auf die Forschungsarbeit erfassen zu können« (8). Galliker weist damit letztlich über die reine Historiographie hinaus. Ähnlich der Foucaultschen Archäologie bemüht er sich darum, die episteme der Psychologie zu untersuchen, d.h. die weltanschaulichen Strukturen sichtbar zu machen, die selbst noch die wissenschaftliche Erkenntnis formen – zu bestimmen, »auf welchem Menschenbild die heutige akademische Psychologie basiert« (16). Zu den Voraussetzungen dieser historischen Analyse zählen das »pluralistische Wissenschaftsverständnis« (13) und die »realwissenschaftliche Hinsicht« (319), welche wissenschaftstheoretisch mit dem kritischen Rationalismus, den Galliker aufgreift, übereinkommen. Jenseits der bloßen Kulturgeschichte steht also ein realistisches (aber nicht anthropologisches) Urteil über die Menschenbilder, »[i]nwieweit diese Konstruktionen der Wirklichkeit angemessen sind« (13).

Methodologisch folgt aus diesem Ansatz eine Spannung zwischen dem historischen Vorgehen und dem kritischen Blick auf die Psychologie, insbesondere im Verhältnis vom zeit- zum disziplingeschichtlichen Teil: Ist der einleitende Teil jedes Kapitels tatsächlich nur Kontext oder vielleicht sogar Soziogenese von Menschenbildern? Am Beispiel gesprochen: Wie weit reicht der Zusammenhang zwischen Industrialisierung, kapitalistischer Weltanschauung, »werktätigem Menschen« (237) und letztlich auch dem Dienstleistungsverhältnis zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson im psychologischen Experiment? Schon Holzkamp hatte nach diesen verborgenen anthropologischen Voraussetzungen der Psychologie gefragt. Die Antwort auf diese Frage fällt jedoch vage aus, wobei in dieser Zurückhaltung vor einem endgültigen Urteil die Reichweite induktiver historischer Forschung nur gewahrt wird – Schlüsse zu ziehen würde sie überschreiten.

Nichtsdestoweniger resultiert aus der besagten Spannung zwischen historischem und kritischem Aspekt auch die Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Menschenbilder. Wechseln sie sich ohne Fortschritt ab wie wissenschaftliche Paradigmen bei Kuhn oder besteht eine Entwicklungsgeschichte? Zwar gibt es vielfach Rückverweise auf zuvor dargestellte Menschenbilder (z.B. 217, 336) und einige schematische Strukturen werden aufgezeigt, wie der Gegensatz zwischen dem sozialen und dem Ich-Menschen. Doch letztendlich wird keine historische Notwendigkeit behauptet. Darin besteht eine deutliche Stärke der Arbeit, denn das Thema birgt das emotionale Risiko, Behauptungen über die Gültigkeit von Menschenbildern aufzustellen, die nicht ausreichend gerechtfertigt sind. Davon ist Gallikers Denken prinzipiell frei. Letztlich bietet die Arbeit somit eine solide Grundlage für die Komparatistik der jeweils am Text aufgezeigten Menschenbilder. Der Vergleich wird dadurch begünstigt, dass kaum ein Menschenbild isoliert wird, sondern zudem Nebenformen benannt werden, z.B. der »homo statisticus« (264) oder das »funktionalistische Menschenbild«/der »funktionierende Mensch« (316, 320).

Insgesamt handelt es sich bei der Arbeit nicht einfach um Psychologiegeschichte. Zu ihr gesellen sich Zeit- und Kulturgeschichte. Die Arbeit liest sich deswegen bisweilen wie eine geistesgeschichtliche Galerie, etwa in Tradition von Friedells »Kulturgeschichte der Neuzeit«. Dadurch gewinnt es eine Weite, welche den Begriff der Psychologie ausdehnt und die Kontinuität zu Aristoteles und Melanchthon (97) sieht. Diese Breite bleibt nicht ohne psychologische Tiefe, denn es werden diverse Kontroversen der akademischen Psychologiegeschichte en détail dargestellt (z.B. 167, 229, 231). Die Psychologiegeschichte im Sinne des Mainstreams, also die experimentelle Laborpsychologie, kommt allerdings erst am Ende der Arbeit in den Fokus (309 ff.). Darin besteht ein Wert, der die Arbeit als historische auszeichnet, weil sie die zeitgenössisch vorherrschenden Interpretationen nicht bloß affirmiert. Zugleich wird allerdings so der Ausdruck »psychologiegeschichtlich« im Titel zweifach irreführend, denn das Werk handelt nicht nur formal von mehr als Psychologiegeschichte, sondern ist auch inhaltlich dann unerwartet, wenn es mit dem Maß des Mainstreams gemessen wird.

Dieser Geist des Widerspruchs, der schon in der Einleitung anklingt, weil sich die Arbeit an diejenigen richtet, die »möglicherweise unzufrieden mit ihrem Fachgebiet sind« (9), konfligiert jedoch gewissermaßen mit Gallikers formalem Interesse an Neutralität der Betrachtungen, also die Enthaltung von normativen Ergebnissen: »Zur Beurteilung der Wahrheit oder Richtigkeit eines Menschenbildes würde man ein objektives Kriterium benötigen« (346). Hier zeigt sich mit Nachdruck die wissenschaftliche Einstellung des kritischen Rationalismus, der an einem neutralen Standpunkt ex negativo, also durch die Enthaltung festzuhalten sucht und den naturalistischen Fehlschluss streng vermeidet.

Tatsächlich beschneidet Galliker sich durch dieses Bekenntnis allerdings der Legitimation für die lebendigsten Passagen seiner Arbeit. Mehr noch: eines Bekenntnisses zur Neutralität bedarf es für die Frage nach dem Menschen kaum, denn selbst der kritische Rationalist bleibt selbst noch Mensch, ist niemals nicht involviert. Zu ergänzen, dass es auf historisch-empirischem Wege zu keinen letzten Antworten kommen kann, ist also nur Formsache. Tatsächlich stechen in der Arbeit sogar immer wieder emphatische Bekundungen für und wider bestimmte Menschenbilder hervor, die durch die Bemühung um Neutralität nur zur Nebensache zu werden drohen. Die Kraft und Wirkung des Werkes hängt dem zum Trotz gerade von seinem Autor ab.

Gallikers Auswahl historischer Ereignisse ist nicht neutral und folgt einem Bild von der Geschichte. Hierzu gehört etwa eine negative Darstellung des Einflusses der Kirche (z.B. 57) und der Industrialisierung (z.B. 261). Darüber hinaus lässt sich die implizite Bevorzugung einiger Menschenbilder erkennen. Musils »Mensch ohne Eigenschaften« (313, 337) scheint so zum Symbol eines unzureichenden Menschenbildes in der Moderne zu werden. Diese Beiträge sollten nicht durch das Neutralitäts-Gebot selbst zensiert, sondern als Standpunkt vorgetragen werden. Sie sind die Substanz, welche die Darstellung von einem namenlosen Geschichtsbuch unterscheidet.

Genauer besehen zeichnet sich Gallikers Position als kritische aus. Behaviorismus (120) und Kognitivismus (172, 177) werden hinterfragt: »Das Labor moderner experimenteller Psychologen und Psychologinnen ist ein im Kleinen universitärer, im Großen universeller Raum. Er ist quasi keimfrei und für die Alltagsprobleme der Menschen unempfindlich. Die Widersprüche, welche die Menschen in real existierenden warenproduzierenden Gesellschaften wirklich etwas angehen, bleiben ausgesperrt« (318). Stattdessen bedürfe es der »Konzepte wie überindividuelle Entwicklung und Intersubjektivität« (335), um den Diskurs der Psychologie voranzutreiben. Die Kritik ist dabei detailspezifisch und gut am Beispiel verdeutlicht (329 ff.).

Eine zweite Seite der Kritik wendet sich an die klinische Psychologie. Galliker integriert bevorzugt Einsichten der und Referenzen zur humanistischen Psychotherapie. Diese begünstigen allerdings selbst gewissermaßen ein Menschenbild, nämlich den kommunikativen Menschen (»Kommunikation bedeutet Verständigung untereinander« [196]) bzw. das personale Menschenbild (246): »Die kleinste Einheit einer Gemeinschaft im Kleinen oder auch der Gesellschaft im Großen ist die Person« (8). Dieser Geisteshaltung entspricht zudem eine kritische Einstellung zur Kognitiven Verhaltenstherapie (320).

Der konstruktive Beitrag der Arbeit besteht in einem Plädoyer für »historisch-materiell[e]« (331) Forschung in der Psychologie. Erst unter der Berücksichtigung der Vielfalt an Menschenbildern könne sich die experimentelle Psychologie einen Blick für die Komplexität ihres Gegenstandes gewinnen (aber auch schon innerhalb einzelner Menschenbilder wie etwa beim selektiven Menschen, der sowohl aktiv als auch passiv selektiv ist [282]). Dabei wird allerdings auch ersichtlich, dass dieses Programm einer geisteswissenschaftlichen Psychologie einer philosophischen Propädeutik bedarf, deren Fehlen schon die Lektüre des vorliegenden Bandes erschweren mag. Letztlich tendiert Gallikers eigenes Denken so zu Marcels »homo viator, Person, die unterwegs ist« (348) und begibt sich auf »die Suche nach dem verlorenen intersubjektiven Menschenbild« (343). Wo das Werk diese subjektiv anmutenden Kommentare zulässt und gegen die Bemühung um Neutralität der historischen Darstellung zu verstoßen droht, hat es seine stärksten Seiten.

Fazit
In der Menschheitsgeschichte haben Menschenbilder viele Gestalten angenommen und vielfältige praktische Lebensformen hervorgebracht. Auf diesen Bildern, die »sich Menschen vom Menschen machen« (13), ruht die Forschung der Psychologie und damit die Möglichkeit zu einem Wandel in der Wissenschaft. Galliker präsentiert ein Panorama der Vielfalt an Menschenbildern, welche sich in den Klassikern der Geistesgeschichte finden lassen. Das Hauptanliegen seiner Textstudie ist dabei, die Spuren der Psychologie schon vor ihrer Etablierung als experimenteller Wissenschaft aufzuspüren. Nicht ohne Stellung zu beziehen, gelingt es ihm so, den Konnex zwischen Zeit-, Kultur- und Psychologiegeschichte aufzuzeigen.

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