Rezension zu Leibtherapie
socialnet.de vom 12. Juli 2018
Rezension von Gerhard Hintenberger
Thema
Körperpsychotherapeutische Ansätze haben sich im Laufe der
Jahrzehnte zu einer kaum mehr nachvollziehbaren Vielfalt
ausdifferenziert und dabei sehr unterschiedliche Spuren und
Eingravierungen in den verschiedenen Therapieverfahren
hinterlassen. Mit den Erkenntnissen neurobiologischer Forschungen
steigt nun neuerlich das Interesse an der Integration
körpertherapeutischer Interventionen. So versucht Thomas Fuchs
(2008) den Dualismus der kognitiven Neurowissenschaften, denen er
eine Trennung von Geist und Leben unterstellt, durch den Rückgriff
auf die Leibtheorien eines Merlau-Ponty zu überwinden. Auch die
Embodimenttheorien aus dem Umfeld der Kognitionswissenschaften
finden wieder verstärkt Beachtung und darüber hinaus sogar ihren
Weg in psychoanalytische Konzepte (Leuzinger-Bohleber, Emde &
Pfeifer, 2013). In humanistisch geprägten Therapieverfahren spielt
der »Körper« von Beginn an eine besondere Rolle in theoretischen
und praxeologischen Konzepten. Auch die Verhaltenstherapie
beschäftigt sich über die Themen »Achtsamkeit« und »Entspannung«
zumindest indirekt mit körpertherapeutischen Phänomenen.
Der Autor des vorliegenden Buches ist in Integrativer Therapie
ausgebildet und lehrt dieses Verfahren auch auf universitärer
Ebene. Die Integrative Therapie war von Anfang an bemüht,
körpertherapeutische Interventionen mehrperspektivisch zu
fundieren. Dem von Hilarion Petzold (2012) entwickelten Konzept des
»informierten Leibes« kommt dabei grundlegende Bedeutung zu. Auch
der Autor nennt sein Buch »Leibtherapie« und geht damit einen
entscheidenden Schritt über körperpsychotherapeutische Konzepte
hinaus.
Autor
Der Autor ist praktizierender Arzt und Psychotherapeut sowie
Lehrtherapeut der Österreichischen Ärztekammer und für Integrative
Therapie an der Donau-Universität Krems. Ergänzend haben bei
einigen Kapiteln Ingrid Wild und Auguste Reichel mitgewirkt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst annähernd 300 Seiten und ist in acht große Kapitel
unterteilt. Im Anhang befindet sich noch eine Sammlung bewährter
Übungsanleitungen. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick
in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Nach der Einleitung beschäftigt sich das Kapitel 2 mit der
philosophischen Differenzierung von Leib und Körper. Im Mittelpunkt
stehen dabei Überlegungen zum Leib-Seele-Problem. Als Leib wird in
diesem Zusammenhang der belebte, mit Bewusstsein ausgestattete und
vom Subjekt erlebte Körper verstanden.
Kapitel 3 beleuchtet verschiedene Aspekte der Leiblichkeit. Die
horizontalen, vertikalen und temporalen Dimensionen des Leibs
werden ebenso reflektiert wie der soziale und der energetische
Leib. Der Autor rahmt den Leibbegriff aus unterschiedlichen
Perspektiven und beschreibt den Mensch als Leibsubjekt, das
innerhalb des Zeitkontinuums in einem unlösbaren Verbund mit seinem
sozialen und ökologischen Umfeld steht.
Kapitel 4 versteht sich als Einführung in die Leibphilosophie von
Hermann Schmitz. Dieses sehr kurze Kapitel ist, wie auch der Autor
anmerkt, in erster Linie als Anregung gedacht, sich mit den
Originalschriften des Leibphilosophen zu beschäftigen.
Kapitel 5 widmet sich dem Thema »Embodiment« also der
Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche, wobei sich die Psyche
nicht nur im Körper bemerkbar macht, sondern auch umgekehrt,
Köperzustände psychische Befindlichkeiten beeinflussen. Der Autor
bezieht sich dabei wesentlich auf den Ansatz des »Züricher
Ressourcen Modells« und damit auf ein Konzept, das auf der
Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse kognitive, emotive
und physiologische Elemente mit einbezieht. Wie vielschichtig
inzwischen Embodiment-Theorien integriert werden, zeigen weitere
Ansätze wie die »multiple Codierungstheorie« der Psychoanalytikerin
Wilma Bucci sowie der Focusing-Ansatz von Eugene T. Gendlin, die
ebenfalls überblicksartig vorgestellt werden.
Kapitel 6 trägt den Titel »Das Prinzip Achtsamkeit« und wird vom
Autor ganz offensichtlich als sehr zentral erachtet. Auf den ersten
Blick mag es überraschend erscheinen, dass »Achtsamkeit« im
Mittelpunkt eines Buches über Köper- und Leibtherapie steht. Der
Autor entwickelt jedoch sehr schlüssig, ausgehend von theoretischen
Reflexionen zum Begriff der Achtsamkeit, einen Bogen zu
verschiedenen Ansätzen und Praxismodellen und führt sie immer
wieder auf ihre leiblich bedingten Grundlagen zurück.
Dem Thema »Berührungen in der Therapie« und die Ausdifferenzierung
in »Non-Tousching-Approach«, »Self-Touching- Approach« und
»Touching-Approach« widmet sich Kapitel 7.
Kapitel 8 bietet einen kompakten Überblick zur Psychosomatik und
beschreibt mögliche Konsequenzen für die psychotherapeutische
Praxis.
Kapitel 9 stellt das Phänomen »Bewegung« in den Fokus. Hier werden
auf der Grundlage mehrperspektivischer Betrachtungsweisen
(Bewegungsqualitäten, Bewegungsentwicklung, gendersensible Aspekte,
Bewegung und Lernen, Bewegung und Sprache, ...) praxeologische
Aspekte näher beleuchtet.
Neben einer Zusammenfassung finden sich im Anhang eine Anzahl
»bewährter Übungsanleitungen«, die für den Einsatz in der Praxis
aufbereitet wurden.
Diskussion und Fazit
In den Vorbemerkungen des vorliegenden Buches betont der Autor,
dass sich der Inhalt zunächst an Studierende sowie an die
Kollegenschaft der Integrativen Therapie wendet. Dies scheint
jedoch zu kurz gegriffen, denn »Leibtherapie – Eine neue
Perspektive auf Körper und Seele« bietet für PsychotherapeutInnen
unterschiedlicher Schulen einen guten Überblick zu
leibtherapeutischen Ansätzen im psychotherapeutischen Kontext. Die
integrativen Perspektiven werden dabei von leibphilosophischen
Theorien gerahmt und fundiert. Eine große Stärke des Buches ist die
enge Verzahnung von Theorie und Praxis. In jedem Kapitel finden
sich konkrete Interventionsmöglichkeiten sowie erklärende
Patientenvignetten. Die verständlich dargestellte Theorie wird so
szenisch fassbar und lebendig. Besonders hervorzuheben ist eine
Sammlung von leibtherapeutischen Übungen, die den LeserInnen im
Anhang zur Verfügung gestellt werden. Der kultur-pessimistische
Blick auf die Virtualisierung der Lebenswelt, der in einem
Unterkapitel eingenommen wird, kann ebenso kontrovers diskutiert
werden wie die Frage, wieso das Konzept des »informierten Leibs«
nicht einen noch größeren Raum bekommen hat. Dies tut jedoch dem
sehr guten Gesamteindruck des Buches keinen Abbruch, dem viele
LeserInnen aus unterschiedlichen Therapierichtungen zu wünschen
sind.
www.socialnet.de