Rezension zu »Wir scheißegal. Ab nach Kosovo!« (PDF-E-Book)
Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ) 2/2018
Rezension von Sabrina Hoops
Die vorliegende Publikation mit dem aus einem Interview entnommenen
Zitat »Wir scheiß, egal. Ab nach Kosovo!« (S. 193) als markantem
Titel wurde zugleich als Dissertation an der Fakultät für
Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg anerkannt.
Die Arbeit der Sonderpädagogin Susanne Leitner nimmt ein Thema in
den Blick, das heute aktueller ist denn je: Die Straffälligkeit
männlicher Jugendlicher und junger Männer mit unsicherem
Aufenthaltsstatus.
Ausgehend von ihrer eigenen fachpraktischen Erfahrung, zunächst als
langjährige ehrenamtliche Alltagsbegleitung während des Studiums
mit straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im
Rahmen des Projekts »BEATSTOMPER« fokussiert die Autorin auf die
Gruppe der jungen Männer ans dem Kosovo (»Abaner«), genauer auf
männliche Jugendliche und junge Männer zwischen 16 und 24 Jahren.
Dass die Autorin mit den Interviewten mit starker Empathie
verbunden ist, wird bereits auf den ersten Seiten sichtbar (»sind
sie doch Teil unserer Gesellschaft und sie sind es wert, besser
verstanden zu werden«, S. 12) und zieht sich wie ein roter Faden
durch die Publikation. Man tut der Autorin sicher nicht unrecht,
wenn man als Leseeindruck formuliert: Sie fühlt sich berufen, sie
ergreift Partei und möchte etwas bewegen. Ihr Erkenntnisinteresse
beschreibt sie wie folgt:
»Wer sind diese jungen Männer, die sich ›Albaner‹ nennen, die ihre
Kindheit- und Jugend weitgehend in Deutschland verbracht haben und
hier sowohl heimisch als auch kriminell geworden sind?«
»Mit welchen (äußeren) Lebensrealitäten sehen sie sich
konfrontiert?«
Neben familiären und schulischen Problemen spielen viele weitere
Risikofaktoren eine Rolle für das Nicht-Gelingen von Integration in
Deutschland – davon wählt die Autorin den unsicheren Bleibestatus
(unsicherer Aufenthaltstitel/ Duldung) als zentralen Dreh- und
Ankerpunkt für ihre Forschungsarbeit über straffällige junge Männer
aus.
Um hier nun »Prozesse der Identitätskonstruktion« (S. 14)
wissenschaftlich darzustellen, erachtet sie eine Art von Forschung
für notwendig, »die sich unmittelbar mit den Innensichten der
betroffenen Personen« (S. 14) beschäftigt.
Die Arbeit intendiert drei Zielsetzungen (S. 14 f.):
»… einen Verständniszugang zur beschriebenen gesellschaftlichen
Gruppe zu schaffen, um die Lücke im wissenschaftlichen Diskurs zu
füllen.«
»… ein besseres Verstehen der beforschten Zielgruppe [soll]
Vorurteilen und Diskriminierungstendenzen entgegenwirken.«
»… Erkenntnisse über die – von Pädagogik und Sozialarbeit nur
schwer erreichbaren – jungen Menschen und ihre subjektiven
Innensichten [sollen] dabei helfen, über sinnvolle und passende
Unterstützungs- und Eingliederungsmaßnahmen nachzudenken.«
Um sich ihrer anspruchsvollen Absicht in adäquater Weise stellen zu
können, wählt sie gegenstandsangemessen einen qualitativen
Forschungsansatz aus, der sehr gut dafür geeignet ist, die
subjektiven Erfahrungen und Perspektiven der interviewten jungen
Männer zu erfassen und der vor allem auch dem verstehenden Zugang
der Autorin gerecht wird.
Doch dazu später. Zum Aufbau der vorliegenden Arbeit: Der Band, der
neben Literatur und Anhang sechs Kapitel umfasst, wird eröffnet mit
einer kurzen und eindrücklichen und wie die Autorin es
kennzeichnet, »Fallvignette« (S. 10) des 18-jährigen Jetmir, deren
Lektüre in plausibler Weise auf die Arbeit vorbereitet, indem sie
nicht zuletzt für die Schicksale der jungen Männer
sensibilisiert.
In der Einführung zeigt die Autorin die großen Forschungslücken zur
Situation junger zwangsmigrierter Menschen in Deutschland auf und
referiert Literatur aus den Jahren 2004–2015. In der Zwischenzeit
(Stand der Rezension Mai 2018) gibt es zwar etwas mehr Bewegung in
der Forschungslandschaft zu Flucht und Migration, insbesondere im
internationalen Bereich, dennoch besteht zu dem fokussierten Thema
der Straffälligkeit junger Menschen mit unsicherem
Aufenthaltsstatus nach wie vor großer Forschungsbedarf. Ihr
Forschungsparadigma beschreibt sie als »psychoanalytisch
inspirierte [...] Sonderpädagogik [...], die pädagogisches
Verstehen als geeigneten Zugang zur Erfahrungswelt von Individuen
[...] ansieht« (S. 16).
Kapitel 2 nimmt die Lebenslagen von aus dem Kosovo migrierten
jungen Männern in den Blick, beginnend mit den historischen
Ereignissen im Kosovo, den Fluchtursachen und der
Migrationsgeschichten bis hin zu aufenthaltsrechtlichen Fragen im
Ankunftsland sowie der Lebenssituation und den schwierigen
Bedingungen des Aufwachsens in Deutschland. Dabei wird auch das
Traumapotenzial prekärer Aufenthaltsperspektiven skizziert sowie
deren intergene-rationale Weitergabe an erst im »Residenzland«
geborene junge Männer. Dabei fällt aus der sozialwissenschaftlichen
Perspektive der Rezensentinnen ins Auge, dass die Autorin bereits
hier einzelne Zitate aus den Interviews verwendet und sie
Belegstellen aus der Literatur gleichstellt. Auch wenn dies
(gemeint ist an dieser Stelle der Verzicht auf die übliche
»Trennung zwischen Theorie und Empirie«, S. 16) von der Autorin
bewusst erfolgt und sie dies offensiv wendet, indem sie ihr Bemühen
betont, »ein möglichst plastisches Bild« (S. 16) zu zeichnen, so
ist aus Sicht der Rezensentinnen ein solches Vorgehen zumindest
irritierend, da nicht den wissenschaftlichen Gepflogenheiten
entsprechend – auch wenn die Lesbarkeit hierdurch erhöht sein
mag.
Ein weiteres zentrales gemeinsames Element des Samples ist die
Straffälligkeit/Delinquenz: Hierzu führt die Autorin im
Unterkapitel 2.4 genauer ein und stellt Hintergründe sowie
ausgewählte Erklärungsansätze vor. Dabei bleibt sie immer an ihrer
Themenstellung orientiert und verliert sich nicht, das fällt für
eine Qualifikationsarbeit sehr positiv auf, in der Vielfalt der vor
allem (entwicklungs-)psychologischen und kriminologischen Theorien.
Der Faktor »überstilisierte Männlichkeit« (S. 55) findet hierbei
besondere Berücksichtigung.
Die Zielsetzung der Publikation einer wissenschaftlichen
Qualifikationsarbeit findet in den Kapiteln 3 und 4 ihren Ausdruck,
in denen der theoretische Bezugsrahmen, vor allem die »Vorannahmen
zum Zugang zu ›Identität‹« (S. 69 ff.), die methodologischen
Vorüberlegungen und das aufwändige dreistufige methodische Design
(S. 87 ff.) in sich schlüssig, transparent und nachvollziehbar
dargestellt werden. Auch genauere Darlegungen zum Sampling (die
Interviews fanden in einer süddeutschen Justizvollzugsanstalt
statt) finden sich im Methodenkapitel. Dem bereits eingangs
vorgestellten Fall Jetmir kommt auch hier eine Schlüsselrolle zu:
Ausführliche Auszüge aus den Interviews mit ihm geben seltene und
sehr persönliche Einblicke in das Thema »Selbstreflexion im
Forschungsprozess« (S. 113 ff.).
Für den/die wissenschaftsferneren Leser/Leserin ist dann vor allem
das umfangreiche Kapitel 5 spannend (S. 139 ff.). Hier werden die
empirischen Forschungsergebnisse bildreich und anschaulich
vorgestellt. In einem ersten Schritt werden neun Fälle, genau
genommen acht (sehr verkürzte) Fallvignetten und daraus aufbauend
drei ausführliche Fallanalysen, die kontrastierend ausgewählt
wurden, präsentiert. Im zweiten Schritt erfolgt eine vergleichende
Auswertung der verschiedenen Interviews (»Wir scheißegal. Ab nach
Kosovo!«, S. 193 ff.). Hierbei werden aufenthaltsrechtliche
Bedingungen und ihr Einfluss auf die alltäglichen Lebensführungen
beschrieben, des Weiteren die Gefährdung des Aufenthalts durch
Delinquenz und Selbst- sowie Fremdzuschreibungen der jungen Männer
und ihre Selbstverortung zwischen Deutschland und dem Kosovo.
Kapitel 5.5 bündelt die Perspektiven zusätzlich zur subjektiven
Wahrnehmung der drohenden Abschiebung und des Umgangs der jungen
Männer mit diesem »Damoklesschwert«, das von der Autorin durch den
Verweis auf zahlreiche Interviewbelege eindrucksvoll und bedrückend
als »sozialer Tod« (S. 272) beschrieben wird.
Das Buch endet mit einem gelungenen Resümee und der Entwicklung
(erster) handlungsleitender Empfehlungen für Politik und
pädagogische Praxis (zuvörderst in der Schule aber auch in Beratung
und Strafvollzug). Dabei fällt vielleicht zunächst auf, dass die
praktischen Folgerungen eher knapp geraten sind; hervorzuheben ist
jedoch, dass die Autorin, deren Respekt und Wertschätzung für die
befragte Personengruppe im Buch durchgängig sehr sichtbar ist, hier
auf voreilige Schlüsse verzichtet. Das Buch schließt mit einem
starken Plädoyer:
»Auch Jugendliche mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus,
einschließlich diejenigen, die die Regeln und Gesetze unseres
Landes übertreten haben, sind zunächst einmal ›junge Menschen‹. Sie
dürfen unserer Gesellschaft nicht, um mit Vetons Worten zu
sprechen, ›scheißegal‹ sein« (S. 305).
Gesamtbilanz: Das Buch widmet sich in engagierter Weise einem
wichtigen aktuellen Thema. Es ist sehr gut lesbar, es hat den
berühmten roten Faden und verliert sich nicht in einer Materie, die
ganz schnell sehr breit werden kann, sondern bleibt bei seinem
Fokus. Fazit: sehr lesenswert.