Rezension zu Das Unbewusste, Band 1-3
DLF-STUDIOZEIT
Rezension von Martin Hubert
MEHR ALS NUR VERDRÄNGUNG
Die neue Debatte um das Unbewusste
Red. Michael Röhl
Die O-TÖNE wurden vom Autor selbst geschnitten
ERZÄHLERIN:
Tagsüber hatte
der Träumer viel über das Unbewusste gelesen: Bücher von und über
Sigmund Freud, Texte von Verteidigern und von Kritikern des Vaters
der Psychoanalyse. Dann hatte er sich auf den Schlaf gefreut,
wollte Ruhe, befreit werden von dem wilden Durcheinander der Ideen
und Argumente in seinem Kopf.
ERZÄHLERIN:
Doch nun, in der Nacht,
dreht sich der Träumer unruhig im Bett herum. Der Schlaf hat ihn in
eine unwirtliche Landschaft entführt: er geht durch die engen
Schluchten eines Gebirges aus braunem, messerscharfen Fels.
Vorsichtig muss er sich vortasten, jede Berührung vermieden. Er
weiß, er muss durch diese Felsschluchten hindurch, dann wird er am
Ende des Gebirges Ruhe und Geborgenheit finden.
ERZÄHLERIN:
Doch als sich die
Felsen endlich zu einer Ebene weiten, ist sie übersät von
schreienden Säuglingen, die wild mit dem Finger in eine Richtung
zeigen – jeder in eine andere. Sie haben die Gesichter
geschichtlicher Gestalten, Caesar, Bismarck, Hitler. Verzweifelt
hastet er weiter, wieder ins Gebirge hinein. Als der Boden unter
ihm heiss und schlüpfrig wird , beginnt er zu rennen, verletzt sich
im Felsenlabyrinth. Endlich sieht er ein helles Licht – und ist
wieder dort, von wo er aufgebrochen war. Verwirrt wacht der Träumer
auf.
SPRECHER:
Der Traum war für Sigmund
Freud der Königsweg zum Unbewussten. Noch vor dem Witz, den
Fehlleistungen und Versprechern oder den Symptomen frühkindlich
entstandener Konflikte. Wer allerdings heute versucht, einen Zugang
zum Phänomen das Unbewussten zu finden, der könnte in einen
Alptraum geraten. Denn die Literatur über das Unbewusste ist kaum
mehr zu überschauen. Labyrinthisch hat sich die Theorie der
Psychoanalyse in verschiedene Richtungen und Schulen verzweigt, die
sich mehr oder weniger befehden.
SPRECHERIN:
Als würde das nicht
genügen, mischen sich noch andere Disziplinen ins Gespräch über das
Unbewusste ein: Die Philosophie pocht darauf, viel ältere Rechte am
Begriff des Unbewussten zu haben als die Psychotherapeuten. Die
Hirnforscher erklären, sie könnten den emotionalen Einfluss des
Unbewussten empirisch belegen. Außerdem werfen sie den Begriff
eines »kognitiven Unbewussten« in die Debatte.
Sozialwissenschaftler und Historiker schließlich sprechen von
Mythen und Traumata , von Manifestationen eines »kulturellen
Unbewussten«, die unterschwellig die Geschichte und das Denken
großer Massen beeinflussen.
SPRECHER:
Kein Wunder, dass
Psychoanalytiker wie Günter Gödde aus Berlin den alten Fundamenten
ihrer Disziplin nicht mehr so recht trauen.
O-TON 1: (Gödde 28.35)
Ich bin irgendwie
auch skeptischer geworden. Ich glaube, das gilt jetzt nicht nur für
mich, das gilt vielleicht auch für meine Generation, die wir auch
von einer solchen Vorstellung herkamen, also auch von Freud, als ob
man das Unbewusste – natürlich mit aller Vorsicht –prinzipiell
erkennen könnte. Als ob es da eine bestimmte Dynamik gibt, die man
erfassen kann. Gut, das ist nicht leicht, wer kann schon sagen, er
hätte es erfasst, das liegt in der Natur der Sache. Aber ich
glaube, schon die Vorstellung als solche, dass es das geben kann,
ist fragwürdig.
SPRECHER:
Diese Skepsis gegenüber dem
Glauben, das Unbewusste zumindest prinzipiell erfassen zu können,
steht aber nicht alleine. Sie verbindet sich mit der Einsicht, dass
die therapeutische Praxis sowieso keine Methode kennt, die allein
selig macht.
O-TON 2: (Gödde 31.03)
Wenn ich mir
jetzt so einen Arbeitstag im Rückblick vor Augen führe, die
verschiedenen Patienten mit denen ich gearbeitet habe, dann ist das
frappierende, dass die Sitzungen höchst unterschiedlich verlaufen.
Also es ist überhaupt nicht so, dass ich mit einem bestimmten
Konzept reingehe in die Sitzungen und es läuft dann gewissermaßen
abgewandelt, aber alles in einer bestimmten Richtung. Das hängt
sehr davon ab, was der Patient anbietet und auch, wie die
Kommunikation zwischen uns läuft, und die Sitzungen laufen ganz
ganz unterschiedlich.
SPRECHER:
Wo so viel Selbstzweifel und
so viel Vielfalt herrschen, tut eine Bestandsaufnahme not. Nach
diesem Motto konzipierte Günter Gödde gemeinsam mit dem Göttinger
Psychoanalytiker Michael B. Buchholz ein dreibändiges Buchprojekt
über das Unbewusste.
SPRECHERIN:
Es soll die verschiedenen
Schulen, Traditionen und wissenschaftlichen Zugänge zum Unbewussten
in großer Breite dokumentieren und so einen neuen Dialog über den
dunklen Grund der Psyche ermöglichen. Der erste Band des
ambitionierten Projekts heisst »Macht und Dynamik des Unbewussten«
und ist bereits im Giessener Psychozial-Verlag erschienen. Er
behandelt theoretische Konzepte des Unbewussten in Philosophie,
Medizin , und Psychoanalyse. Er fragt nach den körperlichen
Grundlagen und den geistigen Besonderheiten des Unbewussten und er
untersucht, inwieweit das Unbewusste mehr ist als nur das, was wir
aus dem bewussten Geist verdrängen.
ERZÄHLERIN:
Der Träumer war
aufgestanden, war kurz in der Wohnung herumgelaufen, holte dann
frische Luft auf dem Balkon. Beim Rückweg ins Schlafzimmer hatte er
dann kurz lächeln müssen, als er den Wust der Papiere und Bücher
auf seinem Schreibtisch sah.
ERZÄHLERIN:
Nun liegt er wieder im
Schlaf und der Traum hat ihn wieder in ein Gebirge geführt. Es ist
nicht dasselbe wie beim ersten Mal, aber wieder sind die Schluchten
anfangs so eng, dass ihn erneut ein Gefühl der Verzweiflung
überkommt. Er rennt ziellos dahin, kommt aber schnell auf einen
Weg, der sich allmählich verbreitet. Pflanzen tauchen auf, Bäume
mit exotischen Früchten sprießen aus dem Boden, bunt leuchtende
Tiere springen aus den Büschen. Dann steht er über der Ebene, in
der sich unübersehbar der See erstreckt, der aussieht, als kenne er
ihn seit uralten Zeiten. Er steigt hinunter, am Ufer liegt das Floß
aus weichem Holz. Er legt sich darauf, das Floß gleitet ruhig ins
Wasser, er spürt den gleichmäßigen Wellenschlag, legt den Kopf
nieder. Und schläft im Traum träumend ein, ganz bei sich
selbst.
SPRECHER:
Lange vor Sigmund Freud hat
sich die Philosophie mit dem Problem des Unbewussten beschäftigt,
auch wenn der Begriff nicht immer explizit auftauchte. Schon zu
Beginn der philosophischen Moderne, bei Rene Descartes und
Gottfried Wilhelm Leibniz, spielt das Unbewusste eine wesentliche,
jedoch gegensätzliche Rolle. Zwei Motive stehen hinter ihren
Theorien: die neuzeitliche Verzweiflung über eine unsichere Welt
und die Suche nach einem sicheren Grund des Geistes. Mit dieser
These versucht der Berliner Philosoph Johannes Oberthür im Band von
Günter Gödde und Michael B. Buchholz die Anfänge der modernen
philosophischen Beschäftigung mit dem Unbewussten auf den Punkt zu
bringen.
SPRECHERIN
Rene Descartes zweifelt im
17. Jahrhundert an allem und findet im Denken einen Halt. Nichts
ist sicher, alles lässt sich in Frage stellen, nur der Zweifel ,
die Tatsache des Denkens selbst ,kann nicht hinwegdiskutiert
werden. Für Johannes Oberthür jedoch beruht dieser Versuch, eine
sichere Insel in einem Meer der Unsicherheit zu finden, auf einer
Verdrängung.
O-TON 3 (Oberthür 26.05)
Das, was sich
diesem Bewusstsein des Menschen entzieht, zum Beispiel im Schlaf,
im Traum, in körperlichen Zuständen, das bleibt ausgeschlossen .
Descartes sagt: ich bin nichts anderes als Bewusstsein, ich bin
nichts anderes als Denken. Das, was den Zusammenhang meiner Glieder
ausmacht, was wir gemeinhin »Leib« nennen, das alles bin ich gar
nicht. Ich bin nur dieses Denken.
SPRECHER:
Descartes suchte Sicherheit,
indem er den Körper und die unbewussten Regungen des Geistes zur
Seite schob. Im Gegensatz dazu verankerte Gottfried Wilhelm Leibniz
das schwankende Bewusstsein des Menschen im Unbewussten, im Meer
der kleinen Perzeptionen, der unwillkürlichen Wahrnehmungen. Für
ihn galt:
O-TON 4 (Oberthür 31.53 )
Wir haben zwar
unaufhörlich auch ein Bewusstsein, aber die Perzeptionen, die an
uns kommen in Form von sinnlichen Wahrnehmungen, treten nicht
jederzeit ins Bewusstsein. Das heisst, es gibt hier eine
Riesenmenge, ein Meer von Wahrnehmungen, von Perzeptionen, die uns
sogar immer unbewusst bleiben, es gibt ein Meer von Perzeptionen,
von denen uns einiges ins Bewusstsein tritt, aber dieses, was uns
ins Bewusstsein tritt ist nur die Spitze eines Eisbergs.
Ver-mittels dieser unbewussten Perzeptionen sind wir an die Welt
gebunden, sind wir in der Welt verankert.
SPRECHERIN:
Schon zu Beginn der
eigentlich rationalistisch geprägten Moderne existiert also bei
Leibniz ein Konzept, das das Unbewusste zur Ursprungssphäre des
Bewusstseins erklärt, zu dessen konstitutiven Grund, auf dem es
sich erhebt und über das es mit der Welt um sich herum in Kontakt
tritt.
SPRECHER:
Damit ist Leibniz für Johannes
Oberthür noch vor Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche ein
Gewährsman dafür, dass die Philosophie einen umfassenderen Begriff
des Unbewussten besitzt als die Freudsche Psychoanalyse.
O-TON 5 (Oberthür 42.18)
Ich stehe ein
wenig kritisch zur Theorie Freuds, insofern weil ich hier
konstatiere eine Verkürzung des Phänomens des Unbewussten. Es wird
ja oft gesagt, dass mit der Herausbildung von Psychologie und
Psychoanalyse das Unbewusste allererst zu einer wissenschaftlich
greifbaren Instanz wird, aber wir müssen glaube ich konstatieren,
dass hier zugleich eine Verkürzung des Unbewussten geschieht in dem
Sinne, dass jetzt das Unbewusste nichts mehr ist, das genuin zum
Denken, zum menschlichen Bewusstsein selbst gehört als konstitutiv
für dieses Bewusstsein, sondern dass es so etwas wie eine dunkle
Seite des Bewusstseins ausmacht, die aber ans Licht zu bringen
ist.
SPRECHERIN:
Freud habe im Unbewussten
vor allem die verdrängten und verbotenen Wünsche und Triebe
angesiedelt, er habe es als dunkle ,pathologische Seite des
menschlichen Geistes gesehen, die rationalisiert werden soll.
SPRECHER:
»Wo Es war , soll Ich werden«
lautet Freuds berühmtes Diktum. Das Es, die Quelle unbewusster
Triebregungen verursacht Neurosen und andere psychische Störungen,
weil es sich nicht an die Normen der Realität hält. Das Es soll
daher in die Verfügungsgewalt des bewussten, realitätstüchtigen und
rational überlegenden Ich überführt werden. So deutet Johannes
Oberthür wie viele andere Interpreten diesen Satz. Und folgert:
Freud vernachlässige die alte philosophische Einsicht, dass das
Unbewusste das Bewusstsein überhaupt erst konstituiert.
SPRECHERIN:
Günter Gödde jedoch, der
Berliner Psychoanalytiker, sieht Freud hier missverstanden.
O-TON 6 ( Gödde 17.10)
Er ist zwar vom
Pathogenen ausgegangen, also von der Hysterie und von diesen
Neurosen, die aus einer Dynamik von Abwehr, Verdrängung und
ähnlichem erwachsen, das war zwar sein Ausgangspunkt. Aber als er
dann zum ersten Mal von einem Unbewussten gesprochen hat, in der
»Traumdeutung«, wird das Unbewusste ja zu einem System neben dem
System des Vorbewussten und Bewussten. Ein System, in dem so
manches kreist und das sicher auch pathogene Wirkungen entfaltet, /
aber das ist jetzt nicht nur auf die Kranken und die Neurotiker
bezogen, sondern es ist ein Konzept der allgemeinen Psychologie
oder ein anthropologisches Konzept, das für jedermann gilt. (21.08)
Freud sagt dann auch, es gibt sozusagen ein phylogenetisches
Unbewusstes, also ein vererbtes Unbewusstes, das also nicht nur
durch Entwicklung und Verdrängung entstanden ist, sondern es gibt
einen Kern des Unbewussten, der schon da ist.
SPRECHER:
Freud entwarf tatsächlich ein
durchaus differenziertes Bild des Unbewussten , das er zudem im
Lauf seines Lebens mehrfach veränderte. So fasste er seit 1923 zwar
das »Es« als eine unbewusste Stör- und Triebkraft auf, aber das
»Ich«, das den Geboten der Realität Aufmerksamkeit schenkt,
operiert seiner Auffassung nach nicht nur bewusst. Wenn das „Ich“
unangemessene Triebwünsche des Es abwehrt und verdrängt, tut es das
selber unbewusst.
SPRECHERIN:
Ein aggressiver Wunsch, sich
an jemandem auf fiese Weise zu rächen, wird oft schon unterdrückt
oder weggedrängt, ohne das man bewusst nachdenkt. Er verschwindet
sozusagen automatisch wieder im selben Augenblick, in dem er sich
Platz schaffen will.
SPRECHER:
Das Unbewusste umgreift also
die ganze Psyche, es ist nicht nur Folge, sondern auch die Ursache
von Verdrängung. Auch der Berliner Psychoanalytiker Wolfgang
Hegener glaubt nicht, dass man Freud auf einen reinen Theoretiker
der Verdrängung festlegen kann. Genausowenig sei es legitim, Freud
zu unterstellen, er wolle das Unbewusste völlig rationalisieren und
ins Ich auflösen.
O-TON 7 (HEGENER 11.17)
Das, was Freud
vorschwebte, war eigentlich eher eine unendliche Analyse oder eine
unendliche Arbeit am und mit dem Unbewussten. Auch das Ich, da gibt
es ja die schönen Bilder, die Freud benutzt hat, das ist wie ein
dummer August oder wie ein Reiter auf dem Pferd, aber das Pferd
bestimmt die Richtung und das Ich, das glaubt nur, das es
selbstmächtig sei. Wobei er schon der Meinung war, dass es darum
gehen soll, das Ich zu stärken, aber nicht in der Überwindung des
Es, sondern eher dass es toleranter gegenüber eigenen Es-Impulsen
wird, das würde ich eher so sehen, das ist kein Modell der
Beherrschung.
SPRECHER:
Gerade aber diese mehrdeutige Vielfalt in Freuds
Bestimmungen vom Unbewussten, vom Es und vom Ich trägt ja bis heute
zur Verwirrung bei. Ein Versuch, dieses Problem hinsichtlich des
Unbewussten zu lösen, liegt darin, es nicht als eine spezielle
Instanz oder einen psychischen Ort zu fassen, sondern als Prozeß,
als einen psychischen Vorgang.
SPRECHERIN:
Auch dafür hat Freud selbst
die Grundlagen gelegt. Etwa mit seinem Begriff der
»Entstellung«:
O-TON 8 ( Hegener 16.47):
Entstellung
würde einmal heissen »verzerren«, so wie wir das auch üblicherweise
gebrauchen, aber auch :»an eine andere Stelle rücken«. Und das ist
die beste Umschreibung , finde ich eigentlich , für die unbewussten
Vorgänge. Es ist ein ständiger Prozeß der Entstellung, also es wird
etwas an eine andere Stelle gesetzt oder an einen anderen
Schauplatz. Der Sinn erscheint immer an einer anderen Stelle
.(…17.41) Also wenn sie sich z.B. vorstellen, jemand träumt, er
würde hier in Berlin bei der U-Bahnstation »Prinzenstraße«
aussteigen und würde den Trauerzug eines Professors sehen, der
gestorben ist und bei dem dieser Patient Schüler war. Dann stellte
sich dann in der Analyse heraus, dass er sich eigentlich als ein
Prinz, als der Kronprinz dieses Professors vorgestellt hat, der
diesen Professor beerben will. Das erscheint dann in einem ganz
kleinen Element des Traums. Das nennt Freud die Entstellung ins
Kleinste.
SPRECHERIN:
Das Beispiel vom träumenden
Möchtegernkronprinzen zeigt aber auch, dass es immer schon Motive
für die Entstellung gibt. Eine Theorie des Unbewussten müsste also
auch erklären, wie die Motive, sprich die Inhalte des Unbewussten
zustande kommen.
SPRECHER:
Eine in letzter Zeit viel
diskutierte Theorie versucht, diese Inhalte des Unbewussten nicht
auf ein immer schon existentes oder vererbtes Unbewusstes
zurückzuführen. Vielmehr bezieht sie sich – fast wie bei Leibniz –
auf die kleinsten Wahrnehmungen, die zwischen dem Kind und den
Erwachsenen stattfinden: die allgemeine Verführungstheorie des
französischen Psychoanalytikers Jean Laplanche.
SPRECHERIN:
Zwischen dem kleinen Kind
und den Erwachsenen, so Laplanche, besteht eine grundlegende
Asymmetrie. Die Erwachsenen besitzen ein Unbewusstes, das kleine
Kind aber noch nicht. Deshalb werde das Kind immer wieder in einer
allgemeinen Weise vom Erwachsene »verführt«, nämlich von dessen
ungewollten, unbewussten Regungen. Zum Beispiel beim Säugen.
O-TON 9 (Hegener 48.50)
Wenn das Kind
die Mutterbrust bekommt und die Mutter das ja immer in einer
bestimmten Weise erlebt. Die Brust ist ja nicht nur das Organ, das
Milch gibt, sondern es ist für die Frau selbst ein sexuelles Organ,
das mit ganz bestimmten Erregungen und Phantasien vor allen Dingen
verbunden ist. Also darum geht es, wie in der Konfrontation des
Kindes mit dem Unbewussten der Erwachsenen eine Botschaft
mitgegeben wird und das Unbewusste, das bildet und speist sich aus
diesen Botschaften auch.
SPRECHERIN:
Das kleine Kind nimmt nicht
nur wahr, dass es Milch bekommt, sondern es verspürt dabei
Zärtlichkeit – vielleicht sogar in einer Weise, die es momentan
verwirrt. Oder es verspürt Hektik und abweisenden Druck, was ihm
unangenehm ist. Es versucht diese rätselhaften Einflüsse und
Botschaften irgendwie innerlich zu verstehen, reagiert mit
Emotionen und inneren Bildern darauf. So entsteht nach Jean
Laplanche das Unbewusste bei den Kindern aus einem untergründigen
»Dialog« mit subtilsten Wahrnehmungen des Erwachsenenverhaltens,
die nicht in klare Bedeutungen übersetzbar sind.
SPRECHER:
Das Unbewusste entsteht aus
Interaktionen zwischen dem Keinkind und seinen Bezugspersonen. Das
ist inzwischen ein weit verbreiterter Konsens unter
Psychoanalytikern und Psychotherapeuten, der vor allem auch von der
Entwicklungspsychologie bestätigt wird. Wobei darum gestritten
wird, ob das Unbewusste – wie in der Allgemeinen
Verführungsstheorie von Laplanche – hauptsächlich erotischen
Ursprungs ist. Es stellen sich jedoch noch viel grundsätzlichere
Fragen: wie schlägt sich dieses interaktiv entstehende rätselhafte
Unbewusste im Körper des Kindes nieder, wie wirkt es dort
langfristig weiter und wann wird es pathologisch? Inwieweit kann
das Bewusstsein rationalisierend darauf zurückwirken ? Und worin
besteht insgesamt der allgemeine Mechanismus des Unbewussten, der
Verdrängung verursachen kann und zugleich auf Verdrängtem beruht,
der entstellt und zugleich Entstelltes enthält?
ERZÄHLERIN:
Der Träumer hatte die Nacht
ruhig verbracht. Tief versunken war er auf dem Floß über den großen
See getrieben. Dann, als draußen allmählich die Morgendämmerung
einsetzte, war eine Änderung eingetreten.
ERZÄHLERIN:
Nun verkrampft sich sein
Körper. Denn das Wasser des Sees verwandelt sich. Es wird hart,
geht in eine unbekannte Form von Materie über. Sein Floß steckt
fest im zäh gewordenen Ozean. Er tastet sich an den Rand des Floßes
, blickt erstaunt ins kalt gewordene Herz des Meeres. Er sieht, es
ist gebaut aus vielen durchsichtigen Quadern der unbekannten
Materie, nach einem schwer verständlichen, aber fühlbaren Plan. Er
begreift: dieser Plan sorgt dafür, dass die Quader letztlich wie
ein Meer erscheinen, auf dem ein Träumender selig ruhig auf einem
imaginären Floß dahintreiben kann. Seine Hand entkrampft sich
wieder, er schläft weiter.
SPRECHER:
Die Hirnforschung
boomt und beansprucht, psychische Phänomene wie Bewusstsein, das
Ich oder Willensfreiheit erklären zu können. Auch das Unbewusste,
so einige ihre Vertreter, kann empirisch untersucht, vermessen und
seiner Rätselhaftigkeit entkleidet werden. Denn zunächst einmal
belege die Hirnforschung, dass es ein kognitives Unbewusstes gibt
.
SPRECHERIN:
Wenn wir ein Objekt
wahrnehmen, zum Beispiel einen Ball, dann ist diese Wahrnehmung das
Produkt blitzschnell ablaufender kognitiver Verarbeitungsprozesse
in unserem Gehirn. Einige Nervenzellen haben zunächst nur die
Farbe, andere die Konturen, wieder andere die Bewegung des Balles
codiert. Erst indem ihre verschiedenen Aktivitäten miteinander
verrechnet werden, entsteht der bewusste Seheindruck des Balles –
aber diese Verrechnung geschieht völlig automatisch und unbewusst.
Solche unbewussten Verrechnungsvorgänge, sagen die Hirnforscher,
liegen nicht nur unseren Wahrnehmungen zugrunde, sondern auch
anderen kognitiven Fähigkeiten: Erinnerungen, Sprachleistungen,
aber auch bestimmten Handlungen, die das Gehirn automatisch
steuert. Zum Beispiel wenn wir Auto oder Fahrrad fahren. Das Gehirn
arbeitet kognitiv hochgradig unbewusst, das bewusste Erkennen und
Handeln ist nur ein kleiner Spezialbereich seines Tuns.
SPRECHER:
Hirnforscher wie Gerhard Roth von der Universität Bremen meinen
aber auch, die emotionale Seite des Unbewussten neuronal erklären
zu können. Verantwortlich dafür sei ein weit verstreutes System in
der Mitte des Gehirns: das sogenannte Limbische System.
O-TON 10 ( ROTH 45.08):
Wir müssen davon
ausgehen, dass Gefühle nur der subjektive Ausdruck der Aktivität
des zentralen Bewertungssystems in unserem Gehirn sind, das wir
Limbisches System nennen und die wahrnehmungsmäßige oder kognitive
Gestaltung der Umwelt, auch Erfahrung der Umwelt, die geht nicht
ohne ständige Bewertung durch das Limbische System. D.h. alles, was
wir tun, wie wir wahrnehmen, wie wir diese Wahrnehmung verarbeiten,
wird immer von diesem Limbischen System bewertet und das Resultat
der Bewertung wird in unserem Gedächtnis niedergelegt. Und es ist
das Bewertungssystem, dessen Arbeit wir gefühlsmäßig erfahren, das
das Eingeben und das Auslesen hinsichtlich des Gedächtnisses
steuert.
SPRECHER:
Der Clou der Sache: das
Limbische System, das alle unsere Erfahrungen emotional bewertet
und sie ins Gedächtnis eingräbt, arbeitet völlig unbewusst. Und das
System entsteht bereits, während der Embryo im Mutterleib
heranwächst und es reift in entscheidenden Teilen bereits in den
ersten Monaten und Jahren nach der Geburt aus. Was der Embryo im
Mutterleib und später der Säugling und das Kleinkind in
Interaktionen mit seiner Umwelt erfahren, wird demnach primär von
diesem unbewusst arbeitenden Limbischen System verarbeitet und in
einem sogenannten impliziten Gedächtnis bewahrt.
SPRECHERIN:
Dieses ebenfalls unbewusst
arbeitende implizite Gedächtnis ist eine Art körperhaftes
Gedächtnis. Seine Inhalte sind nicht gezielt abrufbar, sondern sie
»melden« sich auf körperlich-emotionale Weise, wenn jemand in eine
Situation gerät, die den Gedächtnisinhalt aufruft oder ihm ähnelt:
Jemand, der sich zum Beispiel als Säugling an einer Milchflache
verbrannte, wird später vielleicht automatisch Hitzewallungen
bekommen, wenn er heisse Milch sieht.
SPRECHER:
Das durch das Limbische System
geprägte implizite Gedächtnis der körperhaft gemachten Erfahrungen
des kleinen Kindes bildet die unbewusste Grundlage der
Persönlichkeit, meint Gerhard Roth. Es scheint so, als hätte die
Hirnforschung mit dieser These ein empirisches Modell für das
geliefert, was Philosophen wie Gottfried Wilhelm Leibniz
Jahrhunderte vorher proklamiert haben: ein Beleg für das unbewusste
Fundament, auf dem alle bewussten psychischen Tätigkeiten des
Menschen aufbauen. Das frühe implizite Gedächtnis erwächst aus den
vielen unmerklichen Wahrnehmungen, die ein Mensch in seiner Umwelt
macht und es liegt seinem Geist zu Grunde.
SPRECHERIN:
Sigmund Freud selbst hatte,
um den Ursprung des Unbewussten zu erklären, etwas nebulös von
einem »Urverdrängten« gesprochen. Wolfgang Mertens, Professor für
Klinische Psychologie in München, sieht durchaus Beziehungen
zwischen dem impliziten Gedächtnis der Hirnforscher und dieser
Freudschen Idee der Urverdrängung.
O-TON 11 (Mertens 8.29)
Man könnte
sagen, das Freud bereits Vorgänge des impliziten Gedächtnisses mit
seiner Urverdrängung beschrieben hat, ohne dass er damals schon
wissen konnte, dass es sich hierbei um zwei verschiedene
Gedächtnissysteme oder Gedächtnis-Organisationen handelt. Also in
heutige Terminologie übersetzt sind das Vorgänge, die eben dem
Kleinkind noch nicht bewusst sind im Sinne eines
sprachlich-reflexiven Bewusstseins, sondern die einfach mit ihm
geschehen in Form von einfachen Konditionierungen, wo eben eine
bestimmte Handlung eines kleines Kindes gekoppelt wird mit einer
bestimmten Reaktion der Mutter./ Ein Wunsch nach Sicherheit und
Bindung wird z.B. gekoppelt mit einer abweisenden Reaktion der
Mutter und diese Koppelung geht als Erwartung in das kindliche
Wesen ein.
SPRECHERIN:
Das implizite Gedächtnis
enthält natürlich nicht nur negative oder aggressive Erfahrungen
aus der frühen Kindheit, sondern auch die emotional bewerteten
Spuren empfangener Liebe und Fürsorge. Bis etwa zum dritten
Lebensjahr dominiert das implizite Gedächtnis, dann erst reifen
auch die Hirnareale für das bewusste, sogenannte explizite
Gedächtnis aus. Anschließend existieren implizites und explizites
Gedächtnis nebeneinander.
SPRECHER:
Kaum ein Theoretiker des
Unbewussten wird heute noch sagen, dass unbewusste Konflikte
ausschließlich auf frühkindliche Entwicklungen zurückgehen. Aber
die aktuelle Hirnforschung bestätigt doch die alte
psychoanalytische These, dass die frühkindliche Phase den späteren
Lebensweg der Persönlichkeit entscheidend mitprägt. Das liegt
daran, dass die Inhalte des impliziten Gedächtnisses weiterwirken
und vom bewussten, expliziten Gedächtnissystem
nicht direkt abgerufen und bearbeitet werden können.
O-TON 12 (Mertens 31. 58)
Also es gibt
das Bild der Gedächtnis-Netzwerke, wo man dann eben sagen würde,
manches davon ist bewusst und dem deklarativen Gedächtnis
zugänglich, aber der größte Teil ist implizit und wird parallel
verarbeitet. Eine andere Möglichkeit, es auf den Begriff zu bringen
ist, dass man sagt: das Bewusstsein, von dem wir noch gar nicht so
genau wissen , was es eigentlich ist//, das Bewusstsein arbeitet
seriell und informationstheoretisch würde man sagen, es kann
vielleicht 20, 30, maximal 40 Informationsbits pro Sekunde
verarbeiten, während das Unbewusste parallel arbeitet und man
schätzt, dass es etwa 15, 20 Millionen bits Information pro Sekunde
parallel verarbeitet, also man sieht da die Größenverhältnisse, die
Freud nicht ahnen konnte, auch wenn er damals schon das Bewusstsein
als die Spitze des Eisbergs bezeichnet hat.
SPRECHERIN:
Wenn ein Säugling von seiner
Mutter z.B. immer wieder abgewiesen worden ist, wird dies als eine
unbewusste Erinnerungsspur in ihm nachwirken, die sehr viele
Wahrnehmungen zu einem komplexen Bündel zusammenpackt: das Gefühl
des Verlorenseins, der Körpereindruck der inneren Verkrampfung, die
wahrgenommenen abwesenden Blicke. Wenn der Betroffene in Folge
dessen später leidet, kontaktscheu und beziehungsunfähig ist, wird
er vielleicht irgendwann bei einem Psychoanalytiker landen. Der
wird dann versuchen, an den unbewussten Konflikt heranzukommen.
Aber es wird ihm nicht einfach gelingen, die Ursache des Konflikts
in das Bewusstsein zu bringen, das klar gegliederte Sätze von
seriell aufeinander folgenden Ursache-Folge-Beziehungen produziert.
Stattdessen geht der Analytiker zuallererst selber körperliche und
emotionale Interaktionen mit dem Patienten ein.
SPRECHER:
Was hier zwischen Patient und
Therapeuten geschieht und was die Psychoanalytiker »Übertragung«
und »Gegenübertragung« nennen, lässt sich ebenfalls mit Hilfe des
impliziten Gedächtnisses beschreiben. Was der Analytiker dabei in
sich selbst empfindet, versteht er als möglichen Hinweis auf den im
impliziten Gedächtnis des Patienten steckenden Konflikt.
O-TON 12 ( Mertens 36.56)
Und diese
Hinweise können sich zum Beispiel in unserem eigenen Körper als
körperliche Empfindungen abspielen, es könnte sich als ein
lähmendes Gefühl der Einfallslosigkeit in mir selbst manifestieren.
Es könnte sich als ein heftig auftretender Affekt, den ich sonst
gar nicht von mir kenne, manifestieren, aber auch als eine gelinde
Traurigkeit, obwohl der Patient gar nicht semantisch-inhaltlich
über traurige Begebenheiten spricht, und trotzdem würde ich
Traurigkeit erleben. Also an Hand des Spürens von körperlichen
Indikatoren, von Stimmungen, von Gefühlen, und seien sie auch noch
so schwach, könnte eine solche beginnende Symbolisierung oder
Erfassung des Unbewussten des Patienten oder seiner unbewussten
Konflikte und Traumatisierungen von Statten gehen. In vielen vielen
kleinen Schritten.
ERZÄHLERIN:
Der Träumer war wieder
ruhiger geworden. Die Dämmerung hatte mildes Licht in sein Zimmer
geworfen, sodass er in eine sanfte Stimmung glitt.
ERZÄHLERIN:
Jetzt liegt er da und
lächelt. Immer noch treibt er dahin und ist gleichzeitig wie
festgenagelt auf dem Ozean, dessen Wellen von wohlgeordneten
Quadern erzeugt werden. Nun aber hört er etwas, das ganz von unten
herauf dringt. Es ist ,als wolle etwas zu ihm singen, es kennt aber
die Melodie nicht genau. Er weiss, diese Melodie hat er schon
einmal gehört, sie trifft ihn im Innersten, macht ihn sehnsüchtig
und wirft gleichzeitig dunkle Schatten auf sein Gemüt. Doch auch
ihm fällt sie nicht mehr richtig ein. So liegen sie ganz nah
beieinander, das Meer und der Träumer. Die Melodie stoßweise immer
aufs Neue probierend das eine – in seine Erinnerungen versinkend
der andere.
SPRECHER:
Mit dem impliziten Gedächtnis
und den Beschreibungen der frühen körperhaften Interaktion zwischen
Kind und Bezugspersonen liegen aus der Hirnforschung und der
Entwicklungspsychologie zwei Modelle vor, die die beiden scheinbar
widersprüchlichen Aspekte des Unbewussten zu-sammenfügen können:
den Aspekt des Unbewussten, der aller Verdrängung zugrunde liegt,
der mithin das Fundament der Psyche bildet – und den Aspekt, dass
das Unbewusste verdrängte Inhalte enthält und weiterträgt.
SPRECHERIN:
Wonach aber sucht der
Psychoanalytiker eigentlich genau während der Therapie, wenn doch
das Unbewusste nur körperhaft spürbar ist und seine Inhalte nur
entstellend darbietet? Kann er überhaupt – gemeinsam mit dem
Patienten- eine reale Urszene des unbewussten Konflikts aus dem
impliziten Gedächtnis freilegen? Oder sind es nicht immer nur
subjektive Gedächtnis-konstruktionen, die der Patient mit seiner
Phantasie angereichert hat und in die Außenwelteinflüsse
eingehen?
SPRECHER:
Auch viele Psychoanalytiker
meinen inzwischen: wenn die Patienten von den Quellen ihrer
Konflikte sprechen, dann handele es sich eigentlich um subjektive
Konstruktionen, und nicht um objektive Wahrheiten. Wolfgang Mertens
jedoch versucht, das Problem differenziert anzugehen.
O-TON 13 (Mertens 38.31)
Ich löse das
immer dahingehend, dass ich sage, obwohl eben Erinnerungen einen
konstruktivischen Charakter haben muss es irgendwo auch einen Kern
geben, der in sich zwar nicht völlig mit sich identisch bleibt,
aber doch eine ähnliche Struktur aufweist. Und es gibt sicherlich
auch Erinnerungen, die einen solchen traumatischen Gehalt hatten,
dass sie eben doch tief in das implizite Gedächtnis auf dem Wege
der Urverdrängung dann eingeritzt worden sind – ich verwende jetzt
absichtlich mal diese Metapher – und die nicht ständig
umgeschrieben werden. Also von daher denke ich, lässt sich schon
auch bei bestimmten Patienten unterscheiden, ob diese Erinnerungen
jetzt aus anderen Quellen dem Patienten suggeriert worden sind,
oder ob er es tatsächlich erlebt hat.
SPRECHER:
Auch Marianne
Leuzinger-Bohleber, gebürtige Schweizerin und Direktorin des
Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, hat die Erfahrung
gemacht, dass Erinnerungen in der Analyse buchstäblich zutreffen
können. Und dass es manchmal den Patienten bereits hilft, diese
unbewusste Erinnerung als eine reale zu identifizieren
O-TON 14: (Leuzinger-Bohleber
1.18.09)
Es war ein sehr beeindruckendes Interview
mit einer Arbeiterin, die eine schwere Kriegstraumatisierung hatte
und die das so ausdrückte: ich habe immer gedacht, ich spinne, weil
ich jede Nacht so komische Alpträume habe, immer an die gleichen
Bilder denken muss, in gewisse Räume nicht rein kann, weil ich
gewisse Gerüche wahrnehme und dann völlig panisch reagiere. Und die
hat gesagt, ja wissen sie, das ist komisch. Durch die Behandlung –
diese Alpträume, diese Geruchshalluzinationen habe ich immer noch,
aber ich weiss, dass ich nicht spinne, sondern dass das Spuren sind
meiner ganz persönlichen Geschichte. Sie war zwei mal verschüttet
als Kleinkind, dieser Geruch hatte mit dem Geruch verbrannter
Leichen zu tun, das kam dann in der Behandlung raus. Und da war die
Rekonstruktion dieses frühen Traumas – sie war eineinhalb, als sie
das erlebte, natürlich nicht bewusstseinsfähig – aber die
Rekonstruktion im Sinne einer historischen Wahrheit war für ihr
authentisches Lebensgefühl unglaublich wichtig.
SPRECHER:
Ähnlich wie Wolfgang Mertens
hat auch Marianne Leuzinger-Bohleber
viel von der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung gelernt.
Wobei auch für sie vor allem der körperliche Aspekt des psychischen
Geschehens wichtig ist.
SPRECHERIN:
Unbewusste Konflikte existieren nach
ihrem Modell in Gestalt komplexer Erfahrungsmuster des ganzen
Organismus. Sie werden von dynamischen Nervennetzwerken
repräsentiert, die Wahrnehmungen, Reaktionsweisen, Gedanken und
Gefühle in bestimmter Weise färben und miteinander verknüpfen.
Diese Nervennetzwerke können sich verstärken, wenn das neuronale
Gedächtnismuster in Interaktionen wiederbelebt wird –sie können
sich aber auch ändern oder mildern- zum Beispiel in der
therapeutischen Situation.
SPRECHER:
Insofern kann Marianne
Leuzinger-Bohleber grundsätzlich der Auffassung von Gerhard Roth
zustimmen, dass die frühkindlichen, limbisch geprägten unbewussten
Erfahrungen das allgemeine Fundament der Persönlichkeit bilden.
Allerdings wendet sie sich gegen eine romantisch anmutende
Interpretation diese Unbewussten, die manchmal in der aktuellen
Debatte anklingt. Etwa, wenn von Hirnforschern gesagt wird, man
müsse das Unbewusste in seiner positiven Funktion sehen, der Mensch
solle daher stärker auf seine inneren Gefühle hören. Natürlich sei
das grundsätzlich richtig, meint Marianne Leuzinger-Bohleber, aber
man müsse eben auch die negative Seite des Unbewussten sehen.
O-TON 15 (Leuzinger-Bohleber 1.
12.05)
Also der Zustand, und da wären wir beim
positiven Unbewussten, wo das Kind in einer relaxten Situation ist,
z.B. nach dem Stillen und in einer Situation der Neugier, wie
Daniel Stern das auch nennt, wo das Fenster zur Welt offen ist, wo
es in einen ruhigen Lerndialog mit der Umwelt treten kann, das ist
der eine seelische Zustand. Und dann gibt es den Zustand der
Spitzenaffekte. Also wenn ein Kind Hunger hat , Schmerz, etwas ist
zu heiß. Der kindliche Organismus ist noch nicht in der Lage, diese
Überflutung mit Reizen, mit denen selber umzugehen, da ist er in
einem Zustand der Hilflosigkeit, der Ohnmacht, der Verzweiflung,
der Affektüberflutung, der sensomotorischen Überflutung und eben
sehr abhängig von dem hilfreichen, dem bedeutungsvollen
Anderen.
SPRECHERIN:
Von Anfang an sei das
Unbewusste ambivalent und konfliktträchtig. Die Achtung vor der
Macht des Unbewussten müsse daher auch die Achtung vor seiner
destruktiven Kraft einschließen. Man müsse es also auch kritisch
betrachten. Das sei vor allem in Zeiten wichtig, wo
gesellschaftliche Bedrohungen existieren, die der Einzelne aus
seinem Alltagsbewusstsein verdrängen muss, weil sie nicht völlig
beherrschbar sind. Zum Beispiel die aktuelle Gefahr terroristischer
Anschläge.
O-TON 16: (Leuzinger-Bohleber
1.15.39)
Das sind eigentlich alles Gefahren, die in
bei uns allen Todesangst mobilisieren müssten. Todesangst, das ist
eine Erfahrung, die man in diesen Affektzuständen, den
Spitzenaffekten hat, wenn man das Gefühl hat, ich komme nicht mehr
aus diesem Verzweiflungszustand oder eben auch aus einem
organischen Bedrohungszustand raus. Und das ist dann die Gefahr,
dass das die Erinnerung an solche Extremzustände mobilisiert,
unbewusst, und dann auch extreme Abwehrmechanismen notwendig macht,
um diese Todesangst einzudämmen. Und das beschäftigt uns im Moment
sehr. Auch die Reaktion auf diese Terrorismusgefahr kann z.T. eine
völlige, im Grunde genommen archaische Qualität kriegen, also
paranoide Ängste vor Fremden zum Beispiel, eine Überreaktion. Also
ich wollte ihnen nur mit diesem Beispiel sagen: es gibt wirklich
ein Kontinuum zwischen diesen Spitzen-affektzuständen, die wir alle
irgendwo als Erinnerung in uns tragen. Im Normalfall, im guten,
überwiegt die nicht, da haben wir das dauernd unter Kontrolle. Aber
wenn man später mit Todesangst konfrontiert wird oder eine
traumatische Erfahrung macht, dann kommt diese Erinnerung und
bestimmt das seelische Erleben in einer archaischen Weise, da gibts
keine Grautöne mehr, wenn man in Todesgefahr ist, gibt’s nur noch
Entweder-Oder.
SPRECHER.
Wie aber reagiert die
individuelle Psyche im Detail auf soziale Vorgänge, wie entstehen
psychologische Massenprozesse?
ERZÄHLERIN
Es war im Zimmer des Träumers
fasst schon hell geworden. Dennoch schlief er weiter.
ERZÄHLERIN:
Jetzt packt ihn eine
deutliche Unruhe. Erneut verwandelt sich seine Traumlandschaft. Der
See färbt sich dunkel, wird zum trüben Spiegel des Himmels, der
sich rasend schnell mit schwarzen Wolken überzieht. Dazu dieses
grauenhafte Geräusch, das von den Bergen um den See herum kommt und
immer lauter wird. Er schaut hinauf und sieht schreiende Menschen
auf den See zustürmen. Er selbst scheint es zu sein, der sie so in
Rage bringt. Er will zum Ufer zurück, aber als er vom Floß aus
hinüberblickt, sieht er, es ist schon umstellt. Der Träumer wacht
endgültig auf und sieht erleichtert, wie die Sonne hinter dem
Vorhang zu scheinen beginnt
SPRECHER:
Schon Sigmund Freud hatte
versucht, soziales Verhalten mit Hilfe unbewusster Mechanismen zu
erklären. Allerdings besteht heute weitgehend Einigkeit darüber,
dass seine Konzepte nicht mehr ausreichen. Freud hatte etwa von
einem phylogenetischen, also vererbten Unbewussten gesprochen., um
zu erklären, wie unbewusste Inhalte von Generation zu Generation
weitergetragen werden.
O-TON 17 (Jan Assmann 55.44)
An dieses
phylogenetische Gedächtnis, ich will nicht sagen, glauben wir
nicht, aber wir setzen da große Fragezeichen, wir würden sagen, es
ist das kulturelle Gedächtnis, das diese Dynamik erzeugt und nicht
das phylogenetische Gedächtnis, das gibt es nicht.
SPRECHER:
Der Heidelberger Ägyptologe
Jan Assmann arbeitet gemeinsam mit seiner Frau, der Konstanzer
Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann an einem
kulturwissenschaftlichen Verständnis unbewusster
Tradierungsprozesse. Sie lassen sich dabei zwar von Sigmund Freud
mit inspirieren, weichen aber in entscheidenden Punkten doch von
ihm ab. Vor längerer Zeit bereits haben Jan und Aleida Assmann den
Begriff des kulturellen Gedächtnisses in die wissenschaftliche
Diskussion eingebracht.
SPRECHERIN:
Er bezeichnet die Texte,
Bilder, Filme, Gebräuche und Riten, die in einer Gesellschaft von
Generation zu Generation weitergetragen werden und das Selbstbild
dieser Gesellschaft pflegen. Er steht also für das kollektiv
geteilte und gepflegte Wissen einer Gesellschaft um ihre
Vergangenheit.
SPRECHER:
Nun erweitern Aleida und Jan
Assmann ihr Konzept des kulturellen Gedächtnisses um das sogenannte
»kulturelle Unbewusste« :
O-TON 18 ( Jan Assmann 49.29)
Natürlich
ist das nicht in dem Sinne unbewusst, dass es niemand in seinem
Bewusstsein hätte, aber es ist in den kulturellen und kollektiven
Diskursen nicht präsent, und die Dynamik, die das steuert, was da
nun allgemeine Aufmerksamkeit findet und was da einfach nicht sich
Gehör verschaffen kann, wovon einfach nicht die Rede ist, diese
Dynamik, die hat viel mit Prozessen der Verdrängung zu tun
SPRECHER:
Das bedeutet, die Inhalte des
kulturellen Unbewussten werden zwar nicht direkt öffentlich
erinnert, aber sie wirken unterschwellig weiter. Sie stecken den
Menschen sozusagen in den Knochen, existieren als Mythen, Legenden,
kurzfristig aufscheinende Erinnerungen, die jedoch über lange Zeit
keine größere Resonanz erzeugen. Man könnte sagen, sie wirken wie
ein implizites Gedächtnis im Gesamtprozess der kollektiven
Erinnerung.
SPRECHERIN:
Ein gutes Beispiel dafür,
wie solche unterschwelligen Themen aufgenommen und verarbeitet
werden, ist der viel diskutierte Kinofilm »Der Untergang«, mit
Bruno Ganz in der Hauptrolle, der die letzten Tage Adolf Hitlers im
Führerbunker bis zu seinem Selbstmord zeigt.
SPRECHER:
Nach 1945 hatte die deutsche
Kriegsgeneration weitgehend ihre Schuld und ihre
psychologisch-ideologischen Bindungen an Hitler verdrängt. Sie
litten, wie es die Psychoanalytiker Alexander und Margarete
Mitscherlich 1967 auf den Punkt brachten, an einer „Unfähigkeit zu
trauern“. Das soll heißen: Die vom Nationalsozialismus Geprägten
hatten ihr Ich so mit dem Ich-Ideal Adolf Hitlers besetzt, dass an
Stelle dieses Ideals eine Leerstelle auftrat, als Hitler nicht mehr
da war. Es gab sozusagen keine psychische Instanz mehr, die über
den Verlust trauern konnte. Die Leerstelle wurde übertüncht und
ausgefüllt durch die erfolgreiche Arbeit am Wiederaufbau
Deutschlands , die alle Energie verschlang.
SPRECHERIN:
Aber natürlich existierten
die an Adolf Hitler gebundenen schuldhaften Verstrickungsgefühle
unterschwellig weiter. Für Aleida Assmann nimmt der Film »Der
Untergang« diese Situation symbolisch auf.
O-TON 19: (Aleida Assmann 2/10.48)
Also
ich finde schon mal die Figur des Bunkers selbst sehr sehr spannend
und man kann ja sagen, dieser Bunker, dass da etwas unter der Erde
ist und sich irgendwie auch in unheimlicher Weise unter der Erde
erhält, wovon wir eigentlich nichts wissen wollen, dass es von
daher auch seine Faszinationskraft erhält. Das ist mit dem Wort
„Bunker“ verbunden für mich und ich muss sagen, dass in den 60er
und 70er Jahren es eine lebhafte Folklore der Mutmassungen gab, was
wohl mit Hitler passiert sein könnte, wo er sich wohl herumtriebe.
Also er war wirklich der Zombie, von dem man mal erwartete, dass er
doch noch irgendwo sein Unwesen trieb, der war extrem lebendig in
der Phantasie, im Phantasma, und das hat mit dieser Bunkersituation
für mich auch etwas zu tun.
SPRECHER:
Die Beschäftigung mit diesem
Phantasma des unterschwellig weiterlebenden Hitlers wurde möglich,
weil mit den Aufzeichnungen von Hitlers Sekretärin Traudl Jung ein
Bericht vorliegt, der genau ins Herz des kollektiven
Verdrängungsprozesses trifft.
O-TON 20 (Aleida Assmann 2 / 12.54)
Weil
für mich die Pointe ihres Berichts darin bestand, zu zeigen,
wirklich am eigenen Leib noch mal zu zeigen, was es bedeutete, zu
erleben, dass Hitler plötzlich nicht mehr war und wie alle in sich
zusammenbrachen, wie sozusagen diese Entourage um Hitler herum
überhaupt kein Ich hatte, sie alle dieses Ich nach außen verlagert
hatten und in dem Moment, wo er nicht mehr da war, wie Marionetten
in sich zusammenfielen, denen man die Fäden abgeschnitten
hatte.
SPRECHER:
Gleichzeitig zeigt der Film
»Der Untergang« Hitler zum Ende hin als brutalen Führer, der selbst
die Identifikation mit dem deutschen Volk durchschneidet, indem er
dessen Zerstörung will, weil es den Krieg verlor.
O-TON 21 (Aleida Assmann
2/14.25)
Das Gerichthalten eigentlich über dieses
Volk, das jetzt bitte untergehen möge, das ist die Aussage, die
dieser Figur in diesem Film zugeschrieben wird und das ist
natürlich ein massives Angebot an das Volk, sich von dieser Figur
zu lösen. Das Band wurde nachträglich mit diesem Film noch einmal
wirklich gelöst und der Abschied dieses Liebesobjekts wurde da
nachträglich, nachwirkend vollzogen.
SPRECHER:
Am Anfang des 21. Jahrhundert
also wird in Deutschland ein Film zum Kassenerfolg, der die
verdrängten psychologischen Bindungen eines nicht unbeträchtlichen
Teils der älteren Generation an Adolf Hitler thematisiert und
symbolisch auflöst. Man könnte einwenden, das sei viel zu spät –
aber das gerade ist ja das Schicksal aller verdrängten, unbewussten
Inhalte. Allerdings werden die psychologischen Nachwirkungen der
Nazi-Zeit auf solchen Wegen auch für die kommenden Generationen
zumindest vorstellbar und bearbeitbar.
SPRECHERIN:
Wobei ein Film wie »Der
Untergang« natürlich nur ein Mosaikstein in diesem Prozeß ist und
selbst wieder Legenden erzeugt – zum Beispiel die des »guten
Deutschen« Albert Speer. Gerade dadurch zeigt er aber exemplarisch,
wie verdrängte, unbewusste Inhalte ständig aufs Neue an der
Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft
mitwirken.
SPRECHER:
Das oftmals als
unwissenschaftlich bezeichnete Konzept des Unbewussten ist also in
der aktuellen wissenschaftlichen Debatte durchaus lebendig. Es
spielt eine wichtige Rolle als individualpsychologische,
neurowissenschaftliche und auch als kulkurwissenschaftliche
Kategorie. Der Begriff meint mehr als nur Verdrängung, wenngleich
das Unbewusste auch nicht ohne Verdrängung denkbar ist. Es ist eine
unterschwellige Kraft , die noch vor dem Bewusstsein existiert und
parallel zum Bewussten immer an den psychischen und geistigen
Zu-ständen mitwirkt. Es ist also nicht zu unterschätzen, sollte
aber auch nicht zum Ideal romantisiert, sondern zugleich in seiner
destruktiven Seite betrachtet werden. Was die verschiedenen
Ansätze, das Unbewusste zu verstehen, verbindet, ist wohl die
Einsicht darin, dass das Unbewusste weniger als Instanz, sondern
als ein Vorgang zu verstehen ist, dessen Inhalte stark durch die
Interaktionen des Einzelnen mit anderen Objekten und Personen
geprägt werden. Die Frage, wie sich diese unbewusste
Geistestätigkeit im Detail in sozialen Beziehungen entwickelt und
sie gleichzeitig mitgestaltet, wird wohl auch in Zukunft noch für
manche Debatten sorgen.
O-TON 22 (Leuzinger-Bohleber 59.13)
Das
ganze Selbstkonzept, Identitätskonzept, vor allem in der modernen
Psychoanalyse, das ist nicht nur so, dass man quasi mit dem Feind
in sich zu tun hat, sondern im Dialog mit seinem ganz
unverwechselbaren Unbewussten, ganz einzigartigen Sehnsuchtstruktur
ist .Das ist die große Kunst, dass wir mit dem in einen
individuellen Dialog kommen und gleichzeitig ein Bewusstsein dafür
haben, dass ein Teil dieses Sehnsüchte immer Sehnsüchte blieben
werden und nie erfüllt werden. Also wenn ich an die Liebe denke,
die lebt von diesem Spannungsfeld nach wie vor.
ENDE