Rezension zu psychosozial 151: Doing Responsibility - Möglichkeiten familiärer Ordnungen (PDF-E-Book)
Fokus Beratung – Mai 2018
Rezension von Carolin Teltow
Wer, wann und was ist Familie? Die AutorInnen des Heftes reagieren
auf die zunehmende Diversität und Komplexität familiärer Strukturen
und auf den Bedarf nach einem »neuen und weiteren« Verständnis des
traditions- und ideologiereichen Begriffs der Familie.
Als Grundlage bietet diese Lektüre »nicht noch eine Definition von
Familie« an, ebenso wenig wird der traditionelle Familienbegriff
»einfach« erweitert, vielmehr wird eine neue Perspektive bzw. ein
neuer Zugang versucht: »Doing Responsibility« bzw. Verantwortung
als rahmendes Konzept für die unterschiedlichen familialen
Entwürfe.
Im Editorial begründen Anike Krämer und Katja Sabisch die
Verwendung des Begriffes der Verantwortungsordnung. Anschließend
geht Marion Baldus auf das Dilemma des Elternwerdens im Kontext
pränataler Diagnostik ein und skizziert mittels einer
Diskursanalyse, wie elterliche Verantwortung im Zuge
voranschreitender technischer Möglichkeiten (NIPD) neu akzentuiert
wird. Katharina Steinbeck erörtert nachfolgend, mit welchen
Entscheidungsfragen sich lesbische Paare, die die Verantwortung für
ein gemeinsames Kind übernehmen wollen, beschäftigen und zeigt auf,
welche Veränderungen noch nötig sind, um eine gleichberechtigte
Elternschaft zu ermöglichen. Karin Flaake stellt die
Herausforderungen und Potenziale für Eltern dar, die sich die
Verantwortung und Zuständigkeit für Haushalt und Kind gleichwertig
teilen. Dabei fokussiert sie auf die Weichenstellung nach der
Geburt, die gleichberechtigte Beziehungsgestaltung zum Neugeborenen
und die Exklusivität der Stillsituation.
»Frauen stehen vor der Herausforderung, ihr Gefühl herausgehobener
Bedeutung für ihr Kind zu relativieren, für Männer ist es wichtig,
ihr Erleben, aus der intensiven Mutter-Kind-Beziehung
ausgeschlossen zu sein, in eine aktive Beziehungsgestaltung
umzuwandeln« (S. 31).
Sie erörtert Traditionalisierungstendenzen von Geschlechterbildern
und Rollenkonstruktionen und gibt im gleichen Umfang Anregungen für
Gestaltung und Umgang mit diesen Problemfeldern.
Stefanie Aunkofer behandelt in ihrem Beitrag die Situation von
Familien mit einem Kind mit Behinderung und die damit
einhergehenden Zeitprobleme der Familie. Anhand eines Fallbeispiels
verdeutlicht sie den Zeitgewinn, der durch väterliche
Elternzeitnahme entsteht und wie das zur Schaffung familialer
Möglichkeitsräume beiträgt.
Miriam Mai und Christine Thon nehmen die Wahrnehmung, Verschiebung
und Aushandlung von Verantwortlichkeiten zwischen Familie und
Kindertagestätte in den Blick. Die Positionierungen von Eltern und
Fachkräften sowie der politische Diskurs werden in
unterschiedlichen Kontexten rekonstruiert und analysiert.
Janina Glaeser erörtert die ausgelagerte Form der Kindertagespflege
– professionelle Tageseltern. Die fortschreitende
»De-Familialisierung aktiver ErwerbsbürgerInnen« (S. 52) wird
diskutiert und professionelle Tagesmütter und Tagesväter als
Reaktion auf diese Veränderungsprozesse sowie als familiennahe
Alternative verstanden.
Die Untersuchungsergebnisse von Silke Reimiorz und Katja Nowacki,
begründen die stationäre Kinder-und Jugendhilfe als
familienähnliches Setting.
Der Beitrag von Tom David Uhlig beschäftigt sich mit der Arbeit an
der Familie im Kontext des sozialpsychiatrischen Alltags. Die
Ergebnisse seiner ethnographischen Studie zeigen auf, dass die
Psychiatrie ebenfalls ein (delegiertes) familiales Konstrukt ist,
mit dem »beschädigte Familialität« neu angebahnt werden kann.
Yv. E. Nay analysiert die politischen Debatten in der Schweiz, rund
um das Thema Kindeswohl und Regenbogenfamilien.
Bettina Rabelhofer beleuchtet, im letzten Beitrag zum
Schwerpunktthema, Familien im interkulturellen Kontext.
Die Idee, die Vielfalt familialer Entwürfe in
Verantwortungsstrukturen zu denken, fördert die weitere Öffnung des
Familienbegriffs und der Lebensformen sowie eine Neuorientierung
hinsichtlich traditioneller Familien-, Geschlechter- und
Rollenstrukturen. Die weite Fassung der Thematik, durch die
vielfältige Ausrichtung der Beiträge und Untersuchungen hat mir
besonders gut gefallen, wenngleich sich diese sicher durch viele
weitere Aspekte ergänzen ließe. Punktuell werden m.E. neue
Erkenntnisse und Perspektiven zu beratungsrelevanten Aspekten
eingebracht. Insgesamt fördern die Beiträge ein inklusives
Verständnis aller Familienformen und fordern sozialpolitische und
gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen, die die Teilhabe aller
Familienformen unterstützt. Diese Forderung ist nicht neu, aber
aufgrund der fundamentalen Bedeutung von Familien für das
»Zusammenhalten« unserer Gesellschaft m.E. nach wie vor
notwendig.