Rezension zu Lob der Scham
socialnet.de vom 3. Juli 2018
Rezension von Elisabeth Vanderheiden
Thema
Hell skizziert in seinem Buch eine
Kulturgeschichte der Scham, legt einen Abriss der
entwicklungspsychologischen Schamentwicklung vor und diskutiert
problematische und konstruktive Umgangsweisen mit diesem
schillernden und ambivalenten Phänomen. Konkrete Beispiele aus
seiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis und der
belletristischen Literatur illustrieren seine Ausführungen. Der
Untertitel seines Buches »Nur wer sich achtet, kann sich schämen«
legt nahe, dass es ihm wichtig ist, insbesondere auch die positiven
Implikationen, die mit der Scham verbunden sind,
herauszuarbeiten.
Autor
Daniel Hell ist Psychiater und war u.a.
Chefarzt der Kantonalen Psychiatrischen Klinik in Schaffhausen und
Professor für Klinische Psychiatrie an der Universität Zürich.
Aufbau und Inhalt
Hell fächert das Thema seines
Buches in neun Schwerpunkte auf:
1. Wie sich unser Umgang mit Scham historisch entwickelt hat – Eine
kurze Kulturgeschichte der Scham
2. Wie sich Scham beim Einzelnen entwickelt – Zur Biografie der
Scham
3. Scham und Beschämung – Der sich schämende und der gekränkte
Mensch
4. Die zwiespältige Struktur der Scham – Wer sich schämt, erkennt
sich als Anderer
5. Scham als Verarbeitungsprozess – Die Chance und das Risiko der
Scham
6. Soziale Scham und psychische Krankheit – Macht Scham krank?
7. Problematischer Umgang mit Scham – Von Schamabwehr, Deckaffekten
und Zynismus
8. Konstruktiver Umgang mit Scham – Von Akzeptanz, Humor,
Selbstironie und Psychotherapie Scham heute – Führt Schamverlust zu
einer Beschämungskultur?
Als zentralen Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung beschreibt
Hell die Alarm- und Schutzfunktion der Scham: »So wie Furcht eine
natürliche oder äußere Gefahr signalisiert, macht Scham auf eine
zwischenmenschliche oder innere Gefahr aufmerksam... Scham hat eine
außerordentliche Bedeutung für die menschliche Entwicklung und das
soziale Zusammenleben... So kann das Schamgefühl etwa der Anpassung
an soziale Normen dienen oder dazu verhelfen, störende
Verhaltensweisen einzudämmen. Es kann darüber hinaus bei einer
Person Lernvorgänge fördern, um unangenehme Scham und
Beschreibungen zukünftig zu vermeiden. Durch all dies trägt es zur
eigenen sozialen Entwicklung bei, wovon wiederum nicht zuletzt auch
andere Personen profitieren können« (7 f.).
Besonders bedeutsam ist für ihn der Zusammenhang zwischen
Selbstachtung und Scham: »Jemand, der keine Selbstachtung hat, kann
sich auch nicht schämen. Scham setzt Selbstbewusstsein voraus und
fördert Selbsterkenntnis. Sie bedingt die Fähigkeit, eigene Werte
zu haben. Erst der Bruch mit diesen Werten, die natürlich auch von
anderen übernommen sein können, löst das uns bewusste und oftmals
quälende Schamgefühl aus. Scham verweist also auf eine
Identitätskrise – erinnert aber zugleich an den Kern dieser
Identität und hilft, diese Krise besser durchzustehen. Sie lässt
einen Menschen, wenn sein Selbstverständnis zusammenbricht, sich
intensiv wahrnehmen und stellt damit ein emotionales Gegengewicht
zur kognitiven Entleerung des ›Selbst‹ dar. Zugleich forderte die
Scham die zwischenmenschliche Botschaft die Akzeptanz unserer mit
Mitmenschen« (9).
In seinem ersten Kapitel richtet Hell sein Augenmerk auf die
kulturgeschichtliche Entwicklung der Scham und streift dabei die
Antike, die biblische Genesisgeschichte, die jüdisch-christliche
Tradition und die Moderne, insbesondere die Erfahrungen im Kontext
und im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg. Wichtige Definitionen, die
in diesem Kapitel eingeführt werden, sind die Schamkonzepte von
Hell als »Türhüterin des Selbst« (19) und als »Hüterin der
menschlichen Würde« von Wurmser (19). Wichtige begriffliche
Abgrenzungen in Bezug auf Beschämung, Entschämung, Ehre, Schande,
Schuld und Schamlosigkeit etc. werden ebenfalls in diesem Kapitel
vorgenommen.
Kapitel 2 widmet sich den entwicklungspsychologischen Facetten des
Schamthemas und nimmt insbesondere in den Blick, wie sich Scham im
Kleinkindalter über die Vorstufen in Gestalt des Fremdelns und
Befangenfühlens entwickeln, wie sie sich im Vorschulalter
darstellt, im Schulalter, der Adoleszenz und im Erwachsenenalter.
Immer wieder arbeitet Hell dabei positive Implikationen der Scham
heraus. Hier einige Beispiele:
»Scham ist nicht nur ein Beziehungsregler, sondern das Schamerleben
verdichtet auch die Grenzen eines Menschen nach außen. Scham macht
insofern eigen und betont das Anderssein« (58).
»Scham hat eine
ähnliche Funktion wie die Trauer, aber unter anderen
Voraussetzungen. Beide stellen wichtige Verarbeitungsprozesse
dar:... Wer sich schämt, fühlt sich ausgegrenzt. Sein Verlust ist
psychischer Art und betrifft Beziehung und Selbstwert. Scham
empfindet, wer seine Identität, sein Selbstbild, gefährdet erlebt
oder wenn sich bloßgestellt fühlt. Wie Trauer die Auswirkung von
sozialen Verlusten zu begrenzen versucht, schützt Scham vor einem
Verlust des ›Selbst‹« (59).
»Meines Erachtens gibt es eine Scham, die gesellschaftliche oder
kulturelle Werte übersteigt. Bei den Griechen wurde diese Scham
›Aidos‹ genannt. Damit war nicht bloß eine gesellschaftliche
Wertehaltungen gemeint, sondern eine Art Würde, zu sich selbst zu
stehen ... (62) ... Es gibt eine Form von Unrecht, die in
verschiedenen westlichen Gesellschaften jeweils nur einen
entsprechenden, kulturell geprägten Ausdrucks findet, deren
Geltungskraft jedoch nicht gesellschaftlich begründet werden kann,
zum Beispiel: ›Du sollst gegen deinen Nächsten nichts Falsches
sagen‹ ... Wer sich solch eines Unrechts schämt, verletzt nicht
bloße Moral oder auch nicht nur sein Selbstbild. Diese Scham hat
eine zutiefst humane Dimension. Sie entspricht einer Ehrfurcht vor
etwas intrinsisch Gegebenem, das so unbestreitbar ist, wie der
Sachverhalt, dass zwei und zwei vier ergeben« (63).
Auch das dritte Kapitel widmet sich weiteren Begriffsschärfungen
und -abgrenzungen, z.B. zwischen Scham und Beschämung, Scham und
narzisstischer Kränkung. Dabei unterscheidet Hell Scham und
Beschämung insofern, als dass er Scham als Gefühle beschreibt und
Beschämung als eine Handlung (69). Er unterscheidet verschiedene
Beschämungsarten: z.B. Erniedrigungen, Beziehungsabbrüche,
Bloßstellungen und Übergriffe. Im Weiteren skizziert er ausführlich
die Folgen dieser Beschämungen.
Scham unterscheidet sich laut Hell grundsätzlich von Kränkungen:
»Gekränktsein stellt im Gegensatz zur Scham kein echtes Gefühl dar.
Denn wer gekränkt ist, fühlt sich selbst nicht intensiv: er findet
sich zwar verletzt, aber gleichzeitig oft schal und leer. Das
Ersatzgefühl von Wut und Ärger ist umso willkommener. Der Gekränkte
errötet auch nicht wie manche Menschen, die sich schämen... (78)...
Wer sich schämt, ringt mit sich selbst. Er schämt sich seines
eigenen Handelns oder einer der ihm zukommenden Eigenschaften... So
dreht sich Scham immer um sich selbst und den anderen. Scham ist
eine Brücke zwischen dem Eigenen und Fremden, ohne dabei das eine
mit dem anderen zu vermengen« (79).
Des Weiteren untersucht Hell Faktoren, die Scham verstärken können
und nimmt dabei Biografie, Genetik, Alter und Geschlecht in den
Blick. Weitere Abgrenzungen werden zu stellvertretender Scham, zum
Fremdschämen und zur Mitscham vorgenommen.
Das vierte Kapitel legt einen Schwerpunkt auf die Frage, wie Scham
strukturell zu charakterisieren ist. Besonderheit der Scham ist,
dass sie eine Person auf sich selbst aufmerksam macht (97) und
zwischenmenschlicher oder persönlicher Auslöser bedarf (99). Dabei
betont der Autor: »Nun ist Scham aber kein Gefühl, das direkt sagt,
was richtig ist. Es entfaltet seine Wirkung indirekt, indem es auf
eigene Mängel aufmerksam macht. Es leitet uns mittels negativer
Impulse, die auf Positives aufmerksam machen. Wir schämen uns, wenn
wir unsere Ideale verraten oder uns die gewünschte Anerkennung von
Mitmenschen, die beachten, fehlt. Aber kein Mitmensch, auch keine
Gruppe, nicht einmal Vater und Mutter, haben es in der Hand, dass
wir uns schämen. Sie können uns nur beschämen. Ob wir Scham
empfinden hängt letztlich von uns selbst ab. Scham ist deshalb nur
zu verstehen, wenn wir von uns selbst ausgehen und Scham nicht nur
auf bestimmte soziale Konstellation zurückführen. Gesellschaftliche
Verhältnisse und zwischenmenschliche Beziehungen machen zwar das
Auftreten von Scham wahrscheinlicher. Aber Scham ist kein Akt der
Wahrscheinlichkeit. Scham ist persönlich« (101).
Im weiteren Verlauf des Kapitels betrachtet der Autor Scham u.a.
als Differenzerfahrung und nimmt aktuelle philosophische
Diskussionsstränge auf.
Im fünften Kapitel gerät Scham als Verarbeitungsprozess in den
Fokus und es wird untersucht, was und inwieweit Scham zur
Verarbeitung belastender Situationen beiträgt: »Scham ist nicht nur
eine Reaktionsweise, sondern auch ein Verarbeitungsprozess. Sie hat
nicht nur Ursachen, sondern auch Wirkungen, die wir uns im besten
Fall zunutze machen können« (119). Besondere Aspekte, die in diesem
Kapitel untersucht werden, sind Scham als seelischer
Geburtsschmerz, Scham als seelischer Prozess in Analogie zur
Trauerarbeit, die besonderen Schwierigkeiten der sozialen Scham
sowie deren besonderen Risiken und die damit verbundenen
Probleme.
Das sechste Kapitel fragt nach dem Zusammenhang zwischen Scham und
psychischen Erkrankungen. Hell weißt darauf hin, dass »soziale
Scham besonders häufig durch psychische Erkrankungen ausgelöst
wird. Infolgedessen haben viele psychisch Kranke nicht nur unter
ihrer Erkrankung zu leiden, sondern noch darunter, dass sie eine
zweitrangige Erkrankung haben. Sie empfinden soziale Scham« (137).
Dabei gilt es zu beachten, dass »Scham, Selbstunsicherheit und
Erkrankungsrisiko vielschichtig miteinander verknüpft sind. Das
eine folgt nicht linear aus dem anderen. Stattdessen bestehen viele
wechselseitige Bezüge« (139). Exemplarisch stellt Hell vor allem
die Bezüge zwischen Depressionen und Scham, Sucht und Scham,
Phobien und Scham sowie Depersonalisation und Scham dar.
Kapitel 7 widmet sich einem problematischen und verdrängenden
Umgang mit der Scham. Problematische Umgangsweisen mit Scham können
das Nicht-Zulassen sein, das Übergehen, das Nicht-Eingestehen bis
hin zu einer seltenen völligen Schamabwehr. Uneingestandene oder
nicht zugelassene Scham kann sich dabei in Wut oder Ekel, in Neid
oder Schuld u.v.m. äußern oder durch Medikamente, Drogen,
unverhältnismäßigen Internetkonsum o.Ä. »abgewehrt« werden, u.U.
bevor sie überhaupt bewusst erlebt wird.
Kapitel 8 wirft die Frage danach auf, was einen konstruktiven
akzeptierenden Umgang mit der Scham auszeichnet und wie dieser
bewusst gestaltet werden kann. Dabei arbeitet Hell zunächst heraus:
»Scham macht meine Verletzlichkeit schmerzlich spürbar: Sie zeigt
meine Begrenztheit auf. Es gehört zum Wesen der Scham, dass ich
mich nicht immer über mich selbst erheben kann und dass ich mir
meine soziale Ungebundenheit eingestehen muss. Aber ich werde, wenn
ich mich schäme, weder von anderen gefangen noch isoliert. Ich
mache zwar körpersprachlich kund, dass ich sie brauche, zeige aber
gleichzeitig, dass ich anders bin als sie und mich von ihnen
abgrenze« (169). Wichtig ist, so betont er, sich der eigenen Scham
zu stellen und sie zu akzeptieren; das ist leichter, wenn eine
Person Ur-Vertrauenserfahrung hat, sich an einem sicheren Ort
befindet etc. Wichtige »Instrumente« im Umgang mit Scham können
Humor und Selbstironie, aber auch Spiritualität sein. Ein weiterer
– ausführlicher – Schwerpunkt des Kapitels sind Ausführungen zum
Umgang mit der Scham in der Psychotherapie.
Im letzten Kapitel fragt Hell danach, ob wir uns aktuell auf dem
Weg von einer Gesellschaft voller Schamverlust zu einer
Beschämungskultur befinden, insbesondere geht es ihm um
soziokulturelle Faktoren, die dazu beitragen, dass sich Scham
aktuell »mehr und anders verbirgt, als dies früher der Fall war«
(185): »Scham wird zwar als Makel abgewertet, verschwindet aber
nicht einfach, sondern äußert sich zum Beispiel im Fremdschämen
oder versteckt sich in politischer Korrektheit. Die Scham geht
heute mehr in die Breite als in die Tiefe. Sie äußert sich eher in
Peinlichkeiten als im tiefem Erschrecken über sich selbst. Der
heutige Traditionsverlust löscht aber Scham nicht aus, sondern
bindet Schamgefühle und ihre Abwehr vermehrt an aktuelle Trends«
(185 f.). So führt die Pluralisierung von Einstellungen und
Reaktionsweisen dazu, dass bestimmte Schamformen eher zu-, andere
eher abnehmen. Als besonders bedeutsame Trends in diesem
Zusammenhang identifiziert der Autor: die forcierte
Individualisierung,
den religiösen Traditionsverlust und die
Säkularisation
des Erziehungswandels bzw. veränderte
Sozialisation,
die fortschreitende Technisierung und
Medizinalisierung des Lebens, die Digitalisierung und den
Kommunikationswandel,
die Liberalisierung und Globalisierung der
Wirtschaft.
All dies hat z.B. Auswirkungen auf die Körperscham und die sexuelle
Scham, aber auch auf die soziale Scham. Sehr spannend ist Hells
Ansatz vom Aufkommen neuer Schamformen, die sich aus dem –
körperlichen und mentalen – Optimierungsdruck ergibt, den viele
Menschen heute empfinden. Damit ist – nahezu zwangsläufig – auch
die Gefahr des beschämenden Scheiterns verbunden. Wobei Hell das
Scheitern »heute nicht mehr als Schicksal oder Folge einer Gruppen-
oder Klassenzugehörigkeit« betrachtet (198), sondern meint:
»Vielmehr bedeutet Scheitern heute der soziokulturellen Erwartung,
erfolgreich seinen Weg zu gehen, nicht zu entsprechen. Dadurch
bekommt Scheitern eine besonders große Fallhöhe« (199).
Weiteres Augenmerk widmet Hell den Folgen modernen
Beschämungstendenzen, z.B. durch Evaluationen, durch bestimmte
Controllingmaßnahmen, durch public shaming oder einen allgemeinen
Hemmungsverlust und Scham durch fortschreitende Verdinglichung und
Virtualisierung. Kritisch setzt sich Hell auch mit der
Funktionalisierung von Scham auseinander, wie sie z.B. in den USA
durch sog. Reintegrationsmaßnahmen im Strafvollzug im Sinne des
»reintegrative shaming« nach Braithwaite erprobt werden oder mit
Beschämung als Sozialisierungstaktik zur Prävention und Bekämpfung
institutioneller Missbräuche, wie sie beispielsweise bei grobem
unternehmerischen Fehlverhalten die amerikanische Autorin Jennifer
Jacquet vorschlägt. Auch geht es kritisch auf das aktuell
vieldiskutierte Großprojekt der chinesischen Regierung ein, die von
allen BürgerInnen Profile dahingehend erstellen will, inwiefern sie
sich an die vorgegebenen sozialen Normen halten oder nicht
(221).
Diskussion und Fazit
Auch wenn es immer noch
deutlich mehr Veröffentlichungen im englischen, vor allem
amerikanischen Sprachraum gibt, die Scham vor allem positiv
konnotieren, nehmen auch im deutschsprachigen Raum diejenigen
Veröffentlichungen zu, die auch das in der Scham verborgene
Potenzial erkennen. Dennoch ist Daniel Hell hier ein ganz
besonderes, inspirierendes Werk gelungen. Was sein Buch besonders
macht, ist seine spezifische und konsequent menschenfreundliche
Perspektive, aber auch sein kritischer Blick auf soziale Phänomene,
seine Kenntnis der klassischen, aber auch der aktuellen
Schamliteratur und auch die durchgängige – und dennoch nicht
unkritische – Betrachtung der Scham als Ressource sowie die
Verbindung zu seiner Praxis als Therapeut und Psychiater. Sein Buch
ist ein Plädoyer für eine andere Sicht auf die Scham. Das ist
wichtig, denn: »Scham kann Menschen davor bewahren, die
Menschlichkeit zu abzuschaffen« (217) und »wenn Scham abgewertet
und von modernen Menschen vermehrt abgewehrt wird, gehen nicht bloß
soziale Hemmungen verloren: es wird auch ein Gefühlssensor
ausgeschaltet, der auf eine Gefährdung des ›Selbst‹ aufmerksam
macht. Ohne Scham ist es einfacher, andere zu beschämen« (223).
Sehr lesenswert!
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