Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe (PDF-E-Book)
FoRuM Supervision Nr. 51
Rezension von Hans-Peter Griewatz
Die Biografie, das Werk und das Schaffen von Raoul Schindler sind
bemerkenswert. Raoul Schindler ist einer der bedeutendsten
österreichischen Psychiater und psychoanalytischen
Psychotherapeuten, und er gilt als wichtigster Wegbereiter der
österreichischen Psychiatriereform. Schindler entwickelte in den
1950er Jahren die so genannte »Bifokale Familientherapie«, mit der
er das psychoanalytische Einzelsetting überwinden wollte. Mit ihr
gelang ihm ein wichtiger Schritt, der heute als selbstverständlich
gilt: nämlich, dass Familien ein Gleichgewicht herstellen, eine von
allen geteilte Rollenverteilung, »dessen Struktur aber nicht auf
ein Individuum beziehbar ist, sondern das eine Gesamtlösung
innerhalb der affektiv aneinander gebundenen Sozietät darstellt« –
so Schindler 1955. Raoul Schindler interessierte das Verhältnis von
Gruppentherapie, Gruppentheorien und Gruppendynamik. Aus seiner
klinischen Arbeit heraus entdeckte er »die Lehre von der
›Rangordnungsdynamik‹« (Schindler 2016: 2013ff.), die er immer
wieder in den verschiedensten (institutionellen) Feldern zum
Verstehen der Dynamik in Gruppen verwendete.
Nun legt der Psychosozial-Verlag ein Buch vor, in dem die
wichtigsten Aufsätze und Arbeiten von Raoul Schindler in einem Band
vorgelegt werden. Damit dokumentieren sie ein Werk, das über sechs
Jahrzehnte in den verschiedensten Fachzeitschriften verstreut
publiziert wurde. Die HerausgeberInnen verzichten bewusst auf eine
kritische Kommentierung. Sie möchten die Originaltexte wieder einer
breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen und verbinden damit die
Hoffnung einer kritischen Auseinandersetzung mit Schindlers
Theorien und Modellen. Dies geschieht auch auf dem Hintergrund
gegenwärtig zu beobachtender gesellschaftlicher
Ausgrenzungsdynamiken, die teilweise mit hoher Aggressivität ihren
Ausdruck finden (Wilhelm Heitmeyer sprach auf einem Vortrag der
Theoriereihe zur ›Reflexiven Supervision‹ im April 2013 in diesem
Zusammenhang von »roher Bürgerlichkeit«). Bis zum Schluss seines
Lebens hat Schindler an seinem Modell gearbeitet und sich mit der
so genannten »Omega-Position« beschäftigt (vgl. Schindler 2016:
341ff.; »Mit dem Omega sind wir ja auch heutzutage noch nicht gut
beisammen!«). Omega ist einerseits der Außenseiter und
»Prügelknabe« einer Gruppe, weil er das ›Andere‹ der Gruppe
repräsentiert. Gleichzeitig ist Omega wichtig für den Erhalt der
Gruppe. Er ist nicht nur der Außenseiter, der mit dem Gegner und
dem Gegenüber identifiziert wird, sondern er beschreibt das Problem
der Gruppe, indem er das nicht Wahrgenommene, das Unbewusste und
das Tabuisierte ins allgemeine Bewusstsein der Gruppe hebt. Damit
dienen sowohl Alpha als auch Omega der Angstbindung in einer
Gruppe: Alpha wird idealisiert, indem sich die Gruppe der Gamma mit
ihm unbewusst identifizieren, während Omega alle Affekte der Gruppe
provoziert und letztlich den Kampf verliert bzw. notwendig
verlieren muss, will die Gruppe weiter bestehen. Das erinnert u.a.
an Parins Arbeit »Das Ich und die Anpassungsmechanismen«, in der
die Angst vor dem Ausgestoßenwerden beschrieben wird. Angesichts
der geflüchteten Menschen in Deutschland wäre es nach Schindler
jedoch eine Illusion zu glauben, dass wir »durch das Abschaffen des
Feindes […] das Leben erreichen« (Schindler 2016: 343) können. Erst
wenn wir mit dem Anderen einen gemeinsamen Weg finden, »wird das
Leben lebenswert« (ebd.). Darin liegt auch seine politische
Bedeutung.
Das vorliegende Buch bietet einen vertieften Einblick in Raoul
Schindlers Schaffen, an dessen Konzipierung er bis zu seinem Tod
2014 mitgearbeitet und an dessen Fertigstellung, die er jedoch
nicht mehr erlebte, er regen Anteil nahm. Dies ist auch deshalb
erstaunlich, da die Arbeiten von Schindler indirekt auch einen
Einblick in die Psychiatrie der Nachkriegsjahre geben, von denen er
sagt, dass ihn »der Zustand der Psychiatrie in Österreich sehr
deprimiert [hat]. Die Wiener Psychiatrie hatte sich völlig
abgesperrt. Psychisch Kranke hat man einfach aus dem normalen
sozialen Leben heraus- und in die Station hereingenommen und hier
behandelt, vor allem mit Schocks – das war wirksam, mit der
Insulin-Therapie, die eigentlich die Wiener Schule berühmt gemacht
hat. Aber da gab es überhaupt keine kurativen Möglichkeiten für
scheinbar nicht behandelbare Krankheiten. Im Krieg waren ja
psychisch Kranke nur als Last angesehen worden, und nach dem Krieg
war das ganze Feld der Psychiatrie unter den Verdacht des
Euthanasiedenkens gestellt« (Schindler 2016: 335f.).
In diesen Aufsätzen spiegeln sich auch deutlich normative Bilder
einer patriarchalen Gesellschaft wieder, die sich z.B. in einem
Beitrag manifestieren, der beschreibt, wie eine Patientin mit einem
depressiven Stupor im Hörsaal des Universitätsklinikums in Wien vor
der versammelten Ärzteschaft dem Gruppendynamiker J.L. Moreno
vorgeführt wird, der von Schindler eingeladen worden war, um sein
Konzept des Psychodramas vorzustellen. Ein anderer Aufsatz
beschäftigt sich mit den Kriegsheimkehrern. In ihm erhält man einen
Einblick in diese scheinbar längst vergangene Problematik der
Nachkriegszeit und insbesondere darüber, wie diese Problematik aus
einer psychoanalytischen Perspektive der 1950er Jahre interpretiert
wurde.
Des Weiteren gibt das Buch Auskunft darüber, wie Raoul Schindler
den psychosozialen Dienst der Stadt Wien gegründet (damals: Referat
für Psychohygiene) und die Gesellschaft »Pro mente Infirmis«
(heute: »Pro mente Wien«) ins Leben gerufen hat, eine noch
bestehende Laienhilfsorganisation, die sich um die Nachbetreuung
von Menschen mit psychischen Erkrankungen nach Klinikaufenthalten
kümmert. Diese verschiedenen Stränge der Biografie Schindlers
sollten jedoch einer historischen Einordnung vorbehalten sein.
Für die Supervision und Beratungswissenschaft ist sein Konzept der
»Psychodynamischen Rangordnung« in Gruppen insofern von besonderer
Bedeutung, als es eine weitere Möglichkeit – neben anderen
Gruppentheorien – des gruppenhermeneutischen Verstehens eröffnet.
Das Verstehen von Gruppen in ihren Rangdynamiken gestaltet sich in
jeder Gruppe anders und sollte immer wieder auch in ihren
institutionellen Feldern reflektiert werden. Dabei unterscheidet er
die Rangpositionen von der (soziologischen) Rolle. »Die
rangdynamischen Positionen Alpha, Beta, Gamma und Omega finden eine
inhaltliche Auskleidung in spezifischen Rollen« (Schindler 2016:
50). Das Phänomen ›Gruppe‹ wird von ihm psychologisch verstanden
»wenn mehr als zwei Menschen sich gegenüber einem Ziel zu einem
Aktionswillen zusammenschließen« (ebd.: 113). Diese Dynamik wird
auch in institutionalisierten Gruppen aktiviert.
Für Raoul Schindler waren Theorien keine abgeschlossenen Gebilde,
sondern prinzipiell offene Modelle, die immer wieder erweitert und
ergänzt werden sollten. Bei der Lektüre des Buches ergaben sich für
mich immer wieder Gelegenheiten, die eigenen Supervisionsprozesse
unter dem Blickwinkel der gruppen- und rangdynamischen Positionen
zu reflektieren. Und es entwickelte sich darüber hinaus die Idee,
noch einmal vertiefter über die Gruppensupervision nachzudenken,
die in den letzten Jahren mehr und mehr in den Hintergrund gerückt
ist. Die Gruppensupervision könnte ganz andere Möglichkeiten der
Konfliktbearbeitung in bestimmten gesellschaftlichen und
institutionellen Feldern (als es die Einzel- oder Teamsupervision
vermögen) bieten, und sie wäre daher aus meiner Perspektive
besonders geeignet, Professionsentwicklungen, z.B. in Bezug auf
Inklusion in der Schule oder Gestaltung des Fallmanagements im
Jobcenter, zu befördern. Hierfür lohnt ein Blick in Schindlers
Verständnis von Gruppe und seiner Dynamik.
Abschließend bleibt nur noch zu sagen, dass den HerausgeberInnen
mit diesem Buch etwas Außerordentliches gelungen ist, das in jede
Literaturliste und in jede beraterische und supervisorische
Bibliothek gehört. Ein Glossar zur Theorie der Rangdynamik und ein
umfassendes Werkverzeichnis runden das Ganze ab.
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