Rezension zu Zeitlose Erfahrung

Gestalttherapie 1-2018

Rezension von Georg Pernter

Nihil novi sub sole. Das Buch wurde in Gestalttherapie (2/2016, 141–143) bereits bei der Veröffentlichung der englischsprachigen Ausgabe rezensiert. Deshalb: Kein Wiederkäuen von bereits Geschriebenem, sondern die Lesererfahrung eines Gestalttherapeuten, der Laura Perls – wie viele Kolleginnen auch – nicht mehr kennen gelernt, wohl aber von ihren Schriften und den eigenen Ausbilderinnen her schätzen gelernt hat.

Schön, dass dieses Buch nun auch in der Muttersprache von Laura Perls erhältlich ist. Damit tritt die Mitbegründerin der Gestalttherapie, die ungebührlich (und auch selbstverschuldet) eher im Hintergrund der Männer-Troika stand, in die vordere Reihe, ich sehe sie nicht als Schriftstellerin, sondern als schreibende Mutter der Gestalttherapie (86), die ein feines Gespür für Sprache hatte und mit ihr virtuos umzugehen vermochte, gegen unkritische »Finzi-Contini«-Mentalität die »Zeichen der Zeit« lesen wollte (49) und sich schreibend mit Alltag und Arbeit auseinandersetzte, in geistigem Dialog mit Autoren, die ihr wichtig wurden und so »zeitlose ... Erfahrung eines ganzen Lebens« (86) zu verschriftlichen suchte.

Der Inhalt ist schnell erzählt: Eine Einführung der Herausgeberin mit ausführlichem Literaturverzeichnis, die einzelnen Notizbücher, insgesamt deren sechs, Bildmaterial querbeet aus dem Familienalbum und zum Schluss das große Interview zu wesentlichen Lebensstationen von Daniel Rosenblatt aus dem Jahre 1972, dazwischen ein kurzer Text, der dem Buch den Titel gab, und ein Brief von 1985 über den Expressionisten Hanns Katz, in Südafrika wichtiger Gesprächspartner. Ein Personenregister rundet das Buch ab.

Amendt-Lyon liefert auf 72 Seiten eine kenntnisreiche Einleitung und skizziert den Geist der Gestalttherapie Laura Perls/'scher Provenienz. Diese Hinführung, beginnend mit der Geschichte, wie es zur Herausgeberschaft kam, weiter zu persönlichen Erinnerungen an Laura Perls, macht den weiteren Wert dieses Bandes aus. Die Herausgeberin beschreibt die »Schatztruhe« (25) Buch für Buch. Es sind Gedichte, Briefe, Übertragungen von lyrischen Texten, Lektüre-Notizen, Tagebucheintragungen sowie Kurzgeschichten, Entwürfe für Vorträge oder Projekte. Insgesamt ein lesenswertes Intro über Leben, Werk und therapeutischen Stil der Mitbegründerin.

Laura Perls bewahrte die Flamme der Gestalttherapie (78). Sie schrieb besonders dann, wenn es ihr nicht gut ging (156). Die Notizbücher sieht die Herausgeberin als ein weiteres Erbe (79), die Laura Perls lebenslang verwahrte. Sie beginnen anno 1946 im südafrikanischen Exil und enden um 1972. Das Buch unterteilt sich in zwölf Kapitel, wobei das letzte das andernorts erschienene Interview mit Rosenblatt darstellt, das leider nur auf Englisch abgedruckt werden durfte. Dies ist schon mein (fast) einziger Kritikpunkt. Aus der Perspektive eines unbedarften Gestalttherapeuten, nur zum Teil nachvollziehbar. Dürfen wir uns als Gestalt-community eine solche Schrebergartenmentalität leisten? Meines Erachtens nimmt das der schönen Ausgabe »Meine Wildnis ...« (L. Perls 2005) überhaupt nicht den eigenständigen Charakter. Auch ein amerikanischer Verlag verweigerte Copyrights, die im Buch »Leben an der Grenze« (L. Perls 1989) zu finden sind, das somit immer noch gute Referenzquelle bleibt. So ist »Zeitlose Erfahrung« zwar keine umfassende Gesamtausgabe geworden, doch ein erhellendes Hintergrundbuch aus erster Hand und Ergänzung zu bereits erschienenen Publikationen.

Amendl-Lyon beschreibt in ihren persönlichen Erinnerungen Laura als maßgebliche Denkerin und außergewöhnliche Frau, im Alltag menschlich-praktisch, als Therapeutin bescheiden, einfach. Sie zeichnete sich durch »edle Zurückhaltung« (18) aus und pflegte die Kunst der »kleinen, leicht verdaulichen Schritte« (ebd.), gepaart mit verlässlichem, geduldigem Engagement, ergo einen unscheinbaren Stil. Es ist wie ein Monitum der Herausgeberin, nochmals die Essenz von Laura Perls verdeutlichend, dadurch bewahrend. Für Bewanderte eine prägnante Auffrischung, ergänzt mit Einblicken einer Dabeigewesenen, für Anfänger eine kompakte Übersicht mit Einblenden: ihr Lampenfieber (der Hinweis auf die vermutete Quellszene von Töchter Renate wäre nicht notwendig gewesen), die Geldsorgen im Zusammenhang mit einem ausgefallenen Workshop ... Infos, die Außenstehende normalerweise nicht erfahren. Diesen Teil habe ich gern gelesen: Es geht um Dialog, den Unterschied zwischen Brauchen und Wollen, um Körperarbeit, Awareness, um die eigene Einzigartigkeit und Sterblichkeit, in eins mit Stil, lebenswert Leben zu gestalten (20), Laura Perls/' Belesenheit, Bildung und Kultursinn sollte uns allen Ansporn sein (23). Ihre Texte verdeutlichen stets auch ein Ringen ums Schreiben und um adäquate Sprache (142; 188 f.; 46), verbergen ihre jüdischen, humanistischen Wurzeln nicht. »Widerstand, Religion, Solidarität und Gemeinschaft« sind Themen, die Laura Perls berührten (38).

Die Zitatensammlung ihrer Lektüre von Autoren wie Fromm, Rilke, Camus..., die sie zum Teil kurz kommentiert, zeigen ihre Quellen auf, was sie interessierte, und verdeutlichen therapeutische Gedanken in nuce. Ein Beispiel: Den Gedanken der Sterblichkeit entlehnt sie sich von Rilkes »Aufzeichnungen« (120), dessen Protagonist ein Verfechter des eigenen Todes ist. Später findet sich unter »H-Moll-Messe« eine Anmerkung mit dem tröstlichen Gedanken im Tod zur Musik zu werden, wo andere dann lauschen könnten (134). Von ihren Gedichte erwähne ich die »Jakobsleiter«, die, einem Klagepsalm ähnlich, Lauras Hiobserfahrung thematisiert und ihrer ermordeten Schwester gewidmet ist. Auf diese Kontextualität wird zwar nicht hingewiesen, ein Kundiger des Ersten Testaments assoziiert sofort die übliche Lesart, die durch den Titel mitschwingt, macht der biblische Protagonist mit diesem Bild auf seiner Flucht in Verbannung und Einsamkeit schließlich eine tröstende (Traum-)Erfahrung.

Laura Perls gilt mit ihrem Commitment, der dialogischen Orientierung, ihrer wachen Präsenz, der verkörperten Bewusstheit, mit der gemeinsamen Erkundung, ihrem Konzept der Kontaktgrenze als Garant und Quelle für die »klinische Tradition« der Gestalttherapie. Kern von Psychotherapie ist für sie der Dialog und wie wir uns Klienten nähern, nämlich existenziell und mitmenschlich. Sie hat »ein Auge« für Menschen (58). Man lernt Patienten »wirklich kennen, wenn man von den Bedürfnissen und Wünschen erfährt, nicht nur von seinen Fähigkeiten« (19). Weitere Themen waren Geben und Nehmen, Sexualität, Support. Auch wenn es ihr stets um Körperbewusstheit ging, (die Bewegung zu fühlen; 157; 162), findet sich die Mahnung, Non-Verbales nicht überzubetonen. Schön auch die ausgewählte Fallvignette zur Mustererkennung (134 ff.). In ihrer Trauerrede für Goodman, den sie übrigens »auf einer wahrhaft immensen Skala einen Gestalttherapeuten« (219) nennt, geht die Rede vom »wahren Mitgefühl, das die Grundlage für jede erfolgreiche Therapie ist« (221), und dass es darum gehe, den Klienten »ganz zu machen«.

»Zeitlose Erfahrung« gibt auch Einblicke in eine private Laura. So finden sich zwei Briefe an ihren »Lieblings-Fritz« (149). Sie offenbaren, acht Jahre nach ihrer Übersiedlung in die Vereinigten Staaten, eine Frau in Einsamkeit und fragender Trauer um ein fehlendes »Wir«, gekennzeichnet vom Schlaganfall. Interessant fand ich einen Brief an Frau Wechsler (179 f.; 34 f.), in dem sie wesentliche Stationen und Einflüsse (bis 1955) beschreibt. Selbstbewusst porträtiert sie sich in einem Verweis auf ihre väterliche Identifikation mit den Worten: Kompetenz, Adäquatheit und Sinnlichkeit (163). In Südafrika arbeitet die quasi Alleinerzieherin 13 Stunden am Tag! Die von ihr ins Englische übertragenen Gedichte von Hölderlin, Heine, Mörike, Liliencron verdeutlichen wohl, wie wichtig ihr diese waren, und lesen sich auf dem Hintergrund ihrer Emigration als Ausdruck ihrer Stimmungen (»Wo nehm/' ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen«; 95; »Alte, unnennbare Tage«, 97; »Und Alles rollt vorbei - ... Und Glauben und Lieb und Treu« 105).

Im hinteren Drittel folgt ein umfangreicher Bildteil: Schnappschüsse aus dem Alltag, Zeitungsartikel, die Ablichtung ihrer Dissertation über visuelle Wahrnehmung, ein Genogramm ... interessant, nur leider schlecht lesbar. Diesen Abschnitt empfinde ich als etwas lieblos aneinandergereiht, für graphisch geschulte Augen – pardon – ein Verdruss. Gestalt ist für mich (auch) Ästhetik, hat mit Stil und Form zu tun. Gerade Lauras Eleganz, Grazie und Gründlichkeit hätte hier – für die Layoutabteilung – Pate stehen können.
Ohne Zweifel, Amendt-Lyon hat Geduldarbeit geleistet. Im eben genannten Bildteil gewährt sie uns Einblicke in die Notizbücher. Daran erkennt man, dass diese alles andere als eine »Bella« sind, nämlich in »Schönschrift« Verfasstes, sondern »brutta copia« pur, Schmierschrift, randvoll mit Kritzeleien, Querverweisen: ein kreatives Durcheinander – nichts für schnelle Geister, aber viel Kleinklein (Abb. 57–61; S. 264–268).

Insgesamt ist es ein lohnenswertes Buch. Im Verbund mit dem, was bereits erschienen ist, ergibt es ein facettenreiches Bild von Laura Perls. Es erleuchtet den Hintergrund der »Urheberin und Mitentwicklerin« der Gestalttherapie, wie sie sich dann – endlich – 1976 selbst bezeichnen konnte, bringt dem Leser Quellen näher, aus denen sie sich speiste, und zeigt das Werden gestalttherapeutischer Konzepte sowie ideengeschichtliche Kontexte und vermittelt en passant einige Grundlagen der Gestalttherapie aus der Perspektive einer Autorin, die bisher als solche (zu) selten in Erscheinung getreten war. Dahinter, daneben und oft mittendrin surrt unaufhörlich die Zeitgeschichte, zwangen gesellschaftliche Entwicklungen zum Umlernen und Verlassen von vertrauten Arbeits-, Lebens- und Sprach-Welten. Laura ist eine ›Lebend-in-See-Stechende‹ »zum Licht ... ihres eigenen (einsamen?) Todes« (108). Ein Buch, nicht nur für die Gestaltbibliothek.

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