Rezension zu Kinder brauchen Männer
socialnet.de vom 14. Juni 2018
Rezension von Hans Jörg Walter
Thema
Der Bedarf an Männern in der frühen Erziehung und Bildung ist ein
aktuelles Thema in der Sozialwissenschaft und erfährt auch eine
hohe sozial- und familienpolitische Aufmerksamkeit.
Entstehungshintergrund
Der Entstehungszusammenhang dieser Sammlung von Beiträgen ist ein
umfassendes Forschungsprogramm zum Thema Männer in der
Elementarpädagogik, das seit 2008 an der Universität Innsbruck
durchgeführt wurde.
Aufbau
Nach zwei einleitenden Beiträgen von J.C. Aigner (»Public Fathers«)
und T. Rohrmann (»Männer in der Elementarpädagogik«) beziehen sich
im zweiten Abschnitt (»Berichte aus der Forschung«) die Beiträge
auf die Ergebnisse aus dem genannten Forschungsprojekt zur
Situation männlicher Kindergartenpädagogen. Im dritten Teil
(»Praktische Fragen«) sind verschiedene Beiträge versammelt, die
die Wirkung von Männern und Vätern in Familien und
Bildungsinstitutionen beleuchten. Mit »Public Fathers« bezeichnet
J. C. Aigner in seinem einleitenden Aufsatz die symbolische Rolle
von Männern in der öffentlichen Erziehung. Diese zu diskutieren
erscheint angesichts der Tatsache des geringen Anteils von Männern
in der Elementar- und Grundschulpädagogik dringlich. Aber auch die
Erörterung der systematischen Bedeutung männlich-väterlicher
Präsenz in der Sozialisation von Kindern verstärkt die
Aufmerksamkeit für diese Diskussion: Welche erzieherischen
Auswirkungen haben Männer auf Kinder? Wie tritt positive
Väterlichkeit in der öffentlichen Erziehung auf? Welchen
Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die Triangulierung?
Im zweiten Beitrag gibt T. Rohrmann einen internationalen Überblick
zu »Männern in der Elementarpädagogik«. Ein systematischer
Vergleich wird durch die unterschiedlichen Ausbildungssysteme und
auch durch die Verschiedenheiten in den bildungspolitischen
Initiativen erschwert. Auch wenn nationale und regionale
Unterschiede bemerkenswert sind, ist der Anteil von Männern in der
Elementarpädagogik trotz aller Initiativen noch relativ gering. Die
Notwendigkeit weiterer Forschung zu Männern in der
Elementarpädagogik und die Bedeutung bildungspolitischer
Initiativen werden betont.
Im zweiten Teil des Buches werden zunächst in zwei Beiträgen (T.
Rohrmann u.a. bzw. G. Poscheschnik u. J.C. Aigner) die Ergebnisse
des bisher umfassendsten österreichischen Forschungsprojekts zur
Situation männlicher Kindergartenpädagogen präsentiert. Die Daten
belegen einerseits ein erstaunlich großes Interesse an diesem Beruf
und eine breite Zustimmung dazu, anderseits decken sie auch die
Hindernisse auf, die einem Anstieg männlicher Beteiligung an der
professionellen Elementarpädagogik noch im Weg stehen. Die geringe
Bezahlung, entwertende Bemerkungen, die sich bis zu einem
Generalverdacht steigern können, nicht im Lot oder vielleicht
pädophil zu sein, spielen dabei eine Rolle. Auch spielt der Umstand
eine Rolle, dass die Ausbildung in Österreich für viele Männer zu
früh beginnt. Anderseits bietet der Beruf eine hohe berufliche
Zufriedenheit. Aus den Ergebnissen der Untersuchung können
Strategien zur Erhöhung des Männeranteils abgleitet werden, wie
beispielsweise Erhöhung des Ansehens des Berufsfeldes in der
Öffentlichkeit, Anhebung der Ausbildung auf Hochschulebene, bessere
Berufsinformationen, Reflexion von Ausbildung und Praxis aus
Genderperspektive etc.
Der zweite Beitrag hat die tiefenhermeneutische Auswertung von
zwölf Interviews mit männlichen Kindergartenpädagogen zur
Grundlage. Aufgewachsen in schwierigen, ambivalenten Verhältnissen,
mit einer engen Bindung an die Mutter, die sich teilweise aber auch
enttäuschend erweist, ein ferner Vater, der seinem Sohn keine
alternative Beziehung zur Bindung an die Mutter bieten kann, dieses
Muster erweist sich als wiederkehrendes. Anzutreffen sind aber auch
kompensatorische Beziehungen jenseits der Eltern. Im Beruf bemühen
sich die Männer, die eigenen negativen Erfahrungen
wiedergutzumachen. Im symbolischen Raum des Kindergartens lassen
sich Mutterdominanz und Vatermangel re-inszenieren und bearbeiten.
Der ungewöhnliche Beruf des Kindergartenpädagogen bietet eine
besondere narzisstische Befriedigung und gewährt eine befriedigende
Gegenseitigkeit. Zwei Abwehrformen prekärer Männlichkeit konnten
ausfindig gemacht werden: eine forcierte Männlichkeit
(»Protomaskulinität«) und eine betonte Weiblichkeit
(»Semifeminität«).
Anschließend berichtet Brandes zum Forschungsstand über Männer als
Väter und pädagogische Fachkräfte. Wir seien gut beraten, wenn wir
einer eindeutigen geschlechtlichen Zuschreibung von erzieherischen
Fähigkeiten und Funktionen mit Zurückhaltung begegnen. Erfassbar
seien die geschlechtsspezifische Neigung zu Materialien und Themen
sowie spezifische Effekte in der Interaktion mit Buben und
Mädchen.
In einem gewissen Spannungsverhältnis zu Brandes/' Studie steht die
»Innsbrucker Wirkungsstudie«, in der mittels multimethodaler
Forschungsmethodik, basierend auf einer Videostudie, versucht
wurde, Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Fachkräften
im Kindergartenalltag festzustellen. Zu beobachten war, dass es die
Kinder selbst sind, die einen Unterschied zwischen männlichen und
weiblichen Fachkräften machen, dass Buben ein deutlicheres
Bedürfnis nach Austausch mit einem männlichen Kindergartenpädagogen
zeigen als Mädchen. Gemischtgeschlechtliche Fachkräfteteams
scheinen besonders für Buben eine anregende und aktivierende
Wirkung zu haben. Die Annahme, dass männliche Fachkräfte das von
»weiblichen Interaktionsmustern« dominierte Kindergartenfeld
bereichern könnten, wird durch die Untersuchung gestützt.
B. Koch berichtet in seinem Beitrag »Mehr Männer in den
Kindergarten – ein steiniger Weg« von den Schwierigkeiten, von den
Hindernissen, die einer Erhöhung des Anteils von Männern in der
professionellen Erziehung, im Wege stehen. Er beschreibt die
Erscheinungsformen der institutionellen Abwehr gegen eine
Veränderung der tradierten Verhältnisse.
Im letzten Teil des Buches zu »Praktischen Fragen« befasst sich
zunächst F. Dammasch in seinem Beitrag mit der Frage: »Warum
brauchen auch Mädchen einen männlichen Dritten?« Anhand zweier
Fallbeispiele erläutert er die Bedeutung des Vaters für Lösung von
der Mutter und die Autonomieentwicklung des Mädchens. Die
Anerkennung des Mädchens durch den Vater spielt dabei eine wichtige
Rolle – wie auch die des Dritten durch die Mutter. »Öffentliche
Väter« in pädagogischen Institutionen können in der ödipalen
Entwicklung förderlich wirken.
In seinem Beitrag »Bedürftige Väter?« zeigt L. Böhnisch, wie sehr
sich für Väter das Spannungsverhältnis zwischen beruflicher
Belastung und Familienorientiertheit verschärft hat. Insbesondere
auf der Grundlage einer eigenen neueren qualitativen Männerstudie
in Südtirol kann Böhnisch zeigen, wie der Wunsch nach sorgendem
Vater-sein und zugleich dessen Verwehrung durch die
Arbeitsbeanspruchung als verdecktes Thema in der männlichen
Lebensbewältigung wirken.
H.G. Metzger konstatiert Veränderungen der Vaterschaft als Wirkung
gesellschaftlicher Prozesse und kritisiert besonders die Wirkung
der Gendertheorie auf die Auffassung von Vaterschaft. Die neuen
Herausforderungen in der Gestaltung der Vaterschaft können durch
den defensiven Rückzug oder die phallisch-narzisstische Einstellung
abgewehrt werden. Die Erfahrung einer engagierten Vaterschaft ist
jedoch für die Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung.
Anerkennung der Verantwortung, Vertrautheit in der Beziehung,
libidinöse Verführung und zugleich ihre Begrenzung, Zulassen
eigener Affekte in der Begegnung, männliche Aktivität gepaart mit
Passivität und Rezeptivität – diese und weitere Merkmale könnten in
ein Leitbild integriert werden.
Im abschließenden Kapitel interpretiert Th. Naumann kindliche
Entwicklung und Pädagogik vor dem Hintergrund der heterosexuellen
Matrix. Diese Handlungs- und Interpretationsfolie gilt es kritisch
zu hinterfragen, um sie nicht unreflektiert auf pädagogische
Beziehungen zu übertragen und die bestehende Ordnung zu festigen.
Die zunehmende Vielfalt an Familienformen erfordert eine
differenzierte Betrachtungsweise.
Diskussion
Das gleichnamige Themenheft der Zeitschrift ›psychosozial‹ wurde so
außerordentlich gut vom Fachpublikum aufgenommen, dass dem Verlag
eine erweiterte und neue Fassung der Texte ratsam erschien. Diese
Fassung liegt nun in diesem Buch vor. LeserInnen, die an Berichten
und Erörterungen zu der im Titel des Buches genannten Aussage
interessiert sind, kann die Lektüre nur empfohlen werden.
Fazit
Eines der umfassendsten Forschungsprogramme zum Thema Männer in der
Elementarpädagogik, das seit 2008 an der Universität Innsbruck
durchgeführt wurde, ist die Grundlage der zentralen Beiträge dieses
Buches. Aus ihnen sowie aus den sie begleitenden Beiträgen ergibt
sich ein differenziertes Bild zur Bedeutung von Vätern und Männern
in der Familie und in der Elementarpädagogik.
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